Weiter, immer weiter

Über Pfingsten und den heiligen Geist in der Welt
Ausgießung des heiligen Geistes. Buchmalerei aus einem Antiphonar um 1504/05.
Foto: epd
Ausgießung des heiligen Geistes. Buchmalerei aus einem Antiphonar um 1504/05.

Geistesgegenwart passiert nicht in ferner Zukunft, sondern sie ist immer schon da. Das schreibt Jörg Lauster, Professor für Systematische Theologie in München, in seinem Artikel zu Pfingsten. Der heilige Geist ist für ihn die Kraft, die in der Geschichte unermüdlich und unübersehbar zum Guten wirkt.

Am Allerheiligentage 1755 erschütterte ein schweres Erdbeben Lissabon. Zunächst verwüstete ein Tsunami und dann ein Feuersturm die Stadt. Tausende Menschen kamen um. In den Tagen nach dem Erdbeben lamentierten die Prediger wortgewaltig, erklärten das Unheil als Strafe Gottes und mahnten zu stiller Buße. Der Premierminister Portugals, der Marquês de Pombal, rief zu Tatkraft auf, organisierte die Aufräumarbeiten, die Versorgung der Verletzten und die Verteilung von Lebensmitteln. Man muss nicht lange nachdenken. Wenn der Geist Gottes in jenen denkwürdigen Novembertagen in Lissabon gegenwärtig war, dann wehte er in dem aufgeklärten Politiker.

Die Gegenwart Gottes in der Welt ist die tragende Überzeugung des Chris-tentums. „Gott ist Geist“ sagt Jesus im Johannesevangelium (Johannes 4,24). Das frühe Christentum übernahm die alttestamentlichen Vorstellungen, dass Gott sich als Geist in vielfacher Weise zeigt, als Wind, als belebendes Prinzip, als inspirierende Kraft. Die frühen Christen sahen all die Kräfte der Geistesgegenwart in der Person Jesus Christus zusammenfließen, und – das ist das Spektakuläre am frühen Christentum – sie sahen die Kraft des Geistes, der in Jesus Christus wirkte, auf sie selbst übergehen. Geistesgegenwart ist nichts, was in ferner Zukunft passiert, sie ist immer schon da. In dem Wunder von Pfingsten erzählt Lukas in der Apostelgeschichte die schönste und berühmteste Geschichte des Christentums von dieser Gegenwart des heiligen Geistes in der Welt.

Die göttliche Präsenz ist kein Selbstzweck. Gott erscheint nicht in der Welt, um einfach nur wie ein absolutistischer Herrscher seine Worte verlautbaren zu lassen, er erscheint, um etwas zu tun. Die Dogmatik spricht von der soteriologischen Dimension der Offenbarung und will damit sagen: Mit der Gegenwart des göttlichen Geistes zeigt sich eine Kraft, die mit dieser Welt Gutes will und sie auf dieses Gute hinbewegt. Diese Gegenwart des heiligen Geistes ist erfahrbar in Menschen, in der Natur und auch in der Geschichte. Gewiss, sie liegt nicht so offensichtlich zutage, dass sie über allen Zweifel erhaben wäre. Noch sind wir Glaubende, nicht Schauende, sagt Paulus. Doch ist die christliche Tradition unfassbar reich an Erfahrungen, an Ideen, an Bildern, die von dieser Kraft der Gegenwart des Geistes erzählen. Mit ihrer Hilfe lassen sich immerhin Gründe und Argumente dafür anführen, dass es nicht ganz und gar unplausibel ist, vom Wehen des heiligen Geistes in dieser Welt zu sprechen.

Am schwierigsten erscheint heute die Aufgabe auf dem Feld der Geschichte. Aus der Zeit scheint gefallen zu sein, wer von Gottes Geist als einer Kraft spricht, die die Geschichte bewegt, ja, die Geschichte zum Guten bewegt. Der populäre und akademisch geweihte Geschichtspessimismus unseres Zeitalters kann damit nichts anfangen.

Die Lektüre von Klassikern hat viele Vorteile, sie bildet, sie unterhält und im günstigsten Fall befreit sie auch von der Kleinheit der eigenen Gedanken – deswegen sind es eben Klassiker. Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sind die bedeutendsten Philosophen Deutschlands. Sie haben sich zu der Frage, ob es in der Geschichte eine Kraft zum Guten gibt, kluge Gedanken gemacht. Dem Pessimismus unserer Tage stehen sie um nichts nach. Geradezu mit Verachtung kann Kant von der großen Weltbühne sprechen, auf der Menschen mit Torheit, Eitelkeit und Bosheit sinnlos herumtoben. Hegel sieht in der Geschichte nichts anderes als eine „Trümmermasse“ und eine „Schlachtbank“, auf der das Glück der Menschen geopfert wird. Beide – und das ist der große Unterschied – bleiben jedoch dabei nicht stehen.

Kant adelt die Menschen durch eine innere Stimme der Vernunft. In ihr erhebt sich der Anspruch, sich im Tun und Handeln nicht der Bosheit und Sinnlosigkeit zu ergeben. Kant ist vorsichtig. Redlicherweise räumt er ein, dass wir nicht mit Gewissheit sagen können, wohin uns diese Stimme führt. Ob es einen Plan in der Geschichte gibt, können wir nicht wissen, aber die Stimme der Vernunft ermutigt uns, so zu leben, als ob es diesen Plan gäbe.

Richtung und Verbesserung

Hegel geht noch weiter. Für ihn ist dieser Plan mit der Kraft des Denkens zu begreifen. Solange Menschen denken, können sie die Frage nach dem Sinn der Geschichte nicht abdrängen. Hegel sah in der Geschichte mehr als nur das Fließen der Zeit und die endlose Wiederkehr von Werden und Vergehen. Darin folgte er jüdischen und christlichen Vorstellungen von einem zielgerichteten Verlauf. Das menschliche Bewusstsein ist der Erscheinungsort eines höheren Geistes, durch den Menschen erkennen, was das Große und Ganze bedeutet. Hegel sieht im Fluss der Geschichte eine Richtung, eine Steigerung, eine Verbesserung.

In der Theologie hat Paul Tillich mit einem schönen Gedanken diese Idee fortgeführt. Er spricht von der Geschichte als Prozess der „Anreicherung“, der den Beitrag der Individuen stark aufwertet. Geschichte – das ist für Hegel Fortschritt und Versöhnung. Denn die Idee, die Geschichte als Entfaltung des göttlichen Geistes in Menschen zu begreifen, schließt ein, dass sich der göttliche Geist in dieser Geschichte als eine Kraft zum Guten zeigt, die das Böse überwindet.

Hegel war alles andere als ein platter Optimist. Den Widersinn der Geschichte sah er klar. Aber unermüdlich betonte er auch, wie bequem, wie einfach, ja wie intellektuell feige es ist, sich dem Gejammer über die Sinnlosigkeit der Geschichte auszuliefern. Mit der ewigen Larmoyanz des Geschichtspessimismus geht er hart ins Gericht. In seiner Geschichtsphilosophie ist Hegel ein Widerstandskämpfer gegen das Böse und Sinnlose in der Geschichte. Seine Waffe des Widerstands ist das Denken.

In Zeiten, in denen man nicht reisen darf, ist die Beschäftigung mit Kant und Hegel wie ein Tag Urlaub, Urlaub auch von unseren eigenen Debatten, die wir in Kirche und Theologie tagein, tagaus führen. Es gibt, so lehrt das Gespräch mit Kant und Hegel, auch für uns heute gute Gründe, an das Wirken des göttlichen Geistes in der Geschichte zu glauben. Der heilige Geist weht, und er weht auch in unserer Zeit.

Mit der Kirchendepression unserer Tage scheint das nicht zusammenzupassen. Alle Konfessionen befinden sich in Westeuropa spätestens seit dem 19. Jahrhundert auf einem mehr oder weniger geordneten Rückzug aus ihrer öffentlichen Bedeutung. Wo die Errungenschaften der Moderne wachsen, die ja vor allem auch immer Freiheitsgewinne sind, geht es scheinbar mit der Kirche bergab. Die Geschichte von der Säkularisierung – jedenfalls in ihrer einfachsten Variante – erzählt dies so.

Die These ist zu schlicht. Sie reduziert die großartige Botschaft des Christentums auf Erfolg und Misserfolg einer Gemeinschaft, die nach den Regeln des Vereinsrechts des 19. Jahrhunderts organisiert ist. Die Kirchen sind gegenwärtig sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihren hausgemachten Skandalen und Austrittszahlen in Völkerwanderungsgrößen. Selbstverständlich ist es aller Ehren wert, dass sich die Verantwortlichen Gedanken machen. Wer jedoch immer nur an seinen eigenen Untergang denkt und darüber spricht, beschwört ihn auch herauf. Sehr geringe Nachwuchszahlen in den kirchlichen Berufen, hohe Austrittszahlen – wer will schon auf einem Schiff anheuern oder auch nur bleiben, dessen Offiziere ständig klagen, sie seien auf der Titanic?

Zweierlei ist bei den unzähligen Strukturdebatten zu bedenken. Absprachen zur Organisation sind unerlässlich, aber mit Vorsicht zu gebrauchen. Für Menschen, die für die Kirche arbeiten, ist jede Gremienminute eine verlorene Minute. Es raubt ihnen Zeit, ihre eigentliche Arbeit an und mit den Menschen zu tun. Zudem wüsste man doch einmal gerne, was eigentlich die große Vision von Kirche ist, auf die es in all diesen Reformrunden hinauslaufen soll. Was ist das vermeintlich goldene Zeitalter, dessen Glanz man verloren zu haben glaubt? Ist es das Genf Calvins mit umfassender Religionskontrolle oder das Rom Pius IX. mit politischer Unterdrückung? Oder ist es am Ende doch einfach nur das satte Geld üppiger Kirchensteuern?

Es zählt zu den Grundfesten des Protestantismus, dass die Gestalt der Kirche wandelbar ist. Nichts kann, nichts muss bleiben, wie es war. Der heilige Geist ist die Kraft, die den Wandel in der Geschichte vorantreibt. Er wirkt in den Mauern der Kirchen, er wirkt aber auch aus diesen Mauern heraus in Kultur und Geschichte. Der als Säkularisierung beschriebene Rückzug der Kirchen aus Politik und Gesellschaft ist darum nicht ein Verlust, sondern ein Gewinn an Geist. Der Geist zieht hinein in die Welt. Es geht nicht um „Entweltlichung“, sondern um „Einweltlichung.“

Langsam, aber beharrlich

Die Theologie des 19. Jahrhunderts war mutiger im Nachdenken darüber, was das bedeutet. Der Heidelberger Theologieprofessor und badische Oberkirchenrat Richard Rothe konnte frank und frei sagen, dass für die Realisierung des Reiches Gottes die Erfindung der Eisenbahn mehr bewirkt hat als die Dogmen von Nizäa und Chalcedon. Er hatte recht. Denn das Reich Gottes verdankt sich der Wirkkraft des heiligen Geistes, die diese Welt langsam, aber beharrlich zum Guten hinzieht. Rothe hielt darin die Überzeugung fest, dass sich die christlichen Ideale in der Moderne nicht mehr allein innerhalb der Kirche, sondern in Kultur und Gesellschaft verwirklichen.

Die Einschätzung, dass es der modernen Gesellschaft besser als Rom, Wittenberg und Genf zusammen gelingt, die Ideale des Christentums zu verwirklichen, klingt spektakulär. Sie ist darum nicht falsch. Tatsächlich realisiert die vermeintlich säkularisierte westliche Moderne christliche Werte in einem Ausmaß, von dem das vermeintlich so christliche Mittelalter nur hätte träumen können. Es dürfte keine Epoche geben, die mehr an Aufwertung des Individuums, an Achtung der Person, an Versuchen, Gleichheit und Solidarität zu verwirklichen, umgesetzt hat, als die westliche Moderne. Denn die Moderne ist nur dann unchristlicher als frühere Epochen, wenn man Christlichkeit mit Kirchlichkeit identifiziert.

Der göttliche Geist treibt jedoch das Christentum über seine ausschließliche Fixierung auf die Gestalt der Kirche hinaus. Es gibt genug Anlass für Christinnen und Christen, sich darüber zu freuen. Unseren Debatten täte mehr Phantasie gut, das Christliche nicht nur immerfort als Rechtgläubigkeit und Kirchenmitgliedschaft zu denken. Das Motto ist einfach: Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.

Gewiss, es wäre naiv, sich an der Moderne als Siegeszug des Fortschritts zu berauschen. Dann wäre man mental im 19. Jahrhundert stehen geblieben und würde ihre unfassbaren Schrecken verdrängen. Es wäre aber auch kleingläubig, die Augen vor den Zeichen des Geistes in unserer Welt zu verschließen. Diese Zeichen kommen heute nicht mehr daher wie die großen Programme zur Weltverbesserung – das ist die Last der Schrecken des 20. Jahrhunderts, an der wir tragen.

Kleinere Zeichen müssen nicht die schlechteren sein. Der Geist wirkt in dem Mut und in der Hoffnung von Menschen. Die Hoffnung zum Guten ist die größte Widerstandskraft, die der göttliche Geist gegen das Böse verleiht. Aus der Hoffnung folgen Taten, zusammen werden sie zu Zeichen der Gegenwart des Geistes. Die Idee der Präsenz des göttlichen Geistes lässt von der Geschichte ahnen, dass mit ihr allem Sinnlosen zum Trotz etwas gemeint ist. Die Annahme einer göttlichen Gegenwart in der Geschichte lenkt den Blick auf die Menschen, durch die der Geist in der Geschichte aufscheint. Es sind nicht die Helden der Fotos und Kameras, es sind die Helden des Alltags, und dort ist auch der Platz der Kirche.

Albert Camus’ Roman Die Pest ist in unseren Zeiten vom angestaubten Klassiker zum Buch der Stunde aufgestiegen. Camus beschreibt darin, wie unterschiedlich die Menschen in einer fiktiven Stadt mit dem Ausbruch der Pest umgehen. Am Ende zieht er das schlichte Fazit, „dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt“. Damit ist darüber, wie man sich die Gegenwart des Geistes in Menschen und in der Geschichte denken kann, nicht wenig gesagt.

Man kann – der heilige Geist hätte vermutlich nichts dagegen – die Kraft, mit der der Geist in der Geschichte unermüdlich und auch unübersehbar zum Guten hinwirkt, anstatt mit den Worten eines Literaturnobelpreisträgers auch mit denen eines Fußballtorwarts beschreiben. Dann heißt Pfingsten: „Niemals aufgeben, weiter, immer weiter.“

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