Bereit zum Loslassen

Klartext

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Dorothee Löhr. Sie ist Pfarrerin in Mannheim.

Keiner ohne Schuld

Sonntag Invokavit, 21. Februar

Jesu sagte zu den Jüngern: Einer unter euch wird mich verraten. (Johannes 13,21)

Der Lieblingsjünger Johannes und Petrus und Judas haben alle auf ganz verschiedene Weise einen Platz in der Vorsehung Jesu. Petrus fordert in einer bangen Stunde stellvertretend für alle Jünger den Lieblingsjünger auf, die entscheidende Frage nach dem Verräter zu stellen (Vers 25). Aber der weiß von nichts und lehnt sich ruhig an Jesu Brust. Und Judas wird aktiv, weil Jesus ihn auffordert: „Was du tust, das tue bald“ (Vers 27).

Keiner versteht im Moment, was Jesus meint. Die Jünger vermuten nur, was alle Welt versteht, dass es um Geld und Vorsorge geht. Und so kommt es, dass Judas, der Verwalter und Organisator der Jünger, einen schlechten Ruf bekommt und am Ende alleine an allem schuld ist, obwohl von den anderen Jüngern keiner schuldlos bleibt. Jesus ist der einzig Schuldlose, bleibt in der Stunde des vielfältigen Versagens und des Verrats der ruhende Pol.

Offene Türen

Sonntag Reminiszere, 28. Februar

Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe …Siehe da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe da war Geschrei über Schlechtigkeit. (Jesaja 5,1+7)

 

J

esaja singt ein Liebeslied von seinem Freund und dessen Weinberg. Aber schon bald kippt die Stimmung um in eine Drohung. Denn trotz viel Liebesmüh bringt der Weinberg nur schlechte Frucht.

Der Besitzer ist Gott und sein Volk der Weinberg. Und dieses sprachliche Bild hat Lukas Cranach in einem Gemälde interpretiert. Es hängt in der Wittenberger Stadtkirche: Da harkt Martin Luther mit einem großen Rechen die Wege und bereitet sie für den Herrn. Sein Mitstreiter Philipp Melanchthon schöpft Wasser aus einem Brunnen, aus der biblischen Tradition. Und andere Reformatoren gießen oder beschneiden die Reben.

Der Mist stammt dagegen aus dem römisch-katholischen Nachbargarten. Dort hängen diejenigen, die eigentlich Gärtner sein sollten, herum, wohlgenährt und angeheitert, alleine essend und trinkend. Sie treiben Raubbau, wärmen sich selber am Feuer von abgehauenen Zweigen. Und zwischen den eingerissenen Zäunen ist ein steiniger Kahlschlag entstanden. Der Weinberg des Herrn mit gepflegten und ungepflegten Parzellen, mit guten und schlechten Gärtnern, ist ein drastisches, kämpferisches Bild aus der Reformationszeit. Heute gibt es Kahlschläge im Weinberg des Herrn dagegen auf beiden Seiten der Konfessionsgrenzen. Und wir sollten wie Cranach ernst nehmen, dass die Texte des Jesaja, die ja nicht nur im fünften Kapitel vom Weinberg handeln, auch zu uns gesprochen sind. Wir sollen uns alle als gute (Wein-)Gärtner erweisen.

Wenn der rechtmäßige Besitzer des Weinbergs nicht mehr das Sagen hat und Eigenmächtigkeit regiert, herrscht auch bei uns Dürre. Zäune und Mauern werden niedergerissen, Disteln und Dornen breiten sich aus, mit anderen Worten: Unzuverlässigkeit, Untreue und Orientierungslosigkeit.

Wo sind unsere Schwachstellen, wo können wir als treue Gärtner und Mitarbeiterinnen wirken? Mir fällt ein Stein des Anstoßes und eine schadhafte Stelle im Zaun auf: So klagen die Jungen über mangelnde Unterstützung und fehlendes Verständnis der Alten. Der Arbeitsmarkt ist angespannt, eine Familiengründung wird immer komplizierter und Renten, die Altersarmut verhindern, sind nicht mehr garantiert. Und angesichts dieser Perspektiven der jüngeren Generation nerven gut gemeinte, aber wenig hilfreiche Ratschläge von Älteren, die ihr Leben gut bewältigt haben, aber unter ganz anderen Bedingungen. Und Vorwürfe, man werde zu selten besucht und angerufen, verbessern die Stimmung nicht. Manche Eltern und Großeltern werden bitter und einsam, wenn der Kontakt mit den Jüngeren seltener wird oder gar abbricht. Andere fürchten dagegen um ihre Unabhängigkeit, wenn sich die Kinder zu sehr einmischen.

Wer gibt dem jeweils anderen eine Chance? Wer geht den ersten Schritt und ergreift die Initiative – ohne Herablassung oder Vorwürfe? Du sollst deine Kinder nicht reizen, ergänzt der Epheserbrief das Gebot der Elternliebe und zeigt, dass der konstruktive Umgang der Generationen eine gemeinsame Aufgabe ist. Wer räumt den Stein gestörter Beziehungen weg? Nicht um ihn zu werfen, sondern um einen neuen Weg zu bahnen?

Das zweite Problem des Weinbergs ist ein Loch im Zaun: Zäune schützen und begrenzen die Verantwortung für ein Gebiet. Zwischen aufgeschlossenen Nachbarn sind Zäune so angelegt, dass sie die Sicht auf den Anderen nicht völlig beschränken. Es könnte ja sein, dass er meine Hilfe braucht oder ich selber auf seine Hilfe angewiesen bin. Je hilfsbedürftiger ich bin, desto wichtiger ist ein Zaun, der das rechte Maß von Nähe und Distanz zum Nachbarn zulässt.

Helle Zukunft

Sonntag Okuli, 7. März

Denn ihr wart früher Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. (Epheser 5,8)

Die Blickrichtung ist entscheidend am Sonntag Okuli. Kinder des Ungehorsams können sich im Licht Gottes ändern. Auch wenn die Vergangenheit wenig hergibt und ihre Schatten in die Gegenwart legt, aus Gottes Zukunft scheint Licht!

 

Erfülltes Leben

Sonntag Lätare, 14. März 

Jesus aber antwortete ihnen und sprach: … Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibts allein, wenn  es aber stirbt, bringt es viel Frucht. (Johannes 12,23–24)

Jesu Gleichnis vom Weizenkorn leuchtet ein: Ein Samenkorn, das nicht gesät, sondern im Tütchen aufgehoben wird, ist sinnlos, gleichsam tot. Denn es ist dafür da, in die Erde zu kommen und Frucht zu bringen. Jesu Gleichnis ist klar und schön, duftet nach Frühling und Landwirtschaft. Diesen Duft hatten wohl auch die ersten Hörer in der Nase, als sie, Griechen und Juden aus aller Welt, zum Fest nach Jerusalem kamen und Jesus sehen wollten. Hier knüpft Jesus an: Es beginnt mit dem bunten, multikulturellen und multireligiösen Festgetümmel in Jerusalem. Hier ist gleichsam der Vorhof, der äußerste von drei konzentrischen Kreisen.

Der zweite Kreis sind die Jünger, die gemeinsam auf dem Weg sind. Synodoi sind die Weggenossen im wörtlichen Sinn, ein innerer Zirkel derer, die sich gegenseitig in Bewegung halten und das, was sie erfahren (haben), nach außen weitererzählen. Zunächst wird Philippus, der Jünger mit dem griechischen Namen, von den Leuten angesprochen. Er sagt es Andreas weiter und beide zusammen Jesus.

In diesem Fall klappt also die Kommunikation vom äußeren in den inneren Kreis. Aber es bleibt offen, ob die Kommunikation in die andere Richtung auch klappt, die Außenstehenden Jesus wirklich zu Gesicht bekommen oder sogar hören, dass sich die Bewegung in den konzentrischen Kreisen nicht nur von außen nach innen bewegt, sondern auch in umgekehrter Richtung, von Jesus zu den synodalen Weggefährten und zum Volk.

Die Kreise, die verschieden aber nicht getrennt sind, sind grob gesagt die Gesellschaft und die Jünger. Sie haben eine gemeinsame Mitte, die im Getümmel der Leute und im Gestrüpp des Alltags, mitunter auch in Synoden und anderen Kirchengremien vergessen wird: Jesus und sein Wort.

In der Mitte der Bewegung sieht man nicht viel: Jesus, der Mensch von Gott, der die Gegenwart Gottes unter den Menschen ist, ist als solcher nicht sichtbar. Er ist vielmehr ein unsichtbares Kraftzentrum. Zu sehen ist nur die um sein Wort versammelte mehr oder weniger bunte Gemeinde. Und sie hört eine Übersetzung oder Variation des Gleichnisses vom Weizenkorn: Mit dem Weizenkorn sagt Jesus etwas über sich, etwas Prophetisches über sein Leben, Sterben und Auferstehen. Jesus ist das Weizenkorn, gestorben, begraben und für uns alle dahingegeben. Sein Tod ist also nicht sinnlos gewesen. Aber was ist aus dieser Saat geworden?

Früchte des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung, vermittelt durch viele Generationen, vermittelt durch Gottes Wort und Sakrament, allen Widerständen zum Trotz. Wie viele Lehrer und Predigerinnen, wie viele Eltern, Großeltern, Paten haben sich dafür eingesetzt, dass ihr Glaube lebendig blieb, auch wenn sie starben. Selbst Unkraut, Hass und Brudermord konnten nicht verhindern, dass eine gemeinsame Hoffnung geblieben ist, ein gefährdetes Pflänzchen, aber doch so kräftig, dass es nicht totzukriegen ist.

Wenn Jesus vom Weizenkorn redet, redet er aber nicht nur über sich selbst, sondern er meint auch jeden und jede von uns. Wir sind nicht Nahrung für die Würmer, sondern Saatkörner für das Leben, Saatkörner Gottes. Die Geschichte vom Säen und Ernten, von geduldiger Liebe, die damit verbunden ist, Leben weiterzugeben, auch über den Tod hinaus, ist noch nicht abgeschlossen. Sie schließt uns alle mit ein. Das Gleichnis vom Weizenkorn gilt nicht nur in Natur und Kultur, sondern für uns alle, denn: Wer sein Leben liebhat, es also aufbewahrt wie ein Samenkorn, das nicht gesät wird, der wird’s verlieren. Und wer sein Leben auf dieser Welt „hasst“, es nämlich loslässt und Jesus nachfolgt, sich einsetzt, ohne die Angst, zu kurz zu kommen oder sich selbst zu verlieren, wird Frucht bringen. Und sein Leben bleibt durch den Tod hindurch erhalten zum Leben bei Gott.

Wir wollen zwar lieber uns selbst, unser Leben, unseren Reichtum, unsere Geschichte festhalten und bewahren. Wir ernten eben lieber, als dass wir säen. Schließlich ist es einfacher, die Früchte zu horten und bei Bedarf alles verfügbar zu haben, auch das Christentum, Lieder, Gebete, Kirchenräume, das biblische Zeugnis und die Diakonie.

Aber wo wird bei uns auf Zukunft gesät? In der Erziehung von Kindern: Und sie ist nur im Vertrauen auf die Zukunft möglich, mit Liebe und der Bereitschaft, loszulassen. Es fängt schon bei der Entscheidung für ein Kind an. Da muss man manchen Lebensplan loslassen und in eine offene, ungewisse Zukunft, auf Hoffnung hin säen. Und das gilt auch für den Religionsunterricht. Wenn Eltern und Lehrer nicht von ihm überzeugt sind, wird er als überflüssig empfunden, fällt aus oder wird abgeschafft. Wer für seine Überzeugungen nicht aufsteht, dessen Überzeugungen sind nutzlos, auch für die eigenen Kinder.

Und wenn der Nachwuchs flügge wird, heißt lieben, loslassen und Vertrauen wagen, selbst im Angesicht der eigenen Grenzen, und die Fürbitte für die erwachsenen Kinder beizubehalten, ohne sie zu vereinnahmen.

Aber was ändert sich, wenn wir einüben, auch mal „nein“ zu sagen und einen eigenen Standpunkt durchzuhalten, so wie das auch Jesus getan hat? Welche Angst wird uns genommen, wenn wir wissen, wo wir hingehören? Mit solchen Fragen begeben wir uns in die Weggemeinschaft der Jünger, auch wenn wir noch nicht wissen, wohin dieser Weg führt. Aber wer solche Fragen stellt, bleibt mit Jesus in Verbindung. Bleibt offen für das Leben und die Zukunft Gottes. 

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