Starke Texte

Getrost in trostloser Lage

In den 1970er-Jahren hat Jürgen Habermas in einer Diskussion mit evangelischen Theologen die spitze Frage gestellt, wo und woran man erkennen könne, dass die Kirche im damaligen Heute Trost spende. Das sei doch ihre eigentliche Aufgabe. In der Not der heutigen Pandemie hat sich der Theologe und Schriftsteller Reiner Strunk aufgemacht, nach Quellen des Trostes zu fahnden. Und er hat dabei eine Fülle von nicht nur religiösen, sondern auch literarischen Funden gemacht.

Die schiere Zahl der ergiebigen Funde könnte dem Text leicht einen enzyklopädischen Charakter geben; dieser möglichen Verlegenheit hält Strunk freilich eine klare und pointierte Orientierung entgegen, auf die man sich getrost einlassen kann.

Viele Versuche, Trost zu spenden, erreichen die Menschen in ihrer Notlage nicht: Strunk gibt klassische Bespiele für gutes Zureden, Bagatellisierung des Schmerzes, für Lebensweisheiten und Beschwichtigungen – dergleichen Vertröstungen greifen ins Leere. Trost – das zeigen die großen Geschichten aus der Bibel, die musikalischen und literarischen Zeugnisse – hat die Kraft, Menschen zu verwandeln, er lässt Menschen eine innere Selbsterneuerung erfahren – und dies nicht nur durch eine veränderte Wahrnehmung der Lage, sondern durch deren Verwandlung.

Die innere wie äußere Erneuerung kann sich bei Krankheit, Trennungsschmerz oder beruflichem Absturz auf ganz verschiedenen Wegen als tröstend einstellen. Johannes Brahms’ „Deutsches Requiem“ hat sich ihm als ein solcher Weg erwiesen. Das Requiem hat Brahms nicht als eine liturgische Trauermusik nach dogmatischer Vorlage komponiert; er hat biblische Texte frei ausgewählt, deren Folge eine „poetisch-musikalische Trauerarbeit“ ermöglichen. So wird in Abschiedsworten Jesajas Zukunftsvision angerufen, in der eine Kindheitserfahrung erinnert wird: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“

Abschiedstrauer wird hier in einer Zuwendung erlebt, in der sich eine Tür zur Zukunft des Lebens öffnet. „Eine solche Verwandlung lässt sich nicht dozieren. Aber sie lässt sich imaginieren, poetisch und musikalisch.“ Wer sich hörend und teilnehmend dieser Bewegung hingibt, kann, so Strunk, bereits etwas von der zukünftigen Verwandlung im jetzigen Augenblick erfahren.

Aus den Arsenalen der Literatur lässt Strunk eine Wolke von Zeugen vorüberziehen: Theodor Fontane, Jean Paul, Matthias Claudius, Heinrich Heine, Eduard Mörike, Schalom Ben-Chorin, Sophokles, Franz Marc und Elisabeth Lasker-Schüler, Friedrich Hölderlin und Novalis. Von Albert Camus lässt er die beiden Kämpfer gegen die Pest: den Jesuiten Paneloux und den Atheisten Dr. Rieux, in einem konzentrierten, leisen Dialog sprechen: Beide überzeugen einander in der Aktivität des „gemeinsamen Kampfes, der dem Leben gilt“.

Starke Texte aus der Bibel, besonders dem Alten Testament, geben dem Gesamtbild eine besondere Farbe und Kontur: die Geschichten von Noah, von Joseph und seinen Brüdern, von Jonas Weigerung und Elias Flucht, von den Freunden Hiobs als hilflosen Helfern, von dem trostlosen Schicksal des Judas und vom Geist als dem Tröster. Dabei zeigt sich, welch kraftvolle Beredsamkeit der Glaube in der Sorge um Menschen, die Leid tragen, aufbringt.

Martin Luther hatte für die tröstende Gewissheit ein einziges, fast verschwundenes Wort: getrost. „So lasst nun in Euerer Schwachheit das Herz frisch und getrost sein, denn wir haben dort in jenem Leben bei Gott einen treuen Helfer, Jesus Christus, … dass wir nicht sorgen noch fürchten brauchen, dass wir versinken oder in den Abgrund fallen werden.“

Dem Propheten „Deuterojesaja“ in Israels babylonischer Gefangenschaft stand diese heilsame Sprache auch zu Gebote. Der Prophet spricht zu den Verbannten und tröstet sie mit einer Vision der Heimkehr – nicht nur für Einzelne, sondern für das Volk, und mit einem ökologischen Zukunftsbild: „Ich öffne Ströme auf kahlen Höhen und Brunnen inmitten der Täler. Ich mache die Wüste zum Wasserteich und dürres Land zu Quellen. Ich setze Zedern in der Wüste, Akazien, Myrten und Ölbäume; ich pflanze Zypressen in der Steppe …“ (Jesaja 41,18f.)

Diese Texte gaukelten keine betäubenden Traumgespinste vor, ihr poetischer Realismus konnte den Trennungsschmerz lindern und eine Erwartung sinnlich wecken, die sich dann auch tatsächlich erfüllte: Kollektiv wachgehaltene Lebenserwartung lässt sich nicht ersticken.

Die Leser dieser starken, sorgfältig interpretierten Geschichten können erfahren, wie Trost als heilende Kraft persönlichen Zuspruchs wirksam wird, und sie können lernen, wie man sich hütet vor stumpfen Sentimentalitäten. Reiner Strunk gelingt es, die Kraft der heilsamen Zuwendung durch einen umsichtigen Gang durch das literarische Arkadien vor den Vertröstungsangeboten des Marktes zu schützen.

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