Wunder sind reine Übungssache

Was Bibelübersetzer von einem U-Bahnhof lernen können
Foto: privat

An Wunder sollten wir uns halten. Gerade jetzt, in Zeiten, in denen Unmenschlichkeiten uns den Atem nehmen, in denen das Wort “Schande“ zum Bestandteil des Alltagswortschatzes geworden ist. Dann sollte es „Wunder“ auch werden. Ich fang gleich mal an.

Jedes Mal, wenn ich in Berlin unterwegs bin und an einer bestimmten U-Bahn-Station vorbeikomme, versetzt es mir einen Stich. „Mohrenstraße“ heißt die Station. Das M-Wort, das so viele hundert Jahre Gewaltgeschichten auf dem Buckel hat, noch so lebendig ist in Sprichwörtern und Kinderbüchern, scheint unausrottbar. Zwar wurde Schaumgebäck umbenannt, und aus dem Sarotti-M-Wort wurde der „Sarotti-Magier“, doch die M-Wort-Straße blieb. Manchmal schrieb es jemand um, und auf dem „o“ landeten zwei Pünktchen, doch das war nur vorübergehend. Schwarze Organisationen protestierten, und es änderte sich nichts.

Und jetzt die Nachricht: Sie kommt weg! Also nicht die Straße, sondern die Bezeichnung. Die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte hat es beschlossen. So einfach geht das. Die Schilder werden abgeschraubt, U-Bahn-Pläne geändert. Und noch besser: Die Straße heißt fortan: „Anton-Wilhelm-Amo-Straße“. Anton-Wilhelm Amo war der erste schwarze Philosoph in Deutschland, dessen Forschung über 200 Jahre lang in der europäischen Geistesgeschichte beschwiegen wurde.

Geboren wurde er um 1700 in Westafrika, dort unterhielt Brandenburg-Preußen die Kolonie „Groß Friedrichsburg“, und in der Nähe dieser Kolonie wurde Amo als Kind gefangen genommen und versklavt. Als „Geschenk“ kam er an den Hof von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, der ihm – anders als anderen Hof-M-Wort – eine Ausbildung zukommen ließ.  Amo studierte Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Halle und veröffentlichte 1729 eine Schrift über die Rechtsstellung von Schwarzen in Europa, unter anderem über das Recht der von Christen gekauften Schwarzen in Bezug auf ihre Freiheit beziehungsweise Dienstbarkeit.

Das Original dieser Schrift ist verloren. Sein Vorname ist verloren, Anton-Wilhelm ist der Name seiner Besitzer. Er starb irgendwo in Ghana, sein Grab ist unbekannt.

Und nun wird eine Straße nach ihm benannt. Ein Wunder? Die Präsenz seines Namens mitten in Berlin besteht nicht nur aus einem Schild, sie ruft verdrängte Geschichten hervor von Sklaverei in Deutschland, Rassismus und einem in koloniale Machtausübung verstrickten Christentum. Für mich weckt das Schild auch Hoffnung, dass sich die Dinge ändern, dass es wahr wird, dass Schwarzes Leben zählt.

Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich wieder die Friedrichstraße heruntergehe und zur U-Bahn-Station namens „Anton-Wilhelm Amo-Straße“ komme. Dann schaue ich sie vielleicht einfach nur an oder setze mich mit einem Butterbrot unter das Schild. Eines weiß ich genau: Das wird mein very special Berlin Day, WUNDERschön und unvergesslich.

Genauso freue ich mich auf den Tag, an dem ich die Bibel aufschlage, das Jeremia-Buch Kapitel 13, und das M-Wort ist weg. Einfach gestrichen und ersetzt durch „Kuschit“. Dann werde ich den Vers vielleicht einfach ein paar Stunden lang anschauen, oder ich haue mich mit meiner neuen Bibelausgabe unter einen Baum. Das wird dann mein very special Church Day, WUNDERschön und unvergesslich.

An Wunder sollten wir uns halten.

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