Fehlgeleitete Widerstandsromantik

Wenn sich Christen vor den Karren von Corona-Leugnern und Rechtspopulisten spannen lassen
Demnstration gegen Coronamaßnahmen in Stuttgart am 3. April 2021
Foto: dpa / Christoph Schmidt
Demnstration gegen Coronamaßnahmen in Stuttgart am 3. April 2021

Seit Beginn der Corona-Proteste beteiligen sich auch Christen an Demonstrationen von Querdenkern und anderen Populisten. Dabei merken sie oft nicht, dass sie von den Organisatoren häufig nur als Feigenblatt benutzt werden, zum Beispiel, wenn sie zu DDR-Zeiten Oppositionelle waren, wie der Journalist Arnd Henze in einem gerade erschienen Buch berichtet.

Angekündigt wird Christoph Wonneberger wie ein Popstar, bejubelt von den 20000 beim »Querdenken«-Protest am 7. November 2020 auf dem Leipziger Augustusplatz: »der Friedenspfarrer der Bewegung von 1989!« Dann greift der ehemalige Koordinator der Leipziger Friedensgebete und DDR-Bürgerrechtler nach dem Mikrofon – und verliert schon in den ersten Sätzen den Faden. Umständlich erzählt er von Freunden, die ihn beschworen hätten: »Geh doch ja nicht auf diese Nazidemo!« Auch er selber habe in seinem »Herzen Bedenken, mit wem ich alles zusammen bin«. Aber auch 1989 habe es »keine Zensur« gegeben – »sonst wäre es zu den großen Demonstrationen nicht gekommen.«

Der Pfarrer im Ruhestand hat einen Freund mitgebracht: den schwäbisch-pietistisch geprägten Liedermacher, langjährigen Friedensbewegung- und Stuttgart21-Aktivisten Thomas Felder. Den habe er vor vielen Jahren bei einer Blockade vor einem Atomwaffenlager kennengelernt. Auch Felder, der von Fans als »schwäbischer Bob Dylan« bezeichnete Mundartsänger, erzählt der Menge in Leipzig, wie ihn alle in seiner Familie gedrängt hätten: »Zu den Nazis gehst du nicht! Aber ich singe für alle Menschen, und einem Nazi ist die Fahne nicht in die Wiege gelegt worden. Man muss mit ihnen reden und sie zur Vernunft bringen.« Im Übrigen gebe es viel wichtigere Themen als das Virus. Deshalb widme er sein Lied über »Mutter Kugel« auch Fridays for Future. Da gibt es laute Buhrufe und Pfiffe aus der Menge. Als Wonneberger wieder übernimmt und hilflos vom Rechtsstaat über »Mehr Demokratie wagen«, Europa, Russland, der Wiedervereinigung von Süd- und Nordkorea bis zur Entmilitarisierung des Leipziger Flughafens mäandert, nimmt ihm der Moderator nach fast 20 quälenden Minuten mitten im Satz das Mikrofon aus der Hand. Das sächsisch-schwäbische Duo verlässt nahezu ohne Beifall die Bühne.

Krudes Bündnis

Der wirre, eher Mitleid erregende Auftritt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Christoph Wonneberger die Schlüsselperson für die kühl kalkulierenden Initiatoren der »Querdenker«-Versammlung am 7. November 2020 in Leipzig war. Denn deren erklärtes Ziel war offensichtlich: mit einer von den Behörden verbotenen Demonstration auf dem Leipziger Ring den Mythos der Friedlichen Revolution zu kapern – im Herbst 1989 hatten dort schließlich Tausende »Wir sind das Volk« skandiert und damit entscheidend zum Ende der DDR beigetragen. Mit dem »Friedenspfarrer von 1989« hatte das krude Bündnis auf dem Augustusplatz seine Ikone und einen prominenten Kronzeugen für den Anspruch, der legitime Erbe dieser Demokratiebewegung zu sein – wie in den Jahren zuvor schon Pegida und die AfD. Dieser Vereinnahmung hatten im Vorfeld der »Querdenken«-Demonstration am 7. November 2020 viele ehemalige Bürgerrechtler aus Leipzig widersprochen.

Wie in einem Brennglas zeigt sich in den Biografien von Christoph Wonneberger und Thomas Felder deshalb, dass sich eine christlich geprägte Anfälligkeit für den fehlenden Mindestabstand zu nach rechts offenen Protestbewegungen nicht nur in konservativ-evangelikalen, sondern auch in manchen linksliberalen kirchlichen Milieus findet.

Da ist zunächst das ganz große Herz für die vermeintlich Ausgegrenzten. So wie Jesus auch mit Zöllnern und Ehebrechern verkehrt hat, gilt in manchen Kreisen jede Abgrenzung gegenüber Vertretern extremer Positionen als Verrat an der universellen Liebe Gottes. In dieser Logik geraten dann evangelische Kirchentage und Katholikentage unter Rechtfertigungsdruck, wenn sie AfD-Politikern keine Bühne bieten wollen – aber auch Referenten, die es ablehnen, im kirchlichen Rahmen mit Wortführern der »Querdenker« wie Bodo Schiffmann oder Michael Ballweg einen »vorurteilsfreien Dialog auf Augenhöhe« zu führen. Im Ideal, grundsätzlich an das Gute im Menschen zu glauben, findet auf diese Weise das rechte Totschlagsnarrativ von der »Cancel Culture« sein Einfallstor in die kirchliche Mitte.

Die zweite Anfälligkeit ergibt sich aus einer gefühligen und inhaltsleeren Protest- und Widerstandsromantik. Hatten soziale Bewegungen des 20. Jahrhunderts oft hart um konkrete politische Forderungen gerungen, reicht heute schon ein diffuses Unbehagen, um die Systemfrage zu stellen. Dass man Gott mehr gehorchen soll als den Menschen, verkommt zur Plattitüde, die begrifflich auch den banalsten Protest als Gottesdienst adelt – das wohlige Gefühl von Märtyrertum und Verfolgung inbegriffen.

Texte historisch entkernt

Über „Jana aus Kassel“ wurde bundesweit gespottet, als sie sich auf der Bühne mit Sophie Scholl verglich. Dabei hat die religiöse Rechte prominente Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus wie Dietrich Bonhoeffer schon lange vor Corona für ihren Kulturkampf gegen die liberale Demokratie vereinnahmt – mit freundlicher Unterstützung liberaler Christen, die Bonhoeffers Texte historisch entkernt und zu zeitlos gültigen Kalenderblattweisheiten trivialisiert haben. Auf den im April 1945 hingerichteten Theologen berufen sich heute radikale Sektierer wie die Christen im Widerstand ebenso wie das sich bildungsbürgerlich gerierende Netzwerk „Christen stehen auf“.

Ein Beispiel von vielen: In der sächsischen Oberlausitz erschien im November 2020 ein offener Brief an den Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz, in dem von »totalitärer Machtausübung des Staates« die Rede ist: »Noch leben wir nicht in einer Zeit, in der ein aufrechter Christ sich für seine Überzeugung dem Schicksal eines Dietrich Bonhoeffer oder eines Kaplan Gerhard Hirschfelder ergeben muss. Aber wissen wir, wohin das noch führt?«

Zu diesem Zeitpunkt war die Intensivstation im Zittauer Klinikum schon am Limit, die Corona-Inzidenzwerte gehörten zu den höchsten in Deutschland. Die Unterzeichner sind angesehene Bürger der Region, von denen einige für ehrenamtliches Engagement in beiden großen Kirchen bekannt sind. Ein Nukleus der Initiative ist das örtliche Kammerorchester Collegium musicum, das zu dieser Jahreszeit in normalen Jahren für das Weihnachtskonzert in der großen Zittauer Johanneskirche proben würde. Die vermeintliche totalitäre Bedrohung konkretisiert sich im Brief allein in der Sorge, die Bischöfe würden auf staatlichen Druck alle Weihnachtsgottesdienste verbieten. Für Verbreitung und Publizität des Briefes sorgte vor allem die sächsische AfD. Deren kirchenpolitischer Sprecher, Jörg Kühne, nahm den Ball dankbar auf: »Mahnende Stimmen, die sich gegen die Einschränkung von Grundrechten wenden, gelten plötzlich als Rechtsradikale – und dennoch bleiben die Kirchen stumm.«

Das Mobilisierungspotenzial einer solche Stimmungsmache wurde in den Kirchenleitungen im Übrigen sehr ernst genommen. Denn auch wenn es sich nur um eine Minderheit in den Gemeinden handelt: Diese Gruppen suchen gezielt den Konflikt im öffentlichen Raum – ein Terrain, das die Mehrheit nicht nur wegen Corona ängstlich meidet.

Risikofreier Widerstand heroisch aufgeladen

Schon im Frühjahr 2020, als Präsenzgottesdienste tatsächlich bundesweit verboten waren, verstiegen sich manche Pfarrer und treue Kirchgänger zu der Behauptung, selbst das NS-Regime habe es nicht geschafft, die Bekennende Kirche am Gottesdienst zu hindern. Das Einverständnis der Kirchenleitungen mit den Kontaktbeschränkungen wurde als feige Komplizenschaft denunziert – gern mit einem Bonhoeffer-Zitat als ultimativer Waffe. Besonders beliebt wurde dessen berühmter Satz aus der Denkschrift von 1943, wonach die Dummheit gefährlicher sei als die Boshaftigkeit. Oder das Zitat aus einer Predigt vom 15. Januar 1933, mit dem auch Christen stehen auf ihren risikofreien »Widerstand« heroisch aufladen: »Die Furcht sitzt dem Menschen im Herzen. Sie höhlt ihn innerlich aus, bis er plötzlich widerstandslos und machtlos zusammenbricht.«

Ein zentrales Verbot von Weihnachtsgottesdiensten hätte diesem infamen Narrativ vermutlich großen Zulauf gegeben. Auch deshalb war es ein zwar von manchen kritisiertes, aber im Ergebnis kluges Vor- gehen fast aller Kirchenleitungen, diesmal keine Top-down-Entscheidung zu treffen, sondern die Abwägung den örtlichen Gemeinden zu überlassen. Konfrontiert mit der konkreten Verantwortung gab es am Ende nur sehr wenige Präsenzgottesdienste – und diese unter penibler Beachtung aller Hygieneregeln. Das Narrativ von den feigen Kirchenleitungen als willfährigen Erfüllungsgehilfen des »totalitären Staates« lief ins Leere.

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, wie toxisch Ende März die "Bitte" der Bund-Länder-Runde an die Kirchen war, auf Präsenzgottesdienste über die Osterfeiertage zu verzichten. Schon der Anschein, die Kirchenleitungen hätten sich davon beeinflussen lassen und Gottesdienste eingeschränkt, hätte das gut vorbereitete Narrativ von den staats- und merkelhörigen Kirchen gefüttert. Möglicherweise hätte es im Ergebnis nicht weniger, sondern mehr Präsenzgottesdienste gegeben - von Pfarrer:innen, die entweder selbst in den Gratis-Widerstandsmodus verfallen wären oder vermuteten Stimmungen in den Gemeinden nachgegeben hätten. Der Rückzieher der Kanzlerin hat deshalb auch die Kirchen vor einer Zerreißprobe bewahrt. Und Entscheidungen und Verantwortung blieben in den schon bewährten Händen demokratisch legitimierter Gemeindegremien.

Fehlender Mindestabstand, eine diffuse Protestromantik und die Trivialisierung historischer Widerstandserfahrungen fanden allerdings schon vor Corona bis in Teile des linksliberalen christlichen Milieus hinein Resonanz. Das Geschäftsmodell der Corona-Kundgebungen setzte deshalb geschickt darauf, mit dem Begriff des »Querdenkens« die Illusion maximaler Offenheit und Teilhabe zu wecken: die Inszenierung der Proteste als eine Art Kirchentag – nur eben in alle (und damit auch ganz rechte) Richtungen offen.

Kurzerhand in Gottesdienst umbenannt

So war es den Initiatoren ein Leichtes, eine von der Auflösung bedrohte Kundgebung Anfang November 2020 auf der Münchener Theresienwiese kurzerhand in einen Gottesdienst umzubenennen. Schon Wochen vorher hatte der frühere rheinische Pfarrer Jürgen Fliege bei einem »Querdenker«-Protest eine »Predigt« gehalten, die auf You- Tube inzwischen fast 200 000 Mal aufgerufen wurde. Demonstrativ und in bewusster Analogie zu historischen Bildern hängte sich der offensichtlich immer noch populäre frühere Fernsehmoderator ein Schild mit der Aufschrift »Ich bin ein Irrer« um den Hals: So werde man in Deutschland als »Querdenker« verunglimpft, klagte Fliege. Doch man habe nicht nur die Bergpredigt auf seiner Seite, sondern sei mit allen Heiligen und Märtyrern im Herzen verbunden – von Mahatma Gandhi über Nelson Mandela und Martin Luther King bis Rosa Luxemburg.

Diese die Opferrolle religiös veredelnde Rhetorik umschmeichelt eine Klientel, die die Öffnung gegenüber Verschwörungsmythen als Überwindung eigener und institutioneller Begrenztheiten erleben soll – als bruchlosen nächsten Schritt einer selbstbewussten christlichen »Querdenker«-Biografie. So wie Christoph Wonneberger immer wieder stolz daran erinnert, dass er bei der Stasi unter dem Decknamen »Provokateur« geführt wurde, ermutigt Jürgen Fliege Christinnen und Christen dazu, sich gegenüber ihren Kirchenleitungen selbst- bewusst als »Häretiker« zu fühlen.

Die in einem Jargon pseudomitfühlender Feindesliebe verpackte Legitimierung demokratiefeindlicher Ressentiments drückt dabei Überlegenheit aus und dürfte deshalb im bildungsbürgerlichen Milieu ungleich anschlussfähiger sein, als die aggressive Apokalyptik an den extremen kirchlichen Rändern.

Gegenüber diesem verführerischen Werben wirkte der Protest der großen Kirchen gegen den »Missbrauch der Religionsfreiheit« bei der Münchener Kundgebung eher hilflos. Denn das Grundgesetz schützt eben nicht nur den Gottes-, sondern auch den Götzendienst. Noch weniger reicht der formale Hinweis, Jürgen Fliege sei ja nicht mehr ordentlicher Pfarrer einer Landeskirche, aus. Auf YouTube spielen solche Formalien keine Rolle.

Strategisches Kalkül extremer Rechten

Wollen die Kirchen ihre Immunkräfte gegen verschwörungsideologische und demokratiefeindliche Anfälligkeiten stärken, werden sie der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht ausweichen können. Sonst überlasen sie die Deutungshoheit über die religiöse Begründung von Protest und Widerstand den Verächtern der liberalen Demokratie. Denn die Vereinnahmung und Überhöhung historischer Vorbilder des Widerstands ist ein strategisches Kalkül der extremen Rechten.

Schon im Juni 2019 behauptete der AfD-»Flügel« in seiner Broschüre »Unheilige Allianzen« eine doppelte historische Kontinuität. Die eine Linie beschreibe den Pakt der Kirchen mit den Mächtigen und dem Zeitgeist: von den Deutschen Christen in der NS-Zeit über den DDR-Kirchenbund im SED-Regime bis zur heutigen EKD und ihrer Komplizenschaft mit der »Merkel-Diktatur«.

Entsprechend gebe es eine zweite Linie von der Bekennenden Kirche und dem weltlichen Widerstand gegen Hitler über mutige Einzelne wie Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 in einer Protestaktion gegen das DDR-Regime selbst verbrannte, bis zu allen, die heute der »Merkel-Diktatur« widerstehen. Als die Broschüre erschien, wurde sie in kirchlichen Kreisen kaum beachtet. Ein Fehler: Denn sie beschreibt einen zentralen Aspekt der von Björn Höcke propagierten »180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik«.

Was fehlt, ist eine gelebte und streitbare Erinnerungskultur, die sich nicht nur der zynischen Vereinnahmung von rechts, sondern auch der gefühligen Trivialisierung und Nivellierung historischer Widerstandserfahrungen entgegenstellt.

Hier ist die evangelische Kirche besonders gefordert. Denn sie trägt zum einen das sperrige Erbe des Kirchenkampfes in der NS-Zeit, zum anderen war sie einer der wesentlichen Akteure der Friedlichen Revolution in der DDR. Was diese Erfahrungen für die Rolle von Christinnen und Christen in einem demokratischen Rechtsstaat bedeuten, muss nicht nur an Gedenktagen salbungsvoll beschworen, sondern im gesellschaftlichen Alltag immer wieder neu diskursiv erstritten werden. Sonst verkommt ein Dietrich Bonhoeffer zur frei verfügbaren Pop Ikone, und Kerzendemos auf dem Leipziger Ring werden zur inhaltsleeren Selbstheroisierung austauschbarer Protestziele. Die religiöse Rechte und ihre politischen Drahtzieher profitieren schon jetzt davon.

(Der Beitrag ist in großen Teilen jetzt im Band „Fehlender Mindestabstand – Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“ erschienen.

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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