Demokratie und „christlicher Realismus“

Zum fünfzigsten Todestag des wirkmächtigen Theologen Reinhold Niebuhr (1892 – 1971)
Reinhold Niebuhr (1892 – 1971)
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Reinhold Niebuhr (1892 – 1971)

Der US-amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr, dessen Todestag sich zum fünfzigsten Mal jährt, war Berater gleich mehrerer amerikanischer Politiker, unter anderem während des Zweiten Weltkriegs. Noch im Zusammenhang mit dem Terroranschlag von 9/11 vor zwanzig Jahren wurden seine Thesen diskutiert. Der Theologe Michael Plathow erinnert an einen einflussreichen Demokratietheoretiker.

Der heute noch bekannteste Text Reinhold Niebuhrs ist das „Serenity“ – oder Gelassenheits-Gebet, das er im Städtchen Heath, Massachusetts, 1934 verfasste, wo der Theologe ein Sommerhaus besaß: „Gott. Gib uns die Gnade, mit Gelassenheit anzunehmen, was nicht zu verändern ist, den Mut, zu ändern, was verändert werden sollte, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“

Gerade an dieses Gedicht der Mahnung zur Gelassenheit ist in diesen Krisenzeiten zu erinnern, da ökonomische und ökologische multipolare Spannungen und Demokratieverdrossenheit zu viel Kritik einladen: Kritik an realen Diskrepanzen von Freiheit und Gerechtigkeit, Kritik schließlich an utopischen Ideen von Freiheit und Gerechtigkeit. Demgegenüber stellt Niebuhr, dessen Todestag sich nun zum fünfzigsten Mal jährt, den politischen Realismus – und er vertieft ihn zu einem „christlichem Realismus“ als Begründung und Verantwortung für die freiheitliche Demokratie.

Als öffentlicher Theologe war Reinhold Niebuhr, der trotz seines sehr deutsch klingenden Namens ein US-Amerikaner reinsten Wassers war, Berater gleich mehrerer amerikanischer Politiker, und zwar häufig in Krisenzeiten, nämlich vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem nationalen Schock des islamistischen Terroranschlags von 9/11, der sich bald zum 20. Mal jährt, beriefen sich Politiker der Demokratischen Partei – aber nicht nur – wie Jimmy Carter, Madeleine Albright, Hillary Clinton und andere auf ihn.

Vor allem Barack Obamas Nobelpreis-Rede vom 10. Dezember 2009 und sein Interview in The New York Times vom April 2007 würdigten Niebuhr und fanden breite Aufmerksamkeit. Obama charakterisierte ihn als „einen meiner Lieblings-Philosophen“; er sagte: „Ich ziehe den zwingenden Schluss: Es gibt in der Welt schreckliches Übel, Not und Leid. Wir sollten demütig und bescheiden sein zu meinen, wir könnten all dies beseitigen. Aber wir dürfen dies nicht als Entschuldigung nehmen für Zynismus und Untätigsein. Ich bin überzeugt: Wir müssen Anstrengungen dagegen unternehmen, selbst wenn sie gewaltig sind, nicht aber von naivem Idealismus umschwenken in knallharten Realismus.“

Auch in Deutschland hinterließ Niebuhr als christlicher, politischer Denker viele Spuren. Erinnert sei etwa an Willy Brandts Rede zum „Reinhold Niebuhr Award“ im September 1972. Auch seine Tochter Elisabeth Sifton, gestorben am 13. Dezember 2019, und ihr Ehemann, der Historiker Fritz Stern, würdigten Niebuhr in dem 2013 hierzulande veröffentlichten Buch Keine gewöhnlichen Männer. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im Widerstand gegen Hitler als Theologen internationaler Politik.

Wie ist diese erstaunliche Wirkung Niebuhrs, geboren 1892 in Wright City, Missouri, in der Politik zu erklären? Vielleicht, weil er sich schon früh stark für Politik und die gesellschaftliche Situation interessierte – und sie aus christlicher Perspektive interpretierte. Schon als junger Pastor übte Niebuhr in Detroit scharfe Kritik an der sozialen Situation der Fließbandarbeiter bei Henry Ford. Damals verstand er sich als religiöser Sozialist und Pazifist.

Das änderte sich nach dem Kollaps der Wirtschaftskrise von 1929 und der folgenden Depression durch die ersten wirtschaftlichen und sozialen Verbesserungen aufgrund von Franklin D. Roosevelts „New Deal“-Reformen. Niebuhr, ab 1928 Professor am Union Theological Seminary und an der Columbia University in New York, wurde in diesen Jahrzehnten ein kämpferischer Vordenker des politischen und „christlichen Realismus“. In der kompromisslosen Ablehnung nationalsozialistischer Diktatur einerseits und kommunistischer Tyrannei andererseits, so Niebuhr, muss sich die demokratische Staatsform, die die Freiheit des anderen als Grenze eigener Freiheit anerkennt, bewähren.

Für den Krieg

Gegen politische Neutralität und kirchlichen Pazifismus stritt Niebuhr für die militärische Intervention der USA gegen Nazi-Deutschland. Zugleich lehnte er den Einsatz der Atombombe auf Japan strikt ab. Emigranten vor dem Nazi-Regime (unter anderem Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer) half er bei der Integration. Nach der Befreiung Deutschlands unterstützte er die transatlantischen Hilfsmaßnahmen für die leidende Bevölkerung.

Zugleich arbeitete Niebuhr für eine freiheitlich-demokratische Neuordnung vor allem im Schul- und Bildungswesen. Dazu bereiste er im Zusammenhang des „Allied Religious Affairs Committee“ im Spätsommer 1946 verschiedene deutsche Universitätsstädte und traf Kirchenvertreter des „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“. Im völlig zerstörten Berlin besuchte er Ende August die Eltern seines von den Nazis ermordeten Schülers und Kollegen Dietrich Bonhoeffer.

Niebuhr war der erste, der Bonhoeffer als Märtyrer bezeichnete. Mit ihm hatte er sich ausgetauscht über die politische Situation in Nazi-Deutschland und die Ökumenische Bewegung. Bei der Weltkonferenz für „Kirche und Gesellschaft“ in Oxford 1937 wirkte Niebuhr mit. Bei der I. Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam mit dem Thema „Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsordnung“ hielt Karl Barth den Hauptvortrag zu „Gottes Heilsordnung und die Unordnung der Welt“. Niebuhr sprach zu „Das christliche Zeugnis für die Ordnung der Gesellschaft und des nationalen Lebens“.

Die anschließende Diskussion auf dieser Tagung zeigte – bei wechselseitigem Respekt – den Unterschied zwischen Barths Offenbarungstheologie und Niebuhrs pragmatisch ausgerichteter Sozialethik. Niebuhr ging es um eine handlungsorientierte Verantwortung. So ist auch sein Widerspruch gegen die Rassentrennung in den USA zu verstehen, seine Unterstützung von Martin Luther Kings Protestmarsch von Selma nach Montgomery 1965 und die Kritik am Vietnamkrieg.

Welchen Hintergrund hatte Niebuhrs Denken? Die Zuordnung von politischem Realismus und „christlichem Realismus“ explizierte der Theologe in seinen Hauptschriften, zu denen Moral Man and Immoral Society (1931), seine Gifford Lectures von 1939 in Edinburgh und sein Werk The Nature and Destiny of Man (1941/43) gehören. Die anthropologischen Voraussetzungen für seine Theorien und für seine „Begründung der Demokratie und Kritik an ihrer traditionellen Verteidigung“ finden sich in seinem Werk The Children of Light and the Children of Darkness (1944). Seine Gesellschaftskritik arbeitet er in The Irony of American History (1952) aus.

Der damalige politische Realismus, hoch gehalten etwa von Henry Morgen-thau, John C. Bennett und Henry Kissinger, grenzte sich Niebuhr zufolge gegen den optimistischen Liberalismus einerseits und gegen den ideologischen Totalitarismus andererseits ab, aber auch gegen die kapitalistische Konsum- und Fortschritts-idee einerseits wie andererseits gegen die marxistische Gesellschaftsutopie. Dieser Realismus konstatiert mit dem menschlichen Egoismus den Willen zur Macht, der sich in den Willen zur Gewalt korrumpieren kann – in persönlichen, gesellschaftlichen und internationalen Beziehungen. Dieser Hybris müsse, so Niebuhr, Grenzen gesetzt werden durch legalisierte, mit Durchsetzungskraft ausgestattete Institutionen, die Interessenausgleich und Kräftegleichgewicht (balance of power) für mehr Friede und Gerechtigkeit schaffen.

„Kohärent“ und „inkohärent“, wie Niebuhr sagt, sind der politische und „christliche Realismus“ aufeinander bezogen. Mit der „Theologie der Krise“ bezeugte er in reformatorischer Tradition und in der Nachfolge Sören Kierkegaards die Wirklichkeit Gottes und die Realität der Sünde. Der Mensch ist auf Transzendenz ausgerichtet. „Gottes Bedürfen ist des Menschen Vollkommenheit“, wie Kierkegaard in den „Geistlichen Reden“ (1844) sagt.

Gabe der Freiheit

Zugleich aber zeigen sich, so Niebuhr, mit der Gabe der Freiheit – also beim Versuch, Selbst sein zu wollen oder nicht Selbst sein zu wollen – die Ambivalenz von Wollen und Vollbringen (Römer 7,18f), der Egoismus und die Hybris (Genesis 3,5;8,21) als unvermeidliche Sünde. Schuldigwerden als Ungerechtigkeit und Unfrieden sind die Folge. Die Rechtfertigung durch Gottes hingebende Liebe im „Drama des Kreuzes“ schenkt Vergebung und ruft – entsprechend reformierter Tradition auch widerständig – die Glaubenden in die Verantwortung für mehr Gerechtigkeit nach dem Gebot uneigennütziger Liebe. Gesellschaftliche Gerechtigkeit realisiert sich nur in Widerspruch und Annäherung an das Liebesgebot. So sieht Niebuhr zufolge die christliche Perspektive im Blick auf Gottes Vollendung durch Gericht und Gnade aus.

In diese „kohärente“ und „inkohärente“ Beziehung von politischem und „christlichem Realismus“ implantiert Niebuhr seine Begründung einer kraftvollen Demokratie. Nicht im guten Willen rationaler Vernunft, auf die etwa die Aufklärungsphilosophen John Locke und Jean-Jacques Rousseau hofften, sondern vielmehr im augustinisch-reformatorischen Menschenverständnis erfährt demokratisches Zusammenleben Niebuhr zufolge seine Voraussetzung: der Mensch, mit Freiheit begabt, verstrickt in Sünde durch die Ambivalenz menschlichen Entscheidens und Machens. Er ist zwar durch Gottes Gnade gerechtfertigt, bleibt aber verantwortlich für eine bessere Gerechtigkeit. „Des Menschen Anlage zur Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, aber des Menschen Neigung zur Ungerechtigkeit macht Demokratie notwendig“, wie Niebuhr in dem Buch Die Kinder des Lichts und Kinder der Finsternis im Jahre 1947 schreibt.

Kritisch und kämpferisch wendet sich in der Theorie Niebuhrs die plurale Demokratie gegen eine kritikfreie Uniformierung und eine rechtsfreie Monopolisierung, eben gegen Unfreiheit und Machtmissbrauch. Gewaltenteilung, Minderheitenschutz, Mediatisierung, Konsens- und Kompromissbildung schaffen im demokratischen Prozess von Freiheit und Ordnung durch einen Interessen- und Machtausgleich eine immerhin relative Gerechtigkeit. Demokratische Entscheidungen sind fragmentarisch und komparativisch, meint Niebuhr. Demokratie erweist sich aber als eine realistische Methode, um eine Lösung zu finden für komplexe Probleme. „Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, abgesehen von all denen, die sonst versucht wurden“ – so sieht es der Theologe in Anlehnung an den Winston Churchill zugeschriebenen bekannten Satz. Zugleich, so betont Niebuhr, gebe das demokratische Leben Anteil und führe hinein in eine engagierte Verantwortung für die freiheitliche Demokratie.

Als „kohärent“ und „inkohärent“ erweist sich in Niebuhrs Denken schließlich das Verhältnis von Christentum und Demokratie, von christlichem Glauben und Verantwortung in und für demokratische Prozesse. Kritisch und konstruktiv, so soll die Haltung und die Einstellung des Christentums zur Demokratie sein mit prophetischer Kraft, die aber auf politische Verantwortung zielen soll, wie Niebuhr in seinem Gedankengebäude des „christlichen Realismus“ analysiert.

Niebuhr versteht Demokratie als „Angebot und Aufgabe“, wie es auch die EKD-Denkschriften „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ (1985) und das EKD-Impulspapier „Konsens und Konflikt“ (2017) durchaus in Anlehnung an Niebuhr feststellen. Christen sind zur Kritik herausgefordert durch die Gleichgültigkeit und Selbstgenügsamkeit vieler Bürger. Sie sind in der gedanklichen Nachfolge Niebuhrs widerständig gegen populistische Hetze und nationale Hybris. Sie wenden sich gegen die direkte oder indirekte Zerstörung der Rechtsordnung, auch gegen einen entgrenzten Fortschritts- und Machbarkeitswahn – kurz: Christen engagieren sich für eine bessere Gerechtigkeit in einer freiheitlichen und wehrhaften Demokratie.

Es geht letztlich, folgt man Niebuhr, um die „Würde des Menschen“ des auf den Grund- und Menschenrechten des Grundgesetzes gründenden Staates „in Verantwortung vor Gott“. Aktuell formuliert das der EKD-Text „Demokratie, Bildung und Religion. Gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit mitgestalten“ (2020) in der zweiten Schlussthese so: „Setz Dich ein für unsere Demokratie, konkret, klug, praktisch, im Vertrauen darauf, dass der Rest Gottes Sache ist.“ Das Christ- und Kirchesein weiß im Privaten und Politischen – so erklärte Niebuhr im Blick auf Gottes alles vollendendes Gericht – um Versöhnung und Vergebung, um Demut und Gelassenheit, eben um „serenity“. 

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