„Wir müssen unser Bewusstsein schulen“

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist trotz aller gegenwärtiger öffentlicher Konflikte optimistisch, dass unsere pluralistische Gesellschaft noch lernen wird, produktiver zu streiten
Franz Radziwill (1895 – 1983): „Der Sturm und das Bürgerzimmer“, um 1920.
Foto: akg/© VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Franz Radziwill (1895 – 1983): „Der Sturm und das Bürgerzimmer“, um 1920.

zeitzeichen: Herr Professor Pörksen, im Jahr 2018 erschien Ihr Buch „Die große Gereiztheit“, in dem Sie die Erregungskultur unserer Zeit beschrieben haben. Was hat sich seitdem verändert?

BERNHARD PÖRKSEN: Meine damalige Diagnose der großen Gereiztheit war vor allem mediendiagnostisch gemeint. Die Kernthese lautete: Die Vernetzung der Welt produziert unvermeidlich Verstörung, weil wir uns im  „digitalen Dorf“ unter den aktuellen Kommunikationsbedingungen zu nahe kommen. Alles wird unmittelbar  sichtbar, das Banale, das Berührende und das Bestialische. Es ist eine Art Sichtbarkeits- und Differenzschock, den wir erleben.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

BERNHARD PÖRKSEN: Es passiert etwas Furchtbares am anderen Ende der Welt, zum Beispiel ein Terroranschlag. Und auf einmal stehen auf einem Hügel in Tübingen die Menschen beieinander, schauen auf ihr Smartphone, registrieren den gerade noch weit entfernten Schrecken und geraten in eine Stimmung der rauschhaften Nervosität. Allerdings: In Zeiten der Pandemie ist die Gereiztheit primär ereignisbedingt und nicht primär medienbedingt. Sie ist geprägt von Verzweiflung, von existenziellen Nöten und von der Einsicht, dass die Strategie der Corona-Bekämpfung in vielen europäischen Ländern nicht wirklich greift.

Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund dieses Erregungszustands, dass sich gerade zurzeit auch bei uns in Deutschland die sogenannten identitätspolitischen Konflikte verschärfen?

BERNHARD PÖRKSEN: Alle haben jetzt eine Stimme, können sich zuschalten, sichtbar werden, idealerweise Gehör finden. Unter diesen Bedingungen wird permanent auf einer Metaebene darum gerungen, unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten wir sprechen oder nicht sprechen sollten. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die mit sehr guten Gründen fordern, dass Minderheiten und Menschen, die nicht privilegiert sind, die eine andere Hautfarbe oder eine andere sexuelle Orientierung haben, nicht mit pauschalen Etiketten belegt, nicht diffamiert und nicht diskriminiert werden. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die meinen, hier entstehe eine neue Verspanntheit, eine moralisierende Hypersensibilität und man dürfe nicht mehr sagen, was man sagen will.

Wer von beiden hat Recht?

BERNHARD PÖRKSEN: Mein Eindruck ist, dass man sich bei diesen Konflikten oft zu schnell von den sehr realen Diskriminierungserfahrungen, die Menschen machen, die nicht so privilegiert sind wie Sie und ich, entfernt und dann zu ganz grundsätzlichen Diagnosen kommt, die in ihrer Pauschalität falsch sind und von der angeblichen Großgefahr der politischen Korrektheit oder eines vermeintlichen Gesinnungsterrors handeln. Kurz und knapp: Man darf in diesem Land alles sagen, aber es bleibt aufgrund der neuen Kommunikationsbedingungen nicht unwidersprochen. Es gibt nun mal kein Menschenrecht auf Beifall – und das ist eigentlich eine gute Nachricht.

Also sind das alles nur eingebildete Probleme?

BERNHARD PÖRKSEN: Nein, es gibt im Einzelnen ungerechte Attacken und unnütze Aufreger, also aus meiner Sicht völlig sinnlose Verwerfungen und Verfeindungen. Aber im Grundsatz – und das ist für viele neu und ungewohnt – bekommen diejenigen, die sich vorher leicht ignorieren ließen, eine andere Sichtbarkeit, eine andere Anerkennung, ein anderes Forum des Gehört-Werdens, sprich: Sie haben Zugang zur Öffentlichkeit. So wird Unterschiedlichkeit in einer ganz anderen Radikalität und Direktheit manifest. Dies vor allem als Bedrohung im Sinne der „politischen Korrektheit“ oder der „Identitätspolitik“ zu rahmen, schiene mir ganz falsch. Denn wenn wir dieses Spiel weitertreiben, dann werden wir uns das nächste Jahrzehnt lang mit hoher Energie wechselseitig verfeinden.

Wie kann man das verhindern, beziehungs-weise vor welche Aufgabe ist unsere Gesellschaft auf diesem Feld gestellt?

BERNHARD PÖRKSEN: Die Antwort fällt mir schwer. Mir gefällt jedoch die Formulierung, die Friedemann Schulz von Thun in unserem Buch über „Die Kunst des Miteinander-Redens“ für diese so entscheidende Frage findet. Er unterscheidet eine Harmonie erster und zweiter Ordnung. In der Harmonie erster Ordnung werden Unterschiede weggedrückt, ausgeblendet, Anders-denkende marginalisiert. Und es herrscht, vordergründig zumindest, die Illusion der Einheitlichkeit. In der Harmonie zweiter Ordnung werden unterschiedliche Sichtweisen nicht mehr ignoriert, sondern integriert – eben auf dem Weg zu einer vielfältigeren, umfassenderen Form von Gemeinschaft. Wie das genau gelingen kann, welche Art der politischen Ansprache und der alltäglichen Kommunikation es hierfür bräuchte? Das ist offen. Aber hier handelt es sich gewiss um eine der entscheidenden Fragen unserer Zeit.

Das klingt – mit Verlaub – etwas idealistisch. Wie kann uns denn als Gesellschaft so ein Wechsel der Harmonieebenen gelingen?

BERNHARD PÖRKSEN: Es gibt kein Patentrezept, aber es braucht das Ringen um den genauen Blick, die Nuance, die Vermeidung pauschaler Attacken, die von der Kritik an der Position sofort zur Verdammung der Person und des „ganzen Menschen“ gelangen. Zum einen gilt es also, nach einer Sprache zu suchen, die diskriminierungssensibel ist und die Schmerzen wahrnimmt, die marginalisierte Gruppen in dieser Gesellschaft empfinden und die man sich nicht vorstellen kann, wenn man sich an die eigene privilegierte Position gewöhnt hat. Zum anderen ist gerade jetzt eine Kommunikationstugend nötig, die Schulz von Thun und ich die respektvolle Konfrontation nennen. Sagen, was zu sagen ist; sich nicht opportunistisch wegducken. Aber eben auch nicht auf die Abwertungsspirale und das Spiel pauschaler Verunglimpfungen einsteigen, das das Kommunikationsklima nur weiter ruiniert. Darauf käme es jetzt an.

Sollten sich die Professorinnen und Professoren und andere Privilegierte dieser Gesellschaft also einfach ein bisschen mehr Robustheit in diesen Diskussionen zumuten?

BERNHARD PÖRKSEN: Mit dem Ideal robuster Zivilität kann ich sehr viel anfangen. Timothy Garton Ash hat diese Formulierung in seinem Buch über die Redefreiheit verwendet. Und gleichwohl gilt: Es ist für alle Beteiligten natürlich alles andere als angenehm, öffentlich attackiert zu werden.

Und dazu kommt dann noch das, was Sie vor drei Jahren als „Empörung zweiter Ordnung“ diagnostiziert haben. Was ist genau darunter zu verstehen?

BERNHARD PÖRKSEN: Wir leben in einer Übergangsphase. Die Mediendemokratie alten Typs zentrierte sich um mächtige journalistische Gatekeeper, die am Tor zur öffentlichen Welt darüber befinden konnten, was als interessant und relevant gelten konnte. Heute kann sich jeder barrierefrei zuschalten, und insofern vervielfältigt und pluralisiert sich die Zahl der Empörungsangebote radikal. Unter diesen Bedingungen ist die alte Deutungsautorität gebrochen und die Empörung über die Empörung der jeweils anderen Seite wird zum kommunikativen Normalfall.

Das kann ja ganz unterhaltsam sein. Wie nimmt das nach Ihrer Meinung der Großteil der Rezipientinnen und Rezipienten wahr: Finden die das gut, oder sind sie dessen eigentlich überdrüssig?

BERNHARD PÖRKSEN: Es gibt diejenigen, die das Getümmel, das Spektakel und die Neigung zur öffentlichen Schlammschlacht als eine Art von Zuspitzungsentertainment genießen. Und es gibt diejenigen, die diese Debatten versuchen zu analysieren und dabei etwas erleben, was man Wutmüdigkeit nennen könnte oder rage fatigue – also eine Art Empörungserschöpfung. Sie fragen sich entgeistert: Wie können wir die Krisen der Gegenwart mit dem nötigen Ideenreichtum und mit der nötigen Wachheit beschreiben und analysieren, wenn wir schon bei kleinsten Aufregern derart in Rage geraten?

Welche Strategien empfehlen Sie, wenn man von Anfeindungen oder gar einem sogenannten Shitstorm betroffen ist? Ist Aussitzen eine Option? Denn meistens ist das ja dann doch auch schnell vorbei. Oder sollte man doch lieber aktiv werden?

BERNHARD PÖRKSEN: Das kommt darauf an, worum es sich konkret handelt. Ein Unternehmen, das Objekt eines Shitstorms ist, muss die Relevanzfrage stellen, muss sich also fragen, ob der Ur-Anlass der Empörung eigentlich berechtigt ist. Wenn der Anlass der Empörung den Wertekern des eigenen Unternehmens berührt, muss man reagieren, und zwar schnell. Daneben gibt es natürlich auch das sinnlose Erregungsspektakel, das gar nichts mit der eigenen Organisation, Person oder Position zu tun hat – das kann man leichter vorbeiziehen lassen. Entscheidend ist darüber hinaus auch immer: Wer greift die Empörung auf? Wenn die klassischen, etablierten Medien einen Shitstorm aufgreifen, dann ist er in der Welt, und dann sollte man auf jeden Fall reagieren.

Fatalerweise vergisst das Netz nichts. Deswegen gibt es ja immer wieder Versuche, das Netz zum Vergessen zu zwingen. Wie beurteilen Sie die bisherigen Maßnahmen der Politik, zum Beispiel das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Hat das irgendeinen Sinn? Soll man auf dieser Spur weitergehen?

BERNHARD PÖRKSEN: Natürlich ist die Durchsetzung des Rechts unbedingt geboten. Und wenn sie mit entsprechenden Bußgeldandrohungen verbunden sind, zeigen sich auch die großen Plattformen wie Facebook beeindruckt. Was strafrechtlich relevant ist, muss verfolgt werden, ganz klar. Aber eigentlich steckt in der laufenden Kommunikationsrevolution ein gigantischer Bildungsauftrag, der gesellschaftspolitisch noch gar nicht entziffert ist.

Welchen Bildungsauftrag meinen Sie?

BERNHARD PÖRKSEN: Das Grundproblem ist: Diejenigen, die man früher das Publikum genannt hätte, sind längst medienmächtig, aber noch nicht medienmündig. Wie damit umgehen? Wie die Medienbildung verstärken? Meine Bildungsvision nenne ich die redaktionelle Gesellschaft. Die Grundidee lautet, dass in den Maximen des guten Journalismus eine allgemeine Ethik für die Kommunikation im digitalen Zeitalter steckt. Diese Maximen sind heute für jeden nützlich, so behaupte ich. Sie lauten beispielsweise: „Prüfe erst, publiziere später! Verlasse Dich nie nur auf eine einzige Quelle! Höre immer auch die andere Seite! Mache ein Ereignis nicht größer als es ist, orientiere Dich an Relevanz und Proportionalität. In den Maximen des guten, ideal gedachten Journalismus findet sich, so meine These, ein modernes Wertekorsett für das öffentliche Sprechen im digitalen Zeitalter.

Wo sollen den vielen, vielen Menschen, die heutzutage unsere gesellschaftliche Kommunikation gestalten, diese Werte vermittelt werden?

BERNHARD PÖRKSEN: Sie sollten in den Schulen gelehrt werden. Sehen Sie, wir erleben eine laufende Kommunikationsrevolution, die in etwa vergleichbar ist mit der Erfindung der Schrift oder der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Ich glaube in der Tat, dass es längst ein eigenes Schulfach braucht.

Wie könnte so ein Schulfach konkret aussehen?

BERNHARD PÖRKSEN: Es sollte verschiedene Säulen besitzen. Die erste Säule wäre die Medien- und Machtanalyse. Das Ziel müsste es sein, Medien als Werkzeuge der Welterkenntnis verstehen zu lernen – von der Zeitung bis zum Radio hin zum Fernsehen und dem Netz. Die zweite Säule wäre die Medienpraxis. Es müsste das Ziel sein, das öffentliche Sprechen einzuüben, die Kunst der Rhetorik an die Schulen zurückzuholen – und sich im Unterricht zu fragen: Was ist ein seriöses Argument? Was ist eine seriöse Quelle und was nicht? Was verdient es, veröffentlicht zu werden und was nicht? Die dritte Säule wäre schließlich eine Disziplin im Grenzbereich zwischen Sozialpsychologie und Medienanalyse, die man angewandte Irrtumswissenschaft nennen könnte. Hier könnte man sich mit der ungeheuren Irrtumsanfälligkeit und Bestätigungssehnsucht des Menschen auseinandersetzen – auch als Reaktion auf die erlebbare Wahrheitskrise im öffentlichen Raum.

Man sollte sich also gründlich die Fehlbarkeit des Menschen anschauen?

BERNHARD PÖRKSEN: Ja, absolut. Den Irrtum zu studieren, um die Wahrscheinlichkeit des Irrtums unwahrscheinlicher werden zu lassen, darauf käme es an. Letztlich geht es darum, ein Bewusstsein zu schulen, das man Öffentlichkeitsbewusstsein nennen könnte. So wie in den 1970er-Jahren das Umweltbewusstsein entstanden ist als Reaktion auf die Ausplünderung des Planeten, bräuchte es jetzt eine Art Öffentlichkeitsbewusstsein als Reaktion auf die publizistische Vermüllung und Ausbeutung der öffentlichen Außenwelt. Diese Sensibilitätsschulung, um die es mir geht, sollte in den Schulen beginnen.

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft! Wie wird sich die emotional-mediale Entwicklung fortsetzen?

BERNHARD PÖRKSEN: Schwer zu sagen, aber meine hoffnungsvolle Spekulation lautet, dass wir uns in einer Übergangsphase der Medienentwicklung befinden, in einer Phase der digitalen Pubertät. Und irgendwann, eben dies legt diese Metapher nahe, finden wir aus dieser Pubertät heraus. Und dies kann durch das Training der eigenen Medienmündigkeit gelingen. Allerdings wird diese Übergangsphase von einer großen Zahl von Kommunikationskonflikten geprägt sein, weil die laufende, im Untergrund wirkende Medienrevolution noch nicht bewältigt, noch nicht eingehegt und noch nicht ethisch-moralisch domestiziert ist. Das heißt: Das Miteinander-Reden wird gleichzeitig wichtiger und schwieriger und muss im Blick auf zukünftige Großkrisen effektiver werden.

Sind Sie, was diese Herausforderung angeht, eher Optimist oder eher Pessimist?

BERNHARD PÖRKSEN: Ich bin analytisch oft pessimistisch und strategisch und aus grundsätzlichen Überlegungen heraus jedoch optimistisch. Denn eines ist mir sehr klar: Aufklärung, Bildung, das Bemühen und auch
Ringen um ein demokratisches Miteinander – all dies lebt von einem Minimum an Optimismus. Und man muss die Mündigkeit und Entwicklungsfähigkeit des Anderen und auch der eigenen Person voraussetzen, muss an sie glauben. Das bedeutet, ein gewisser Grundoptimismus ist für Demokratinnen und Demokraten tatsächlich alternativlos.

Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 4. März per zoom.

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Foto: privat

Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen ist seit 2008 ist er Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Pörksen hat
zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschienen im Carl Hanser Verlag München „Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven  Erregung“ (2018) und gemeinsam mit Friedemann Schulz von Thun „Die Kunst des Miteinander-
Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ (2020).


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