Radikal

Vom Ende des Gemeinwohls

Vom Tellerwäscher zum Millionär. Als verheißungsvoller Traum geistert dieses Motiv, es durch die eigene Anstrengung zu etwas zu bringen, durch Werke der Pop- und Hochkultur. Als moralischer Leistungsimperativ – leiste, übe, arbeite – bestimmt er unsere kollektive Auffassung von Leistung. Und als meritokratische Überzeugung, individuell für das eigene Schicksal verantwortlich zu sein, prägt die Vorstellung einer notwendigen Leistung-Verdienst-Folge, so Michael Sandels Ausgangsvermutung in Vom Ende des Gemeinwohls, unsere gesamte gegenwärtige Leistungsgesellschaft.

Der amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel geht in seinem Werk zentral der Frage nach, wie solch meritokratische Überzeugungen die Gesellschaft formen und welche Folgen sie haben. Dabei zeigt er erstens auf, wie sie individuellen Überheblichkeits- und Verzweiflungsmentalitäten den Weg bereiten: Denn wer sich seinen Erfolg selbst zuschreiben will, muss umgekehrt auch seinen Misserfolg allein verantworten.

Zweitens prägen meritokratische Denkmuster gesellschaftliche Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit: Denn wo jede ihres eigenen Glückes Schmied ist, hat diejenige, die aufgrund ihres Bildungsstandes, finanziellen Einkommens oder politischer Macht an der Spitze der Gesellschaft steht, ihren Status ebenso „verdient“ wie diejenige, die an deren Rand steht. Entsprechend sei es nur gerecht, jede ihrem selbstgewählten Schicksal zu überlassen und auf gesellschaftliche Kompensationen oder Förderungen zu verzichten. Gemeinsam bildet beides einen Teufelskreis, so Sandel, in dem die Meritokratie ihre Tyrannei entfaltet: Individuelle Überheblichkeits- und Verzweiflungsmentalitäten untergraben den Sinn für das Gemeinwohl, befördern Ausschlüsse aus der Solidargemeinschaft und vertiefen dadurch gesellschaftliche Spannungen zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“ – diese gesellschaftlichen Entwicklungen speisen umgekehrt individuelle Überheblichkeit und Verzweiflung.

Anschließend erörtert Sandel, was dieser meritokratischen Negativdynamik entgegenzusetzen wäre. In tugendethischem Gestus schlägt er vor, gesellschaftlich ein neues Gefühl für die „Zufälligkeiten des Lebens“ zu etablieren. Erfolg ist eben nicht allein von der Leistung des Einzelnen abhängig – keine Person kann etwas dafür, in welches Umfeld sie mit welchen Fähigkeiten geboren wird. Diese Einsicht bereitet den Boden für Demut und Solidarität und eröffnet einen neuen Blick auf das Gemeinwohl. Zur Förderung dieses Gefühls schlägt Sandel konkrete politische Reformen im Bildungs-, Finanz- und Arbeitswesen vor, die von der Etablierung eines akademischen Losverfahrens über die Besteuerung von Erbschaften und Finanztransfers bis zu einer Erneuerung der Würde der Arbeit reichen.

Sandels Buch zum Ende des Gemeinwohls ist mit seinen vielen, anschaulichen Beispielen sehr zugänglich und eröffnet eine relevante Perspektive auf die Schattenseiten der Leistungsgesellschaft. Wenn er gegen die tyrannischen Folgen der Meritokratie einen grundprotestantischen Gedanken ins Feld führt – dass wir unser eigenes Schicksal nicht selbst in der Hand haben –,wirkt dies zwar nicht neu, aber bleibend radikal. Nicht zuletzt legt dies der Blick zurück auf die paradigmatisch anti-meritokratischen Thesen gegen Verdienste Luthers und deren weitreichende reformatorische Folgen nahe. Ob Sandel das Transformationspotenzial seines sozusagen säkulargewendeten Gnadengedankens in vergleichbarer Form entfalten und gegen den Widerstand der meritokratischen Tradition ins Feld führen kann – und ob seine konkreten Reformvorschläge die Radikalität seines Impulses transportieren können –, das bleibt fraglich.

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Foto: privat

Max Tretter

Max Tretter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.


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