Maskierter Weihnachtsduft

Warum das Fest diesmal ganz anders wird
Foto: epd

„Fröhliche Weihnacht überall“ ist ein Lied, mit dem es sich der Volksmund doppelt bequem macht. Denn zum einen umfassen die Zeilen, die allgemein bekannt sind, nur den Refrain, von den wechselnden Strophen hat kaum jemand eine Ahnung, ich auch nicht. Und zum andern singt man nicht selbst, sondern lässt singen, in diesem Jahr leider spärlicher als sonst. Außerhalb Deutschlands ist das Lied unbekannt; und hier kennt man es erst seit 1885, was für ein Weihnachtslied kein Alter ist. Im Evangelischen Gesangbuch taucht es nicht auf; aber in keinem Kaufhaus ist es entbehrlich. „Weihnachtston, Weihnachtsbaum, Weihnachtsduft in jedem Raum“ – das steckt an.

Doch die Wirkung lässt nach. Heute achten nur noch wenige darauf, dass Weihnachten ein Kontrasterlebnis ist. Was war ursprünglich mit Ton, Baum und Duft gemeint? Der Weihnachtston war das Jahr über untersagt; Adventslieder wurden erst im Advent, Weihnachtslieder erst vom Heiligen Abend an gesungen. Der Weihnachtsbaum wurde heimlich ins Haus getragen geschmückt. Und der Weihnachtsduft?

In seinem Roman Das Parfüm entführt Patrick Süskind uns in eine Zeit, die ihm ermöglicht, die Rolle des Parfüms vom Kontrast her zu beschreiben, vom Gestank der Dörfer und Städte in vormodernen Zeiten. Die deutsche Sprache kennt das Wort Gestank nur im Singular, doch Patrick Süskind entwickelt in seinem Buch, wie Umberto Eco herausgefunden hat, eine ganze Liste von Gerüchen, die darin eins sind, dass es sich um Gestank handelt: „Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett, die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend süßen Duft der Nachttöpfe.“ Ausdrücklich wehrt der Autor den Gedanken ab, Gestank sei eine Eigentümlichkeit der sozial Deklassierten. „Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.“

Wie befreiend ist der Duft von Spekulatius und Lebkuchen, von Kerzen und Glühwein im Kontrast zu solchem Gestank! Wie gern würden wir all diese Düfte in uns aufsaugen, ohne Gesichtsmasken! Doch wir brauchen einen Mund- und Nasenschutz, um einem geruchlosen Virus Widerpart zu leisten. Ton, Baum und Duft werden uns in diesem Jahr nicht auf Weihnachtsmärkten geliefert, wir müssen eigene Wege zu ihnen finden. Darin liegt nicht nur ein herber Verlust, sondern auch eine überraschende Chance.

Die Freiheit wird derzeit auf eine harte Probe gestellt – nicht weil staatliche Vorschriften sie durch Lockdowns einschränken, sondern weil die Macht des Virus uns zur Mäßigung im Gebrauch unserer Freiheit nötigt. Das zu bejahen, ist der Weihnachtston in diesem Jahr. Wenn das gelingt, können wir uns über den Weihnachtsduft doppelt freuen.

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Wolfgang Huber

Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.


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