Normal digital

Medienethik im Diskurs

Die Digitalisierung erlebt in der aktuellen Covid-19-Pandemie einen regelrechten Boom: Von heute auf morgen ist Digitalität gelebte Normalität für Homeschooling, Kommunikation, Hobbys und Kulturerleben. Mit voller Wucht kommt der digitale Wandel auch in der kirchlichen Praxis an: Livestream-Gottesdienste, Seelsorge-Chats oder sogenannte christliche Sinnfluencer auf Instagram, YouTube, Snapchat, TikTok und Co. haben Hochkonjunktur. Kreativ und mit viel Engagement stellen Kirchengemeinden, Pfarrerinnen und Pfarrer ihre medialen und digitalen Kompetenzen unter Beweis. Es könnte keinen besseren Zeitpunkt geben, um das sich verändernde Medienverhalten theologischerseits genauer unter die Lupe zu nehmen und einen Debattenbeitrag zur Medienethik zu veröffentlichen.

Im Sammelband Theologische Medienethik im digitalen Zeitalter, der im Rahmen des DFG-Heisenbergprojektes „Ethik der Macht im digitalen Zeitalter“ entstand, haben Gotlind Ulshöfer und Monika Wilhelm zu diesem Zweck insgesamt 21 Aufsätze von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Disziplinen und Denominationen aus Deutschland, der Schweiz, Südafrika, Großbritannien und Neuseeland zusammengetragen.

In vier Hauptteilen wird der digitale Medienwandel theologisch-ethisch reflektiert. Grundlegende medienethische Verankerungen und theologische Deutungstraditionen angesichts der Digitalisierung diskutieren die Beiträge im ersten Teil. Für das Gesamtgefüge des Sammelbandes ist hier insbesondere Dion Forsters Verortung der digitalen Medienethik im Diskurs der Öffentlichen Theologie bemerkenswert.

Im zweiten Teil werden die traditionellen Reflexionsobjekte der Medienethik: Journalismus, Printmedien, Rundfunk, Film und Werbung angesichts des sich vollziehenden Medienstrukturwandels untersucht. Keine Erwähnungen finden in diesem Zusammenhang aktuelle mediale Phänomene wie private Nachrichtenkanäle bei Messengerdiensten oder die strukturelle Entwicklung hin zur videobasierten Echtzeit-Berichterstattung. Immerhin erweitern Roland Rosenstock und Ines Sura das Feld, wenn sie Aspekte der Game Studies religionspädagogisch fruchtbar machen. Ausgewählte Themenfelder wie „digital divide, fake news und digital surveillance“ werden im dritten Teil theologisch gedeutet und konzeptionell erarbeitet. Die binnentheologischen Deutungsangebote hierzu, wie beispielsweise Peter Kirchschlägers an Menschenrechten ausgerichtetes omni-dynamisches Gerechtigkeitsmodell oder Eric Stoddarts kreuzestheologische Interpretation von Überwachung, sind mal mehr oder weniger überzeugend. Kirchliche, diakonische und gesellschaftliche Anwendungsperspektiven kommen schließlich im vierten Teil in den Blick und beleuchten insbesondere die Schnittstellen kommunikations-, technik- und informationsethischer Fragestellungen.

Der Sammelband gewährt insgesamt einen grundlegenden Überblick über aktuelle medienethische Themenfelder. Die Diskursoffenheit und Pluralität der Beiträge machen deutlich, dass Digitalisierung die klassische medienethische Betrachtung übersteigt. Infolgedessen ist die bereichsethische Perspektive hinsichtlich der thematischen Überschneidungsmengen von politischen, wirtschaftlichen, technischen und sozialen Fragestellungen aufzufächern. Mit ihrem Vorschlag zur Entwicklung von „networked diaconic studies“ als Forschungsfeld, um Digitalisierungsfragen in ihrer Polydimensionalität wahrnehmen zu können, greift Gotlind Ulshöfer im letzten Beitrag dieses dem Sammelband zugrundeliegende Anliegen auf, wenn sie die relevante Debatte anregt, wie Digitalisierung in der Theologie verhandelt werden kann – jetzt, da digital normal ist.

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Foto: privat

Hannah Bleher

Hannah Bleher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Bonn.


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