Krise als Katalysator

Seelsorge in Corona-Zeiten zwischen Lähmung und Adrenalinschub
Pfarrer Johannes Ruschke von der evangelischen Kirchengemeinde Dortmund-Asseln zog am Ostersonntag durch die Gemeinde und verteilte mit Sicherheitsabstand Blumen.
Foto: dpa/Edith Geuppert
Pfarrer Johannes Ruschke von der evangelischen Kirchengemeinde Dortmund-Asseln zog am Ostersonntag durch die Gemeinde und verteilte mit Sicherheitsabstand Blumen.

Die Lupe Corona zeigt die massiven Nachteile einer kirchlichen Seelsorge, die rein auf eine Komm-Struktur setzt, meint Angela Rinn, Professorin für Seelsorge am theologischen Seminar in Herborn. Sie beschreibt die Herausforderungen, vor denen die Seelsorge derzeit steht, und welche ihrer Formen sich bewährt haben.

Die Corona-Pandemie hat wie ein Katalysator gewirkt: Die Krise hat Prozesse entweder extrem beschleunigt oder ausgebremst – auch in den Arbeitsgebieten der Kirche. Digitale Formate schossen wie Pilze aus dem Boden, zeitgleich verstärkte sich die Lähmung vieler Pfarrerinnen und Pfarrer, denen eben noch sichere Arbeitsformen und (Kirchen-)Räume wegbrachen und die ratlos, verunsichert und handlungsunfähig waren. Viele hatten (manchmal zum ersten Mal in ihrem Leben!) schlicht Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit.

Corona schafft offensichtlich eine Situation, die drei menschliche Kernbedürfnisse betrifft und bedroht: Beziehung, Sicherheit und Autonomie. Und das ist ein Thema für die Seelsorge. In der großen Bandbreite von lähmender Frus-tration und manchmal hektischer, oft phantasievoller Aktivität finden sich mehr Extreme als Mittelwerte. Die Erfahrungen pendeln zwischen überfordernder Auslastung und Erstarrung. Neben den Menschen, die Seelsorge in Anspruch nehmen, kommen dabei auch die Seelsorgenden in den Blick. Ganze Bereiche ehrenamtlicher Seelsorge in den Krankenhäusern und Besuchsdienstkreisen sind weggefallen, da viele Ehrenamtliche selbst zu Risikogruppen zählen. Seelsorge wird – ungewollt – wieder pfarrzentrierter. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer sind stärker belastet und zugleich tief frustriert und gekränkt, weil ihnen und ihrer Kirche fehlende Systemrelevanz bescheinigt wurde.

Anne Vandenhoeck, Praktische Theologin aus Leuven und Direktorin von ERICH, dem European Research Institute for Chaplaincy in Healthcare, hat mit ihrem Team eine internationale Umfrage mit 1 657 Seelsorgerinnen und Seelsorgern zu Seelsorge und Covid-19 abgeschlossen. Wichtige Ergebnisse: Für die Seelsorgenden war vieles neu in der Covid-Epidemie: Krankenhausseelsorgerinnen mussten Patientinnen zu Hause anrufen; es galt, sich an Seelsorge per Video zu gewöhnen und eine Gebetsplattform zu hosten. Eine große Herausforderung war es auch, online eine Beerdigung durchzuführen. In Gegenden, in denen es eine Häufung von Corona-Patienten gab, stellten die Vielzahl der Patientinnen und die lange Liegedauer eine besondere Belastung dar.

Auch die Teilnehmenden dieser Studie fanden es herausfordernd, als nicht-systemrelevant angesehen zu werden, wenn sie gerne und engagiert im Team eines Krankenhauses mitarbeiten wollten und ihnen dies verwehrt wurde. Umgekehrt gab es Seelsorgende, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene bei der Entwicklung von Leitlinien eingebunden und in ihrer einzigartigen Rolle anerkannt und bestätigt wurden.

Ist Kirche so belanglos geworden, dass sie ohne Probleme aus dem System Krankenhaus gestrichen werden kann? Oder entstehen durch die vielfältigen Aktivitäten, die phantasievoll entwickelt werden, neue Wege zu den Menschen?

Die Pandemie wirkt im Blick auf Seelsorge wie ein Brennglas. Die Corona-Lupe vergrößert die Sicht sowohl auf die Probleme als auch die Chancen verschiedener Konzeptionen von Seelsorge und zwingt zur Klarheit. Die Corona-Pandemie ist daher eine Nagelprobe der seelsorglichen Theorie und Praxis.

Ins Leere gelaufen

Die Lupe Corona zeigt die massiven Nachteile einer Seelsorge, die rein auf eine Komm-Struktur setzt. Ich möchte behaupten: Dieses Konzept hat – in jedem Fall in Corona-Zeiten – ausgedient. Wer als Pfarrer oder Pfarrerin zuhause auf Anrufe der Gemeinde wartet, muss enttäuscht werden. Die Konzeption einer therapeutischen Seelsorge, deren Ideal allein das Gespräch mit tiefgehender Hebung und Bearbeitung eines Problems des „Klienten“ oder gar „Pastoranden“ ist, war schon vor Corona in die Krise geraten. Zwar sind noch die meisten kirchlichen Ausbildungen in Seelsorge von diesem Paradigma geprägt, in der Praxis führt dies jedoch zu einer Frustration der Pfarrpersonen, die solche idealen Gespräche nur sehr selten im Jahr führen – von der eigentlich notwendigen Supervision solcher Gespräche ganz zu schweigen. Faktisch erleben Pfarrerinnen und Pfarrer schon lange, dass ihre Seelsorgeausbildung ins Leere läuft, wenn sie Seelsorge nicht auch in kleinen Alltagsbegegnungen entdecken und wertschätzen können. Bedauerlicherweise wurde vom problem- und therapiefokussierten Paradigma konzeptionell die nachgehende Gemeindeseelsorge an den Rand gedrängt, die die kleinen Gespräche achtet und sich bereithält, Freude und Leid mit den Menschen zu teilen. Gerade diese Konzeption von nachgehender Seelsorge in der Geh-Struktur erlebt nun in Corona-Zeiten eine große Resonanz. Das gilt für die Gemeindeseelsorge genauso wie für die Schul- und Krankenhausseelsorge.

Gegen alles Klagen über fehlende Systemrelevanz will ich festhalten: In Corona-Zeiten erlebt Seelsorge eine neue Wertschätzung und Blüte. Die Telefonseelsorge hatte überdurchschnittlich viel zu tun. Gleiches gilt auch für die Seelsorge in der Kirchengemeinde – jedenfalls, wenn sie mit einer Haltung gelebt wird, die aktiv auf Menschen zugeht. Meine Erfahrungen aus Gesprächen und in der Ausbildung bestätigen diese These. „Die Menschen waren so dankbar, dass ich sie angesprochen habe“, erzählt eine Vikarin. Sie hat sich entschieden, den Gemeindebrief persönlich auszuteilen und an der Haustür zu überreichen. Im Sicherheitsabstand zwischen Garten- und Haustür oder auf der Terrasse haben sich im Anschluss viele intensive Gespräche ergeben. „Es war, als ob die Menschen durstig wären nach einem Austausch. Ganz viele verschiedene Themen kamen zur Sprache. Nicht nur Trauriges, auch viel Fröhliches wurde erzählt.“ Ein Vikar, der eine persönliche Karte mit dem Geburtstagsgruß der Gemeinde überreicht, berichtet von ähnlichen Erfahrungen. Eine Pfarrerin, verantwortlich für die Koordination der Notfallseelsorge in ihrem Dekanat, hat beharrlich bei den Rettungsdiensten angerufen und sich so im Gespräch gehalten. Sie hört: „Ihr Notfallseelsorger werdet gebraucht.“ Eine Schulpfarrerin hat direkt nach dem Lockdown Familien telefonisch kontaktiert, von denen sie um familiäre Probleme oder um beengte Wohnverhältnisse wusste. Sie rief in zwei Wochen zwanzig Familien an, daraus ergaben sich im Anschluss zwölf Besuche, die sie mit Sicherheitsabstand oder im Rahmen eines Spaziergangs durchführte. Die Familien waren tief dankbar für dieses Angebot der Pfarrerin. Sie fühlten sich wahr- und ernstgenommen.

Ins Leere liefen dagegen viele Angebote, die auf einer Komm-Struktur aufbauen. „Wir haben angeboten, dass man uns anrufen kann. Es hat aber praktisch niemand angerufen“, klagt ein Pfarrer. „Wir werden nicht gebraucht“, ist sein Fazit. Er leidet zudem darunter, dass Kirche nicht offiziell als systemrelevant anerkannt wird. Aber: Seelsorger und Seelsorgerinnen, die auf Menschen zugehen, agieren in ihrer Rolle und sind daher zugleich Repräsentanten ihrer Kirche, die in diesen seelsorglichen Begegnungen dann sehr wohl als relevant wahrgenommen wird.

In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) verantworte ich seit 2019 die Seelsorgeausbildung der Vikare und Vikarinnen und habe die Ausbildung auf das Konzept der Gemeindeseelsorge umgestellt. Der Heidelberger Praktische Theologe Wolfgang Drechsel hat dieses Konzept 2016 poimenisch reflektiert vorgelegt. Es überzeugt, weil es auch die kleinen Begegnungen wertschätzt, theologisch fundiert ist und Seelsorge nicht problemfokussiert reduziert. Diese Seelsorge nutzt das vielfältige Netzwerk der Kirchengemeinde vor Ort. In der Nagelprobe der Corona-Krise hat sich dies bewährt – jedenfalls ist das die Rückmeldung der Vikare und Pfarrerinnen, die mit diesem Konzept arbeiten. Es entspricht auch den Erfahrungen der Seelsorgenden in Krankenhäusern und Alteneinrichtungen, die die Möglichkeit haben, die Menschen zu besuchen. Mag sein, dass dies alles nicht offiziell als systemrelevant eingeschätzt wird. Doch die Seelsorgenden selbst erfahren sich als relevant, sie erleben Sinn in ihrem Handeln; und das ist nicht zuletzt wichtig für die psychische Gesundheit. Seelsorge funktioniert auch in Corona-Zeiten – wenn man sie denn zulässt!

Traumata wirken nach

Zweifellos die größte Herausforderung für Seelsorger und Seelsorgerinnen stellte die Kontaktsperre dar, die – nicht in allen Krankenhäusern und Altersheimen, aber doch in vielen – den Besuch von Zugehörigen und Seelsorgenden verhindert hat. Die Situation war bundesweit uneinheitlich. Manchmal gab es noch nicht einmal eine gemeinsame Basis in derselben Universitätsklinik, weil die einzelnen Direktoren unterschiedlich entschieden hatten. In einigen Krankenhäusern kamen Seelsorgende ganz selbstverständlich zu den Kranken, in anderen wurden sie nur zu Sterbenden gelassen, in wieder anderen Häusern war die Corona-Station tabu, in den nächsten wurden selbst Gemeindepfarrerinnen mit Schutzanzügen zu Corona-Patienten ins Krankenhaus gebracht, wenn die Krankenhausseelsorger völlig überlastet waren. In manchen Krankenhäusern war überhaupt keine Seelsorge gestattet.

Diejenigen haben sicher Recht, die auf den Schrecken des einsamen Sterbens in Krankenhäusern und Altersheimen hingewiesen haben. In der Tat werden die Traumata der Corona-Pandemie noch lange nachwirken: Menschen sind ohne Begleitung gestorben, konnten nicht Abschied nehmen, mussten kaum erträgliches, deprimierendes Alleinsein erleiden. In den Gesprächen mit Zugehörigen wird dies auch immer wieder thematisiert. „Für meine Mutter war es das Schlimmste, dass sie meinen Vater nicht besuchen konnte“, erzählt ein junger Mann. „Er hatte so Heimweh nach ihr und nach zuhause. Als er das letzte Mal vor Corona im Krankenhaus lag, war sie täglich bei ihm und hat sich um ihn gekümmert. Das ging jetzt nicht. Und dann ist er plötzlich gestorben. Das quält sie jeden Tag, fast mehr als die Trauer um meinen Vater.“ Besonders schlimm war und ist die Situation von Menschen mit Demenz, die von ihren Zugehörigen isoliert werden, ohne dass sie dies rational einordnen können. Diesen Menschen, die besonders auf die zwischenleibliche Interaktion angewiesen sind, zwingt Corona eine ihnen unerklärliche Einsamkeit auf.

Es wird eine ganz dringende Aufgabe von Seelsorge sein, die Menschen zu begleiten, die dies alles ertragen mussten, deren Zugehörige nicht besucht werden konnten und die daher ohne Begleitung sterben mussten.

Ähnlich schwer wiegen die problematischen Nachwirkungen durch Bestattungen, bei denen zeitweise nicht einmal die engsten Zugehörigen anwesend sein durften. „Meine kleine Tochter durfte nicht Abschied von ihrer Oma nehmen“, sagt mir eine junge Frau. „Ich mache mir deshalb große Sorgen um ihre seelische Gesundheit. Sie ist so still seitdem, ich komme nicht an sie heran.“ Es bleibt auch abzuwarten, wie sich Trauerfeiern auswirken, die sehr verspätet nachgeholt werden.

Wir können aus der Vergangenheit lernen. Ich sehe die Aufgaben der Kirchenleitungen darin, vor allem im Gespräch mit Politikern und Poltikerinnen auf Landesebene, die über die Maßnahmen in ihren Bundesländern entscheiden, selbstbewusst den Beitrag und die Möglichkeiten von kirchlich-professioneller Seelsorge darzustellen. Vor allem im Blick auf einen möglichen zweiten Lockdown gilt es präventiv zu verhindern, dass Seelsorge wieder ausgeschlossen wird. Ein Anknüpfungspunkt und Argument könnte die Definition der WHO zu Palliative Care sein: „Palliative care: … integrates the psychological and spiritual aspects of patient care.“ Die Verweigerung von Seelsorge für Sterbende widerspricht also der Forderung der WHO. Ich rege darüber hinaus an, dass im Gespräch mit Politikern auf Bundesebene darauf hingewirkt wird, dass auch in anderen Bereichen der Medizin Seelsorge zum Standard der Begleitung von Patienten gehört und dies entsprechend der Richtlinien der WHO ergänzt wird.

Handreichung im Internet

Zugleich müssen die Seelsorgenden aktiv unterstützt werden. Hier hat es schon unmittelbar nach dem Ausbruch der Pandemie vielfältige Angebote gegeben. Schon früh hat zum Beispiel der Münsteraner Praktische Theologe Traugott Roser gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen mit einer Handreichung zu Seelsorge in Corona-Zeiten hilfreiche Impulse geboten, die zudem ständig überarbeitet werden (www.covid-spiritual-care.com). Viele Landeskirchen stellten ebenfalls zeitnah Materialien zur Verfügung, die auf den Homepages der Landeskirchen zu finden sind.

Für alle, die Ohren haben zu hören, ist auch aus außerkirchlichen Kontexten deutlich vernehmbar, was Kirche zu bieten hat. In einem Interview zum diesjährigen Resilienz-Kongress erklärt etwa die Psychologin und Gründerin des Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) Maja Storch, dass sie alle Klienten nach ihrer Religiosität fragt. Religiosität ist ihrer Ansicht nach ein großer Resilienzfaktor, gerade in Corona-Zeiten. Seelsorge hat viel zu bieten!

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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