Es ist schon länger her, dass ich bei einer Kanalüberfahrt des majestätischen Anblicks der weißen Felsen von Dover teilhaftig wurde. Great! Und ich trete den Landstrichen Französisch Flanderns rund um Calais nicht zu nahe, wenn ich konstatiere, dass dieselben wohl zu den optisch wenig liebreizenderen Weltgegenden gehören. What a pity, denn so erscheint der Kontrast Kontinentaleuropas zu der betörend schönen Landschaft Südenglands, die sich mit den Felsen von Dover andeutet und in den lieblichen Weiten Kents fortsetzt, noch größer. Diese wunderbare Landschaft taucht vor meinem inneren Auge auf, wenn ich die neuste Produktion Paul van Nevels und seines Huelgas-Ensembles mit englischer Musik des späten Mittelalters höre: wundersame Klänge, abwechslungsreichste Melismen und leere Quinten, die betören – einfach great!
Das Huelgas-Ensemble ist benannt nach dem Kloster Santa María la Real de Las Huelgas in Nordspanien, wo Paul van Nevel als junger Musikwissenschaftler 1970 die ersten Partituren mittelalterlicher Musik studierte. Heute ist Van Nevel der weltweit führende Spezialist für die delikate Musik des Spätmittelalters und der Frührenaissance – jener Zeit vor der europäischen Musikwende um 1600, nach der dann „Dur“ und „Moll“ eindeutig von den Klängen Besitz ergriffen. Auf der neusten CD En Albion – Polyphonie in England vermessen die „Huelgasse“ ein Jahrhundert britischer Musik, das, was die Komponisten angeht, im Dunkel liegt, „all pieces are anonymous“ kündet die Rückseite des Covers lapidar. Aber was muss es für eine tolle Zeit gewesen sein, damals, als der Hundertjährige Krieg tobte und es natürlich Austausch gab mit dem Festland, mit den großen Meistern in Paris, zum Beispiel Perotin und Co. – wobei die anonym gebliebenen englischen Komponisten teilweise damals schon viel kühner komponierten als auf dem Kontinent.
Zu jedem der 13 Stücke, von der Ostersequenz „Victime paschali laudes“ über die berückende Totenklage „Absolon fili mi“ bis zum burlesken Weihnachtsschlager „Nova! Nova! Ave fit ex Eva!“, lohnte es sich, ausführliche Lobeshymnen zu verfassen, aber am besten hilft, sie immer wieder zu hören – rauf und runter. Denn an einer großen Qualität, die Van Nevel, der in diesem Jahr 75 Jahre alt wurde, und die Seinen besonders auszeichnet, kann man sich kaum satthören: Es ist die lebensvolle Fülle des Klanges, denn Paul und Co. sind seit jeher jeder freudlosen Aseptik abhold, jener schmalbrüstigen Klangödnis, derer sich manch andere Interpreten sehr früher Musik auch heute noch meinen befleißigen zu müssen. Nein, beim Huelgas-Ensemble lebt und pulst alles mittels überragender Gesangstechnik und traumwandlerischer Gestaltungskraft. Irgendwann kommt man davon kaum noch los – probieren Sie’s aus!
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.