Himmlische Mathematik

Sonntagspredigt
Foto: privat

Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat in Schwetzingen.

Ins Herz gelegt

2. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juni

Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet. Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn …Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. Ich möchte, dass ihr alle in Zungen reden könnt; aber noch viel mehr, dass ihr prophetisch redet. (1. Korinther 14,1–5)

Religion ist auf Sprache angewiesen. Das spüre ich, wenn mich ihre Worte ins Mark treffen, wenn sie mir unter die Haut oder ins Herz gehen. Ich spüre es aber auch, wenn ihre Worte in mir nichts zum Schwingen bringen. Denn dann wird Religion zu einer Fremdsprache, die ich anscheinend nicht beherrsche. Paulus unterscheidet mindestens zwei Sprachtypen: Benutze ich eine, bleibe ich mit mir und meinem Gottesglauben allein und erbaue nur mich selber. Mit dem anderen Sprachtyp gelingt es mir dagegen, mit Gott und mit meinen Mitmenschen gleichermaßen in Kommunikation zu kommen.

Dass Paulus eine Form des geistlichen Redens als „prophetisch“ charakterisiert, finde ich überraschend und erfreulich. Denn diese prophetische Rede wäre dann nicht eine, die nur einzelnen großen Propheten der Vergangenheit, von denen das Alte Testament erzählt, zur Verfügung stand und die wir heute entbehren müssten. Wenn sich die prophetische Rede, die Paulus meint, dadurch auszeichnet, dass sie Menschen erbaut, ermahnt und tröstet, ist sie als Redeweise uns allen ans Herz gelegt. Fast möchte ich auch in dieser Hinsicht vom Priesterinnen- und Priestertum aller Getauften sprechen. Und das ist nicht nur gut protestantisch, sondern zugleich gut ökumenisch. Schließlich reicht es ja nicht aus, wenn wir nur in unserer Kirche verstanden werden. Prophetische Rede, besser vielleicht Kommunikation im Kraftfeld des Heiligen Geistes, ist auch denen möglich, denen die Gabe der Zungenrede nicht so zur Verfügung steht wie den Angehörigen der frühen christlichen Gemeinden und heutiger Pfingstkirchen. Hämische Überheblichkeit ihnen gegenüber ist fehl am Platz. Schließlich sind Bewegungen und Kirchen charismatischer Prägung, die die Zungenrede pflegen, in unseren Breiten zwar klein, wachsen aber weltweit dynamisch.

Ich muss die Zungenrede nicht lernen. Ich bin schon froh, wenn ich Gelegenheit habe, mich in der prophetischen Sprache zu üben.

Nicht wie bei uns

3. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni

Es nahten sich ihm (Jesus) aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis … So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
(Lukas 15,1–2+7)

Über diese himmlische Mathematik habe ich mich schon immer gewundert. Neunundneunzig Gerechte – und nur einer fällt aus der Rolle. Dieses Verhältnis war schon zu Jesu Lebzeiten unrealistisch. Denn eigentlich herrschte doch immer ein theologischer Grundkonsens darüber, dass wir alle der Buße bedürfen.

Aber genau hierin liegt der Reiz des Gleichnisses Jesu „vom verlorenen Schaf“, dem die obige Aussage Jesu entnommen ist. Denn die Ökonomie Gottes besteht aus anderen Grundrechenarten als die, die wir kennen. Das eine Mal gleiche ich dem Schaf, das wiedergefunden wird. Das andere Mal gehöre ich zu den neunundneunzig Gerechten. Aber wenn ich Martin Luther recht verstanden habe, bin ich ohnedies immer beides, verirrt und verloren – und immer auch gefunden.

So betrachtet müsste es im Himmel ein Fest ohne Ende geben, weil die Freude über das Wiederauffinden des verlorenen Schafes schließlich auf Dauer gestellt ist. Irgendjemand kehrt doch immer um! Kein Wunder also, dass die Bilder des Himmels meist mit einem Festmahl verbunden sind.

Aber im Letzten geht es im Himmel überhaupt nicht um Mathematik. Die Verlorenen sind gefunden. Die Letzten werden die Ersten sein. Und wo geteilt wird, vermehrt sich das, was übrigbleibt, ins Unendliche. Aber diese Umwertung des Vertrauten kann nicht ohne Murren abgehen.

Ein solches ist der Anlass dafür, dass Jesus diese Gleichnisse erzählt. Die, die sich bei den Neunundneunzig gut aufgehoben fühlen, sind ebenso unzufrieden wie der ältere Sohn im Gleichnis „vom verlorenen Sohn“, das heute in den landeskirchlichen Gottesdiensten in Deutschland ausgelegt wird. Denn der ältere Sohn hatte es dem Vater im Unterschied zu seinem jüngeren Bruder immer recht gemacht.

Es ist ein überraschender Trost, dass nicht die Mehrheit der Rechtschaffenen den Himmel festlich zum Erbeben bringt. Dafür reicht vielmehr schon der kleine Rest derer, die wir sonst so gerne aussortieren. Ja, auf Dauer gibt Gott niemanden verloren.

Neue Beziehung

4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni

Die Brüder Josefs fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns  gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben … Josef aber sprach zu ihnen (seinen Brüdern): Fürchtet euch nicht! ... Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. (1. Mose 50,15+19–20)

Dieser Satz aus der Josefsgeschichte des Alten Testamentes ist einer meiner Lieblingsverse. Denn Gott schreibt alte Geschichten neu. Nicht nur für den Schriftsteller Thomas Mann ist Josef eine Art Idealfigur, um die Abgründe des Lebens zu beschreiben. Die biblische Josefs-Novelle beschreibt beispielhaft den Ausweg aus einer vertrackten familiären Situation.

Und wir machen ähnliche Erfahrungen. Die Eltern sind gestorben, und die erwachsenen Kinder müssen ihre Beziehungen neu regeln. Wie eine Klammer hatten die Eltern das System Familie zusammengehalten. Und das war vielleicht nicht immer segensreich. Denn manchmal wurde einiges unter dem Deckel gehalten, was längst der Klärung bedurft hätte.

In der Josefsgeschichte hatten die Kräfte des Patriarchen zu seinen Lebzeiten nicht ausgereicht, die geschwisterliche Dynamik zwischen den Söhnen, Josef und seinen Brüdern, in geregelte Bahnen zu lenken. Stattdessen hielt er sie wohl mit Macht unter dem Deckel.

Aber Jakobs Tod bestimmt die familiäre Tagesordnung neu. Jetzt rächt sich, dass die älteren Brüder den Jüngeren einst aus Neid verkauften. Nun fürchten sie sich davor, ihrem Bruder ausgeliefert zu sein, ohne den Schutz des Vaters zu genießen. Doch Josef ist nicht nur erfolgreich, sondern auch längst gereift und erwachsen geworden. So will er die Geschwisterbeziehung nicht kappen, sondern entwickeln und gestalten. Josef tut dies nicht dadurch, dass er das, was war, einfach unter den Teppich kehrt. Im Gegenteil! Josef spricht es an und sagt seinen Brüdern: „Ihr gedachtet es böse zu tun!“ Und er bewertet den Konflikt neu: „Gott gedachte es gut zu tun!“ Josef bindet seine Brüder also ein in seine eigene Segensgeschichte. Erst jetzt wird die Geschwisterbeziehung eine auf Augenhöhe. Sie wird nicht mehr von Opfer- und Täterrollen bestimmt, geprägt auf der einen Seite von Furcht und von Machtgelüsten auf der anderen Seite. Denn wenn Gott gedenkt, „es gut zu tun“, möchte er uns nicht in die alten Beziehungsmuster zurückfallen lassen. Dem Beispiel Josefs zu folgen, könnte auch heute Menschen aus mancher Konfliktgeschichte, die sie unheilvoll aneinander kettet, in neu gelebte Beziehungen führen.

Starke Vitalität

5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli

Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft … Weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben …
Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Mensch sind. (1. Korinther 1,18+21+25)

Die Weisheit der Welt hat in den vergangenen Monaten viele Leben gerettet. Ich denke an die Kunst der Medizin, an die Forscherinnen und Forscher, die die Impfstoffe gegen das Coronavirus entwickelt haben, an die Kenntnisse und Erfahrungen der Pflegefachkräfte und die Abwägungen der Ethikkommissionen.

Ich bin durchaus dankbar für die Weisheit der Welt und will daher nicht vorschnell in Paulus’ Abgesang auf sie einstimmen.

Aber der Apostel hat womöglich etwas anderes im Sinn. Es geht ihm jedenfalls nicht einfach darum, dass ich lebe, sondern wie und wofür ich lebe. Paulus fragt nach dem einzigen Halt im Leben und im Sterben. Dabei stellt er nicht nur fest, dass unser Weltwissen (und das ist gegenüber den Zeiten des Paulus ja immens angewachsen) bei den entscheidenden Fragen viele Antworten schuldig bleibt. Vielmehr hebt er darauf ab, dass uns die tragfähigen Botschaften des Lebens ganz unerwartet woanders entgegenkommen. Dies zeigt sich vor allem darin, dass sich unter dem bisweilen dürren Medium des Wortes, in der „Torheit der Predigt“, eine gewaltige Vitalität verbirgt. Manchmal lässt schon ein freundlicher Satz, der mir gesagt wird, die strahlende Schönheit des Lebendigen hinter meinen Unansehnlichkeiten aufleuchten.

Meine Mitmenschen können nicht immer leicht nachvollziehen, warum mir das „Wort vom Kreuz“ hilft, mit den Abgründen des Lebens besser fertig zu werden, als es meine Lebenserfahrung und gute Ratschläge vermögen. Was für ein Plädoyer für die Gattung Predigt in Zeiten, in denen viele Menschen mehr auf ihren eigenen Mund setzen, als ihren Ohren zu vertrauen! Ich bin sicher: Die Worte der Weisheit Gottes erreichen mich am besten, wenn sie mir zugesprochen werden. 

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