Gemeinwohl

Neue Wirtschaftsethik

Betritt man am Beginn der 2020er-Jahre das Feld der Wirtschaftsethik, dann geht kein Weg an den Digitalisierungsprozessen der vergangenen Jahre vorbei. Trotzdem werden die Auswirkungen der Digitalisierung weitgehend isoliert reflektiert, indem der Fokus zum Beispiel auf den Datenschutz oder die großen Internetfirmen wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder Microsoft (GAFAM) gelegt wird. In theologischer Perspektive drängen sich zudem Themen wie die Autonomie des Menschen und die Übertragung von Entscheidungen auf durch Algorithmen gesteuerte Maschinen in den Vordergrund. Jedoch erst die Kombination von Digitalisierung und Ökonomisierung macht die gegenwärtige Veränderungsdynamik verstehbarer, weil sie überwiegend durch wirtschaftliche Interessen bestimmt ist.

In ökumenischer Verbundenheit wenden sich die beiden Bochumer Theologen Traugott Jähnichen (evangelisch) und Joachim Wiemeyer (katholisch) einer „Wirtschaftsethik 4.0“ zu, die den digitalen Wandel gerade als wirtschaftsethische Herausforderung begreift. Weder die heilversprechende Utopie noch die den Untergang vorhersagende Dystopie sind für sie interessant. Vielmehr versuchen sie, die Digitalisierung als „Querschnittstechnologie“ zu verstehen, die in der Lage ist, eine beinahe unbegrenzte Menge von Daten zu sammeln und diese dann durch Algorithmen zu vernetzen und Handlungsmuster, Konsumwünsche und vieles mehr „vorzuschlagen“. Eingestreute, kurze Infoboxen beleuchten die technischen Hintergründe der Schlagworte, über die diskutiert wird.

So entsteht nach einer knappen theologischen Positionsbestimmung ein Parforceritt durch die Ebenen wirtschaftlichen Handelns: durch die Mikro-Ebene von Arbeitswelt und privatem Konsum, die Meso-Ebene von kollektivem Arbeitsrecht und Unternehmensethik sowie die Makro-Ebene von Monopolbildung, Besteuerung, sozialen Sicherungssystemen und Ökologie. Jenseits einzelner Volkswirtschaften stellt sich die Frage nach dem „Digital Gap“ – oder, positiv gewendet, der Chance eines Entwicklungssprungs für Entwicklungs- und Schwellenländer.

Das Schlusskapitel beleuchtet die normative Perspektive auf den digitalen Wandel: Leitend ist für beide Autoren, dass auf diesem Feld jegliche individuelle wie kollektive Entscheidung zugleich eine individualethische wie auch sozialethische Dimension aufweist. Gerade Digitalisierungsprozesse beruhen auf Vernetzungen, so dass Entscheidungen Einzelner immer auf das Ganze rückwirken. Inhaltlich ziele eine christlich-sozialethische Perspektive – konfessionsübergreifend – auf das Kriterium des Gemeinwohls. Ergänzt werden diese Überlegungen durch weitere „Horizonte des digitalen Wandels“: die Veränderung der Kommunikationskultur, des Generationenverhältnisses und schließlich der Blick auf die christlichen Theologien und Kirchen.

Mag die thematische Auswahl eklektisch sein, so entsteht doch der Eindruck einer allumfassenden Veränderungsdynamik, die nicht zufällig mit der Nutzbarmachung der Elektrizität in Verbindung gebracht wird. Jedoch müsste einer normativen Bestimmung, wie Jähnichen/Wiemeyer sie vorschlagen, zunächst die Beschreibung der Dynamik selbst vorangehen.

Über die inhaltliche Füllung dessen, was unter dem Kriterium des Gemeinwohls im Hinblick auf den digitalen Wandel nun konkreter zu verstehen ist, bedarf es eines Kommunikationsprozesses, der aber nun – und das wird in der Corona-Pandemie überdeutlich – wiederum weitgehend digital geführt werden wird. Damit nutzen die ethische Reflexion des digitalen Wandels sowie die Entwicklung von normativen Vorstellungen selbst digitalisierte Prozesse, deren Eigenart als Plattform-basierte Kommunikation Einfluss auf das Ergebnis nehmen wird.

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Foto: privat

Jens Beckmann

Dr. Jens Beckmann ist Pastor der Nordkirche und Theologischer Vorstand der Evangelischen Perthes-Stiftung e.V. in Münster.


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