Kein Reumütiger

Über Sterbehilfe

Der Suizid ist eine menschliche Möglichkeit, verstörend zwar, aber immer schon gewesen. Weil das jeder weiß, geht darüber zu reden auch so nahe. Doch das ist nötig, heißt es etwa von Krisenzentren mit gutem Grund schon lange. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid gibt solchem Reden neue Dringlichkeit. Ausgehend vom „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ schrieb das Gericht: „Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben ein Ende zu setzen, ist als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“

Anlassbedingt liegt der Akzent nun allerdings auf dem Suizid am erwarteten leidvollen Lebensende. Und da, sagen warnende Stimmen, drohe aus Normalisierung dynamische Normalität zu werden, die normativ wirke, sprich: Druck auf den Einzelnen aufbaue und genau dies fortan von ihm verlange. Der Belgier Jean-Pierre Wils, der Praktische Philosophie in Nijmegen lehrt und in Deutschland lebt, erörtert diese Problematik in seinem Essay Sich den Tod geben. Seine fundierten Überlegungen sind auch deshalb so hilfreich, weil er die Debatten in den Niederlanden intim kennt, wo assistierter Suizid wie auch aktive Sterbehilfe schon länger liberalisiert sind, es aber Forderungen nach weitergehender Liberalisierung gibt. Wils analysiert die Autonomie-Vorstellung dahinter und zeigt, wie deren Konzept – „weil ich will, muss ich es auch können (dürfen)“ – an die Stelle des Lebens tritt: „Der Gehalt der Autonomie wird diese selbst.“ Platt gesagt: Die Autonomie frisst ihre Kinder. Denn darüber löse sich die Selbstverständlichkeit des (Weiter-)Lebens auf: „Die Normalisierung assistierten Suizids wird die Normalität des Am-Leben-Seins beeinträchtigen. Das betrifft alle, die in einer solchen Gesellschaft leben.“

Die Folgen für das Individuum alarmieren ihn. Wils betont, dass er keine neuerliche Kriminalisierung des assistierten Suizids wünsche. Er hatte sich lange dagegen eingesetzt: „War sein Plädoyer für eine freiheitlichere Regelung der Sterbehilfe voreilig? Hätte er besser die Finger von einem solchen Engagement gelassen, weil er mit dem Argument der ‚schiefen Ebene‘ oder der ‚abschüssigen Bahn‘ als philosophischer Ethiker doch vertraut war? Nein, hier spricht kein Reumütiger. Die Befreiung aus den herkömmlichen Limitierungen der Sterbehilfe war und ist notwendig. Suizidassistenz unter klar definierten, aber sie auch begrenzenden Bedingungen gehört zur Humanisierung des Sterbens.“ Für fatal hält er allzu forsches Aufweichen dieser Kriterien. Es gelte, stets kritisch zu bedenken, was das Menschsein ausmache: „Dass wir uns gemäß unseren Selbstdeutungen umgestalten, ist unabänderlich und unvermeidbar. Wie wir uns verstehen, ist das jedoch keineswegs.“ Gründe für ein Weiterleben dürften jedenfalls nicht unter Druck geraten.

Tragik und Dilemmata solcher Entscheidung am Lebensende, die erlaubt bleiben müsse, begegnet er mit tiefem Respekt. Für die gesellschaftliche (und gesetzliche) Einbettung fordert er jedoch ein konsequentes Abwägen. Niemand dürfe in die Lage kommen, dass er meint, gehen zu müssen, weil es erwartet wird. Derzeit virulenten, hohlen Autonomie-Konzepten stellt er die Besinnung auf Würde und Freiheit entgegen: „Wählen-Müssen ist immer auch ein Müssen.“

Dabei nimmt Wils triftig Erkenntnisse aus Kulturgeschichte und -anthropologie, Soziologie und Sozialpsychologie wie aus literarischen Erkundungen zu solcher Extremsituation mit auf. Der Debatte gibt sein facettenreicher, nie vereinfachender Essay eine solide Basis. Und anders als kirchenoffizielle Äußerungen dazu ist er nicht von massivem Vertrauensverlust in die leitenden Motivationen belastet.

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