Zuspitzung

Luther in Worms

Auch wenn es auf den ersten Blick naheliegend ist, ein Buch zum Jubiläum von Martin Luthers berühmtem Auftritt auf dem Wormser Reichstag 1521 auf den Markt zu bringen: Dieses Buch ist ein verlegerisches Risiko. Denn das Reformationsjubiläum, das 2017 anlässlich des 500. Jahrestages von Luthers Thesenanschlag als das größte historische Jubiläum der wiedervereinigten Bundesrepublik begangen wurde, liegt gerade einmal gute drei Jahre zurück. Hunderte Lutherausstellungen, -tagungen, -konzerte, -bücher gab es 2017; da ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass Worms 2021 eine ähnlich hohe öffentliche Aufmerksamkeit erfahren wird wie Wittenberg 2017. Zu wünschen wäre das allerdings, denn Luthers Denkweg in der Zeit vom Thesenanschlag bis zum „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ in Worms hat eine genauere Betrachtung verdient. Klaus-Rüdiger Mai leistet diese genauere Betrachtung.

Mai nutzt den physischen Weg Luthers nach Worms, um seinen geistigen Weg dorthin nachzuzeichnen. Er verfolgt dabei Luthers Denken von den 95 Thesen über die Heidelberger und vor allem die Leipziger Disputation bis zu den drei reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520, mit denen der Bruch Luthers mit der römischen Papstkirche endgültig vollzogen ist. Mai stellt Luthers Schriften fachkundig und ohne Komplexitätsreduktionen vor, bleibt dabei aber verständlich und bewegt sich in diesem Sinne genau zwischen erzählendem Sach- und analysierendem Fachbuch. Besonderes Augenmerk legt er auf Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“, in der Luther mit dem „Priestertum aller Getauften“ eine Auffassung entwickelte, die ein wesentliches Fundament der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen bildete und zugleich mit der mittelalterlichen Papstkirche schlechthin unvereinbar war.

Mai spitzt seine Darstellung immer wieder auf die politischen Implikationen von Luthers Denken zu. Das mag jenen, die wie der Rezensent dazu neigen, den Theologen Luther ins Zentrum zu stellen, ungewohnt oder gar unbequem erscheinen. Es ist aber nicht ohne Plausibilität und bestätigt das Votum der älteren Reformationsforschung, dass ein theologischer Spezialsatz wie die Rechtfertigungslehre (selbst wenn er zu Recht im existentiellen Zentrum der reformatorischen Botschaft steht), den zu verstehen nicht einmal jeder Theologiestudent in der Lage ist, wohl kaum genügt hätte, um jenen europäischen Flächenbrand zu entfachen, den die Reformation ohne Zweifel darstellte. Ob man die von Mai punktuell betonten Parallelen zu heutiger europäischer Politik teilt oder nicht; man legt das Buch selbst dann belehrt aus der Hand, wenn man glaubte, schon alles über die Reformation zu wissen. Denn Mai schlägt Schneisen in das Dickicht der Reichspolitik des frühen 16. Jahrhunderts und lässt die Ränkespiele des Wormser Reichstags mitunter erscheinen, als wären sie einer Folge von „House of Cards“ entsprungen.

Deutlich wird dabei nicht nur, dass Luthers Wormser Auftritt alles andere als gefahrlos war – vor dem Schicksal Jan Hus’ retteten ihn nur seine Unterstützer vor Ort –, sondern auch, dass die Verweigerung des Widerrufs das entscheidende Signal für die Durchsetzung und Verbreitung der Reformation war. Luther gab in Worms jenes inspirierende Beispiel protestantischen Gewissensernstes, das bis heute jeder Dekonstruktion standhält.

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Foto: Markus Pletz

Benjamin Hasselhorn

Benjamin Hasselhorn ist evangelischer Theologe und Historiker. Von 2014 bis 2019 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung 2017 "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen" in Wiitenberg. Seit April 2019 ist er Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg.


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