Die Würde wahren

Warum evangelische Ethik Selbstbestimmung und Lebensschutz verbinden muss
Bibelauszug
Foto: dpa/Daniel Kubirski

Die doppelte und dabei gleichberechtigte Sicht auf den Lebensschutz und die Selbstbestimmung ist das Koordinatensystem, das die evangelische Kirche und die Diakonie bei der Frage des assistierten Suizids leiten muss, meint Elisabeth Gräb-Schmidt. Die Tübinger Professorin für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik gehört seit 2013 dem Rat der EKD an und ist seit 2018 Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 26. Februar 2020 steht die evangelische Kirche in neuer Form vor der Frage, wie mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid umzugehen ist. Die Erfüllung des individuellen Sterbewunsches kann zumindest nicht dauerhaft verweigert werden, auch wenn das Urteil ebenso deutlich gemacht hat, dass niemand zur Mitwirkung oder zur Ermöglichung eines assistierten Suizids gezwungen werden kann.

Dieses rechtliche Urteil ist anzuerkennen, keine Frage. Aber es kehrt unsere bisherige Sicht auf die sogenannte Sterbehilfe um. Konnte bisher Hilfe zum Sterben angesichts der technologischen Entwicklung der Apparatemedizin auch eine zu befürwortende Angelegenheit sein, so ist nach dem jetzigen Urteil des BVerfG der assistierte Suizid als ein Recht zur Selbstbestimmung adressiert. So ist also im BVerfG-Urteil von „autonomer Selbstbestimmung“ die Rede, die als absolute Norm erscheint, indem das Grundrecht der freien Persönlichkeit (Artikel 2, Absatz 2 Grundgesetz) mit dem Grundrecht der Würde (Artikel 1, Absatz 1 Grundgesetz) verknüpft wird.

Auch eine dem christlichen Glauben verantwortliche Ethik schätzt die Selbstbestimmung als unverzichtbaren Ausdruck der Person. Aber eine Selbstbestimmung, die ihre Erfüllung im Recht auf assistierten Suizid finden soll, kann sie nicht akzeptieren. Dass der Schutz des Lebens dem Recht auf Selbstbestimmung gleich zu achten ist, ist bisher Kernbestand unserer vom Christentum geprägten Kultur. In einem Würdeverständnis, das dem Menschen auch jenseits seiner Selbstbestimmung gilt, ist dies vorausgesetzt. Die Bestimmung der menschlichen Würde geht nicht in der Selbstbestimmung auf. Selbstbestimmung und Würde sind nicht eins zu eins zu identifizieren, denn Würde reicht weiter als die Selbstbestimmung. Wie fatal wäre es, die Würde an eine autonome Selbstbestimmung zu binden? Der Begriff der Würde erinnert an die passive Dimension des Menschseins, die jeden Menschen unabhängig von seiner Leistung nur als Menschen wertschätzt. Sie gilt gerade denen, die auf Hilfe angewiesen sind, nicht nur denen, die in hehrer Selbstverantwortung große Dinge leisten.

Insofern ist der Lebensschutz als Gegengewicht zur Selbstbestimmung zu sehen. Dieses doppelte, gleichberechtigte Achten auf den Lebensschutz und die Selbstbestimmung ist das Koordinatensystem, in dem auch eine evangelische Ethik verortet werden muss.

Das aber bedeutet, wir dürfen schon den Begriff der Selbstbestimmung nicht den Anwälten des assistierten Suizids überlassen, denn Selbstbestimmung erschöpft sich nicht in Machbarkeit, in einer autonomen Herrschaft über das eigene Leben.

Was ist denn das Selbst? Gerade nach christlichem Verständnis – etwa in der Linie Luthers und Kierkegaards – ist das Selbst eben nicht eines, das sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, sondern eines, das sich in Begegnungen und Beziehungen allererst bildet. Es ist in Relationen eingebettet, aus denen sich Anspruch und Verantwortung des Lebens ergeben. Diese Beziehungen und Begegnungen gehören im Kern zur Selbstbestimmung dazu. Das Selbst ist eben gerade nicht ein abstraktes Subjekt, das sich selbst konstituiert. Es ist auch kein statisches Subjekt, sondern eines, das sich dynamisch entwickelt in Responsivität und Resonanz auf die Gegebenheiten des Lebens. Zu einem solchen Selbst gehören Sozialität, Solidarität und Verantwortung füreinander, christlich gesprochen: Nächstenliebe, dazu.

Dass die Differenz von Würde und Selbstbestimmung verwischt wurde, ist ein zentraler Kritikpunkt an der Begründung des Urteils des BVerfG. Indem das Gericht die Freiheit der Persönlichkeit und ihre Würdebestimmung als ineinandergreifend und sich selbst interpretierend ansieht, ist eine Verschiebung des Menschenbildes hervorgerufen worden, die mit aller Macht zurückzuweisen ist. Der Lebensschutz darf also nicht der Selbstbestimmung geopfert werden, weil dies den Begriff der Selbstbestimmung konterkariert. Vielmehr müssen Selbstbestimmung und Lebensschutz in einer Balance gehalten und nicht nach einer Seite hin aufgelöst werden, wie es durch das Urteil nahegelegt wird. Das gebietet die Würde des Menschen.

Insofern ist im Blick auf die konkrete Gesetzgebung auf die Suizidprävention das größte Gewicht zu legen – eine anspruchsvolle Aufgabe mit vielen Facetten. Grundlegend aber muss es darum gehen, eine Entscheidung zum Suizid nicht einfach hinzunehmen, sondern darum, den Menschen nicht vorschnell aufzugeben, sondern um den Menschen zu kämpfen, im Sinne der Werbung für das Leben. Neben praktischen Hilfsangeboten (Palliativmedizin) geht es dabei auch um seelsorgerliche beziehungsweise psychologische Begleitung.

Berechtigte Sorge

Natürlich kann es sein, dass – trotz aller Bemühungen – der Grenzfall eintritt und sich Ausweglosigkeit breitmacht. Eine Entscheidung zum Suizid ist dann auch hinzunehmen und gegebenenfalls zu respektieren. Auf jeden Fall darf der Mensch auch bei diesem Entschluss nicht alleingelassen werden, sondern er ist auch dort zu begleiten. Allerdings bleibt dennoch immer fraglich, inwieweit man in solchen Grenzfällen tatsächlich von „freiverantwortlicher“ Entscheidung in vollem Sinne sprechen kann. Denn Verzweiflung und Ausweglosigkeit schließen Selbstbestimmung und Freiheit eigentlich aus.

So gibt es die berechtigte Sorge um eine Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas hin in die Richtung, dass der assistierte Suizid zur „normalen“ Behandlung avanciert. In der Haltung der Kirche muss deutlich werden, dass nach christlichem Verständnis des Menschen Freiheit nicht in der Freiheit zum Suizid kulminieren kann. Dies setzt voraus, dass auch der Begriff der Freiheit präzisiert wird. Er darf nicht als beziehungslose Willkür, sondern muss wie Selbstbestimmung als responsiver, relationaler Begriff verstanden werden. „Freiverantwortlich“ ist das Subjekt nicht in Unabhängigkeit, sondern immer nur in Antwort auf die Forderungen des Lebens, die theologisch gesprochen als Gottes Ansprache aufgefasst werden können. Auf jeden Fall gilt: Das Leben, die Mitwelt, gehört dazu.

Aus evangelisch-ethischer Sicht legen sich insofern die folgenden Punkte nahe, die eine verantwortungsbewusste und der Menschenwürde dienende evangelische Theologie in den kommenden Diskussionen um die gesetzliche Neuregelung zur Suizidbeihilfe berücksichtigen muss:

Erstens: Anstoßen oder wachhalten einer öffentlichen Debatte. Assistierter Suizid darf auf keinen Fall zur gesellschaftlichen Normalität werden. Oberstes Ziel ist es, Suizidprävention zu leisten, Begleitung und Nähe zu suchen, um die eigentlichen Wünsche und Befindlichkeiten der Menschen kennenzulernen, ihre Sorgen und Sehnsüchte verstehen zu lernen und gemeinsam Wege aus der Krise zu suchen. Jedenfalls ist es nicht angemessen – wie es neuerdings von einigen auch im evangelischen Spektrum propagiert wird –, den assistierten Suizid als „erweiterte Kasualpraxis“ zu begreifen. Das sendet meines Erachtens falsche Signale. Vielmehr gilt es zu begreifen: Das Vorbringen von Sterbewünschen ist nicht gleichbedeutend mit Suizidalität. Sterbewünsche werden geäußert, auch ohne dass man sich tatsächlich das Leben nehmen möchte. Oft gilt: Man möchte leben, aber nicht so leben. Im diakonischen Handeln geht es nicht darum, diese Ambivalenz aufzulösen, sondern sie wahrzunehmen und gemeinsam auszuhalten. Das kann geschehen, ohne das Gegenüber in die eine oder andere Richtung zu drängen und es so zu bevormunden.

Zweitens: Achten auf den gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Druck, der entstehen kann und wird. Er kann Menschen dazu führen, sich für den assistierten Suizid zu entscheiden, weil sie befürchten, andern zur Last zu fallen. Das Problematische ist hier, wenn es darum geht, die „Freiverantwortlichkeit“ einer Entscheidung festzustellen, dann kann auch in solchen Fällen durchaus von einer „freiverantwortlichen“ Entscheidung die Rede sein. Eine solche Einschätzung wird aber fragwürdig, wenn sie einem internalisierten Druck, anderen nicht zur Last fallen zu wollen, Folge leistet. Insofern muss einer drohenden Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas entgegengewirkt werden. Das Recht auf Suizid darf nicht schleichend zur Pflicht zum Suizid werden.

Drittens: Einer Veränderung des Menschenbildes, die in der Gleichsetzung der Würde mit der Selbstbestimmung droht, ist entschieden entgegenzutreten. Vielmehr ist die Würde des verletzlichen Lebens hoch und unantastbar zu halten. An dieses Würdeverständnis und eine ihr folgende Selbstbestimmung ist bei allen Überlegungen zu einem flankierenden Schutzkonzept immer wieder zu erinnern. Es ist in die öffentlichen und gesellschaftlichen Debatten einzubringen als ein Verständnis von Würde, das die Selbstbestimmung nicht negiert, sondern vielmehr sie im Dienst der Menschlichkeit konkretisiert.

Das ist die Evangelische Kirche in Deutschland der Humanität unserer Gesellschaft schuldig. 


 

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