Dem Leben dienen – bis zuletzt (V)

Der Auftrag der Diakonie im Umgang mit dem Sterben und Sterbewünschen
Symbolbild Sterbehilfe. Das fünfte Gebot „Du sollst nicht morden“ aus der Bibel.
Foto: picture alliance / Daniel Kubirski
Symbolbild Sterbehilfe. Das fünfte Gebot „Du sollst nicht morden“ aus der Bibel.

In einer mehrteiligen Serie auf zeitzeichen.net beschäftigt sich der Wiener Professor für Ethik und Systematische Theologe, Ulrich H.J. Körtner, mit der seit einigen Wochen neu entbrannten öffentlichen Diskussion um mögliche Suizidbeihilfe in Einrichtungen der Diakonie. Hier der fünfte und letzte Teil, in dem Körtner seine Vorstellung vom Auftrag der Diakonie im Umgang mit dem Sterben und Sterbewünschen entfaltet.

Der Vorschlag, die Diakonie und diakonisch-kirchliche Einrichtungen sollten der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe von Sterbehilfeorganisationen die Grundlage entziehen, indem sie selbst solche Suizidhilfe anbieten – und nicht etwa nur in den eigenen Einrichtungen zulassen – ist abwegig. Zum einen wäre eine solche regelhafte Aktivität diakonischer Einrichtungen in gleicherweise geschäftsmäßig wie das Agieren von Sterbehilfeorganisationen. Kirche und Diakonie würden künftig genau das praktizieren, wogegen sie bisher immer argumentiert haben.

Das Argument, wenn schon Sterbehilfe, dann lieber in eigener Verantwortung und mit besserer Qualität, wirkt nicht nur befremdlich. Es droht auch das Ansehen der Diakonie in der Öffentlichkeit als dem Leben und dem Schutz jeglichen Menschenlebens aus christlichem Geist und aus dem Evangelium verpflichteter Organisation zu beschädigen.

Das Motto der Diakonie kann nicht lauten: „Sterbewünsche erfüllen“, sondern nur: „Dem Leben dienen – bis zuletzt“. Dazu gehört „die Begleitung im Sterben, aber nicht die Herbeiführung des Todes“ (Peter Dabrock und Wolfgang Huber in der FAZ vom 25.1.2021).

Dem Leben wird freilich nicht durch die Tabuisierung von Sterbewünschen oder dem Ausweichen vor der Tatsache, dass es auch in kirchlich-diakonischen Einrichtungen zu Suiziden kommt, gedient. Die primäre Aufgabe der Diakonie liegt zweifellos in der Suizidprävention. Darauf muss das Gewicht liegen – und nicht auf Unterstützung bei dem Vorhaben, einen Suizid „auf sichere und nicht qualvolle Weise“ zu vollziehen (Reiner Anselm, Isolde Karle und Ulrich Lilie in der FAZ vom 11.1.2021). Es gehört aber auch zu den Aufgaben von Diakonie und Seelsorge, Medizin und Pflege, Sterbewünsche von Patienten und Bewohnern wahrzunehmen und darüber mit den Betroffenen in ein vertrauensvolles Gespräch zu kommen, statt sie mit ihren Wünschen und Gedanken alleinzulassen oder diese unterschiedslos zu pathologisieren. Dazu braucht es in den Einrichtungen Instrumente der strukturierten, prozessorientierten Ethikberatung.

 Von der Suizidbeihilfe ist die Ermöglichung und Begleitung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) zu unterscheiden. Palliativgesellschaften weisen zu Recht auf die bestehenden Unterschiede zwischen FNVF und Suizid hin. Allerdings lässt sich zwischen beiden Handlungsweisen nicht in jedem Fall eine kategorische Grenze ziehen. Was dies für die Praxis in kirchlich-diakonischen Einrichtungen bedeutet, wird weiter zu diskutieren sein.

Die Autoren des FAZ-Artikels vom 11.1.2021 sehen eine Aufgabe darin, „brutale“ Suizide zu verhindern. Es mag sein, dass ein unter ärztlicher Assistenz durch Einnahme von Barbituraten vollzogener Suizid, der ohne äußere Qualen verläuft, als gewaltarm empfunden wird. Für den Suizidwillen und diejenigen, die ihn begleiten, mag das zutreffen. Es ist aber doch auch zu bedenken, welche Folgen die Etablierung einer professionalisierten Suizidassistenz für Mitbewohner einer Einrichtung, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch für die Angehörigen anderer Heimbewohnerinnen und -bewohner und somit für die gesamte Kultur des Hauses hat. Was löst es bei Bewohnern aus, wenn sie wissen, dass mit Hilfe des Personals regelhaft Suizide ausgeführt werden? Wie weit wird dadurch der Lebenswille der übrigen Bewohner geschwächt und somit die Suizidprävention in der Einrichtung konterkariert? Ist nicht auch das eine Form von Gewalt?

Nicht nur wird das Vertrauensverhältnis zu einer Pflegeperson möglicherweise tiefgreifend belastet, wenn diese Person im Nachbarzimmer das tödliche Medikament reicht. Auch die Seelsorge, die eine Suizidhandlung begleitet, kann an Vertrauen bei anderen Bewohnern einbüßen, so dass letztlich die Möglichkeit beeinträchtigt wird, von einem konsequenten Eintreten für den Schutz des Lebens aus den Lebenswunsch Suizidwilliger zu unterstützen.

Das eigene Sterben und der Tod von Angehörigen ist mit erheblichen Ängsten belastet, mit denen sich die Menschen alleingelassen fühlen: mit der Angst, unerträgliche Schmerzen erleiden zu müssen; mit der Angst, den Angehörigen und der Gesellschaft zur Last zu fallen; mit der Angst im Sterben alleingelassen zu werden; mit der Angst, ausgeliefert zu sein und der Würde beraubt zu werden; mit der Angst, auch gegen den eigenen Willen unnötig lange am Leben erhalten zu werden, was keiner Lebens-, sondern einer Sterbeverlängerung gleichkommt; mit der Angst, dass das Leben fahrlässig verkürzt wird durch mangelnde medizinische und pflegerische Hilfe oder gar durch vorsätzliche Tötung. Die gesellschaftliche Aufgabe besteht darin, der Einsamkeit der Sterbenden entgegenzuwirken und eine neue Kultur der Solidarität mit den Sterbenden zu entwickeln. Was Sterbende brauchen, ist unsere Solidarität, nicht das todbringende Medikament.

Aufgabe von Diakonie und Kirche ist es, an der Verbesserung und dem Ausbau einer flächendeckenden Palliativversorgung mitzuwirken. Sie sollten sich aber dessen bewusst sein, dass eine noch so gute Palliativmedizin und -pflege die Debatte um das selbstbestimmte Sterben einschließlich des Rechtes auf Selbsttötung und Suizidbeihilfe nicht überflüssig macht.

Die vorliegenden Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe sehen die verpflichtende Beratung von Suizidwillen vor. Ein flächendeckendes Beratungssystem wird erhebliche Kosten verursachen. Die politische Forderung von Kirche und Diakonie muss lauten, dass der Staat zumindest die gleiche Summe, wenn nicht sogar mehr, für den weiteren Ausbau von Hospizen, Palliativmedizin, Palliative Care und Suizidprävention aufwendet.

Darüber hinaus sollte sich die Diakonie im Verbund mit der Cari­tas und den Kirchen auch dafür einsetzen, dass in der künf­ti­gen Gesetz­ge­bung zur Suizidbeihilfe, die durch das Karls­ru­her Urteil nötig gewor­den ist, Schutz­klau­seln gegen eine Pflicht freier Träger zur regel­mä­ßi­gen Gewähr­leis­tung von Suizi­d­as­sis­tenz vorge­se­hen werden (vergleiche Dabrock und Huber in der FAZ am 25.1.2021).

Wird eine regelmäßige Suizidassistenz in kirchlich-diakonischen Einrichtungen ausgeschlossen, ist das auch in Bewohnerverträgen festzuhalten. In der Praxis wird dies bedeuten, dass Suizidwillige nicht am Suizid überhaupt gehindert werden dürfen, wohl aber, dass sie den Suizid nur außerhalb der Einrichtung ausführen können. Zu diskutieren ist freilich über die Zumutbarkeit einer solchen Regelung für die Betroffenen, die sich nicht etwa vorübergehend in einem Krankenhaus oder einem Hospiz aufhalten, sondern in einem Pflegeheim ihren festen Wohnsitz haben. Wurde weiter oben ausgeführt, dass auch professionelle Suizidassistenz in Pflegeeinrichtungen traumatisierend für andere Bewohner und die Hausgemeinschaft im Ganzen sein kann, ist zu bedenken, dass es die Gemeinschaft in einer Einrichtung belasten kann, wenn sich ein Bewohner verabschiedet, um seinen letzten Weg außerhalb der Einrichtung anzutreten. Wie damit diakonisch und seelsorglich verantwortungsvoll umgegangen werden kann, ist nicht nur in den einzelnen Einrichtungen, sondern auch auf der Ebene ihrer Träger eingehend zu beraten.

Wenn Kirchen und Diakonie Suizidassistenz in ihren Einrichtungen ablehnen, können sie nicht ausschließen, dass die Dienstleistung von Sterbehilfeorganisationen in Anspruch genommen wird, genauso wenig wie die Suizidassistenz von Ärzten, die nicht mit derartigen Organisationen kooperieren. Diese dürfen seit dem Urteil des BVerfG wieder tätig sein. Auch die bereits vorliegenden Gesetzesentwürfe gehen davon aus, dass sie auch in Zukunft neben Ärzten, Angehörigen und anderen dem Sterbewilligen Nahestehenden Suizidassistenz leisten können, sofern dies nicht aus Gewinnstreben geschieht. Ihre Aktivitäten durch diakonieeigene Sterbehilfeangebote unterbinden zu wollen, geht jedoch in die falsche Richtung. Die gesetzliche Rechtmäßigkeit des Handelns von Sterbehilfeorganisationen, das möglicherweise auch von Kirchenmitgliedern in Anspruch genommen wird, ist von den Kirchen zu akzeptieren. Das hindert sie jedoch nicht daran, weiterhin für ihre Sichtweise einzutreten, dass vom christlichen Verständnis des Lebens als Gabe und Aufgabe her der Suizid eine vor Gott zu verantwortende Ausnahmehandlung und die gewerbsmäßige Suizidbeihilfe nicht mit christlicher Ethik vereinbar ist.

Ärzte und Pflegende, wie überhaupt alle, die Sterbende begleiten, sind auf Unterstützung und öffentliche Solidarität wie auf qualifizierte medizinethische Aus- und Fortbildung angewiesen. Die geforderte Kultur der Solidarität schließt praktische Maßnahmen zur Beseitigung von personellen, räumlichen und strukturellen Engpässen in der Pflege sowie eine gesellschaftliche, aber auch finanzielle Aufwertung des Pflegeberufs ein. Gefordert ist eine Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch der Medizin und der Pflege in Krankenanstalten und Pflegeheimen, welche die Würde des Menschen im Leben wie im Sterben achtet.

Alle Teile des Textes „Dem Leben diesen – bis zuletzt“ von Ulrich H.J. Körtner, die vom 1. bis 10. Februar auf www.zeitzeichen.net erschienen sind, können Sie hier an einem Stück lesen.

Literatur:

Anselm, Reiner/Karle, Isolde/Lilie, Ulrich: Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, FAZ, 11.1.2021, S. 6.

Borasio, Gian Domenico/Jox, Ralf J./Taupitz, Jochen/Wiesing, Urban: Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben. Ein verfassungskonformer Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, Stuttgart 22020.

Dabrock, Peter/Huber Wolfgang: Selbstbestimmt mit der Gabe des Lebens umgehen, FAZ 25.1.2021, S. 6.

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin: Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, https://www.dgpalliativmedizin.de/phocadownload/stellungnahmen/DGP_Positionspapier_Freiwilliger_Verzicht_auf_Essen_und_Trinken%20.pdf, Stand: 7.2.2019 [letzter Zugriff: 28.1.2021].

Diakonie Deutschland: Selbstbestimmung und Lebensschutz: Ambivalenzen im Umgang mit assistiertem Suizid Ein Diskussionspapier der Diakonie Deutschland, https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Diakonie-Texte_PDF/Selbstbestimmung_und_Lebensschutz_Ambivalenzen_im_Umgang_mit_assistiertem_Suizid_Diskussionspapier_Diakonie_2020.pdf [letzter Zugriff: 29.1.2021].

Dorneck, Carina/Gassner, Ulrich M./Kersten, Jens/Lindner, Josef Franz/Linoh, Kim Philip/Lorenz, Henning/Rosenau, Henning/Schmidt am Busch, Birgit: Gesetz zur Gewährleistung selbstbestimmten Sterbens und zur Suizidprävention. Augsburg-Münchner-Hallescher-Entwurf (AMHE-SterbehilfeG), Tübingen 2021
EKD: Evangelische Perspektiven für ein legislatives Schutzkonzept bei der Regulierung der Suizidassistenz. Stellungnahme zu einer Anfrage des Bundesgesundheitsministers zur Regulierung der Suizidassistenz im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB, https://www.ekd.de/evangelische-perspektiven-fuer-ein-legislatives-schutzkonzept-56633.htm [letzter Zugriff: 28.1.2021].

EKD: Evangelische Perspektiven für ein legislatives Schutzkonzept bei der Regulierung der Suizidassistenz. Stellungnahme zu einer Anfrage des Bundesgesundheitsministers zur Regulierung der Suizidassistenz im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB, https://www.ekd.de/evangelische-perspektiven-fuer-ein-legislatives-schutzkonzept-56633.htm [letzter Zugriff: 28.1.2021].

Gesetzentwurf der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Dr. Karl Lauterbach, Dr. Petra Sitte, Swen Schulz und Otto Fricke. Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Suizidhilfe, https://www.helling-plahr.de/files/dateien/210129%20Interfraktioneller%20Entwurf%20eines%20Gesetzes%20zu%20Regelungen%20der%20Suizidhilfe_final.pdf, Stand: 29.1.2021 [letzter Zugriff: 30.1.2021].

Gesetzentwurf der Abgeordneten Renate Künast, Katja Keul […]. Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben, https://www.renate-kuenast.de/berlin-thema/entwurf-eines-gesetzes-zum-schutz-des-rechts-auf-selbstbestimmtes-sterben, Stand: 28.1.2019 [letzter Zugriff: 30.1.2021].

Körtner, Ulrich H.J.: Beihilfe zur Selbsttötung – eine Herausforderung für eine christliche Ethik, ZEE 59, 2015, S. 89–103.

Körtner, Ulrich H.J.: Recht auf Leben – Recht zum Sterben, Wiener Zeitung, 18.12.2020, S. 8 (Online: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2085742-Gastkommentare.html [letzter Zugriff: 29.1.2021].

Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit. Eine Orientierungshilfe des Rates der GEKE zu lebensverkürzenden Maßnahmen und zur Sorge um Sterbende, Wien 2011.

Mawick, Reinhard: Diskussion am offenen Herzen, https://zeitzeichen.net/node/8829, 25.1.2021 [letzter Zugriff: 28.1.2021].

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