Am dritten Ort

Wie wir mit querdenkenden Corona-Leugnern reden sollten
Foto: EKM

Da steht sie auf der Bühne. Im Brustton der Überzeugung vergleicht sie sich mit Sophie Scholl. Hat diese nicht auch quer zum Mainstream der Gesellschaft gedacht und gehandelt? Hat diese nicht auch protestiert und Widerstand geleistet? Und dann: Sie wolle niemals aufgeben, sich für „Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit“ einzusetzen. Das Publikum applaudiert! Verfolgt sieht sie sich – auf offener Bühne in Hannover vor einigen Wochen! Was für eine Enterbung von Millionen Opfern des Nationalsozialismus, was für eine Verhöhnung derer, denen nur „ein Grab in der Luft“ (Paul Celan) blieb und bleibt.

Eine solche Enteignung der Millionen Opfer des Nazi-Regimes ist nur nachzuvollziehen im festen Rahmen von Verschwörungserzählungen. Denen zufolge erkennt nur eine kleine Elite von Wissenden die Verschwörung von mächtigen Drahtziehern, die die Welt in ihre Richtung lenken. Gegen diese leisten sie Widerstand. Die breite Masse bleibt unwissend und wird unwissend gehalten. Nur die wenigen Widerständler erkennen die Verschwörung und werden deshalb verfolgt. So finden Menschen und Gruppen zusammen, die bisher nicht viele Berührungspunkte und Interessen hatten. Auch die Nähe zu gewalttätigen Rechtsextremen schreckt nicht ab.

Was tun gegen solche Verschwörungserzählungen? Hilft sprechen? Ja, ganz gewiss! Klare Worte sind gefragt, wie die des Ordners bei der Kundgebung in Hannover. Er stellte sich geistesgegenwärtig vor die Rednerin und gab ihr seine Ordner-Weste zurück. „Für so einen Schwachsinn“ wolle er kein Ordner sein, diese „Verharmlosung vom Holocaust“ sei „mehr als peinlich‘“. Allerdings: Klare Worte können nur die erreichen, die nicht bereits in einem geschlossenen Verschwörungs-Erzählkreis gefangen sind. Denn sie sind mit Argumenten so gut wie nicht zu erreichen, jedenfalls nicht im direkten Streit über die Verschwörungserzählung. Es braucht einen dritten Ort, so die Erfahrungen von in dieser Auseinandersetzung Engagierten; einen dritten gemeinsamen Ort wie den Schrebergarten oder eine Kunstausstellung oder ein Begegnungszentrum. Die Gemeinschaft über ein solches drittes Thema bildet Vertrautheit, eine Vertrautheit, die einen Gesprächsraum eröffnet. Dabei kann es nicht um einen Schlagabtausch der Argumente gehen, vielmehr sind ein fragendes Zuhören und ein geduldiger Dialog gefragt. In ihm lassen sich Sorgen kanalisieren, werden Menschen als Selbst-Denkende und -Handelnde angesprochen, haben es nicht mehr nötig, sich Identität von anderen zu leihen, ja, zu stehlen. Gut, wenn Gemeinden ihre Räume für solche Gespräche am dritten Ort zur Verfügung stellen.

Gut, ja noch besser, wenn in Gemeinden solche Gespräche geführt werden. Wo, wenn nicht dort ist lebendig, dass Gott und also auch wir zwischen Person und Werk unterscheiden. So gelingt Dialog als Streit und Auseinandersetzung, respektvoll, mit viel Geduld, mit klaren Worten. Dafür braucht es jeden und jede.

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Ilse Junkermann

Ilse Junkermann ist Landesbischöfin a.D. und Leiterin der Forschungsstelle „Kirchliche Praxis in der DDR. Kirche (sein) in Diktatur und Minderheit“ an der Universität Leipzig.


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