Spiritueller Notfallkoffer

Warum wir alle einen haben sollten
Foto: Christian Lademann

Es sind Worte, Bilder, Szenen und Klänge, die uns immer wieder religiös anrühren, wenn wir sie hervorholen oder ihnen plötzlich im Alltag begegnen. Unsere Online-Kolumnistin Katharina Scholl beschreibt, was in ihrem spirituellen Notfallkoffer enthalten ist. Und ob sich darin ein Fach für Digitales befindet, hängt auch von unserem Kirchenbild ab.

Es war am 24. Dezember 2020, als der Heiland dieser Welt digital zu mir und meiner Mutter kam, in Windeln gewickelt, geboren von einer Playmobil-Maria. Jesus kam zeitgleich zur Welt, auf ihrem Tisch in Hannover und auf meinem in Marburg, irgendwo zwischen Tablet und dem Teller mit der Gänsekeule, die kurz zuvor tapfere Lieferanten aus Gastro-Küchen an unsere Haustüren gebracht hatten.

Ich hatte gearbeitet an diesem Tag, war mit Menschen zusammengekommen, die digital Heiligabend feiern wollten. Mit meiner Mutter wollte ich den Abend ausklingen lassen. Sie ist schwer krank und zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Impfung. Über ein Jahr war es da schon her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Per zoom wollten wir gemeinsam essen und plaudern und Heiligabend feiern.

Als wir da so digital beieinander waren, teilte ich meinen Bildschirm, weil ich ihr die „Weihnachtsgeschichte mit alles“ (https://www.youtube.com/watch?v=nsS4oxu4IxM)  von Michael Sommer zeigen wollte. In dem Projekt „Bibel to go“ stellt er alle biblischen Bücher in kurzen humoristischen Sequenzen mit Playmobil-Figuren dar. Schon als der Engel Gabriel das erste Mal auftauchte, begannen wir schallend zu lachen. Sie in Hannover, ich in Marburg und beide zusammen auf unserem Bildschirm. In diesem Lachen ist 2020 der Heiland dieser Welt zu mir und zu ihr gekommen. So wie damals im Stall: unverhofft und plötzlich, wie es keiner erwartet hätte.

Im Mai 2021 haben wir uns nach ihrer Impfung zum ersten Mal wieder in die Arme genommen. Das war schön. Aber diese Heilige Nacht war es auch. Anders. Und doch war es da: das Lachen, die Liebe, die glänzenden Augen, das ganze Wunder.

Warum ich im strahlenden Sonnenschein sitze und meine Kolumne im Juli über den Heiligabend schreibe? Weil es diese Szene ist, die mir jedes Mal einfällt, wenn ich lese, dass Jemand meint, digital könne man nicht Gottesdienst feiern. Weil es diese Playmobil-Maria, Josef, das Kind und meine lachende Mutter sind, die ich vor meinem inneren Auge habe, wenn ich wieder einmal jemanden sagen höre, wie schade es ist, dass wir uns nicht „wirklich“ begegnen können, sondern nur digital. Weil es die Echtheit dieses Augenblicks ist, die ich in Frage gestellt sehe, wenn jemand mit dem Brustton der Überzeugung meint, digital sei keine Gemeinschaft möglich. Für viele Menschen ist religiöse Praxis im Digitalen eben kein billiger und schlechter Ersatz für „das Eigentliche“ (was auch immer das sein soll...). Menschen werden religiös angerührt vor ihren Bildschirmen und erleben das in gleicher Intensität wie einen Gottesdienst mit einer Gemeinde im Kirchenraum. Andere erleben es ausschließlich digital, weil sie sich die Partizipation an anderen kirchlichen Angeboten für sich nicht vorstellen können

Seit diesem Heiligabend gehört „Die Weihnachtsgeschichte mit alles“ in meinen spirituellen Notfallkoffer. So einen haben wir übrigens alle und wer keinen hat, sollte einen haben. Man kann ihn nicht sehen und trotzdem hat sich alles Mögliche darin angesammelt in 37 Jahren. Worte, Bilder, Szenen und Klänge, die sich irgendwann mal unter meine Herzhaut geschoben haben, die mich immer wieder religiös anrühren, wenn ich sie wieder hervorhole oder wenn sie mir plötzlich in meinem Alltag begegnen. Dinge, die mir ein Halt sind, wenn der Boden unter mir ins Wanken gerät, die mich weiter atmen lassen oder die einfach nur meinen religiösen Puls wieder anfachen, wenn es stiller geworden ist zwischen mir und Gott. Nie ist er fertig befüllt, dieser Notfallkoffer. Neues kommt dazu. Manchmal verschwinden auch Dinge wieder, wenn sie mir eines Tages nichts mehr sagen.

Mendelssohns Psalmvertonungen sind in meinem spirituellen Notfallkoffer, ein paar Bücher, bedeutsame Bibelverse (wahrscheinlich weniger als man von einer Pfarrerin erwarten würde), ein Song von Brenda Lee (aus Gründen) und noch anderes mehr. In den vergangenen Monaten ist viel Digitales hineingewandert, wie eben die „Weihnachtsgeschichte mit alles“ und andere Dinge, die mich beim Blick auf Laptop oder Smartphone religiös angerührt haben.

Die vergangenen Monate haben deutlich gezeigt, mit wie vielen verschiedenen Kirchenbildern wir schon seit langem in der Kirche unterwegs sind. Für den einen ist es unvorstellbar, dass der Segen Gottes auch einen Mann beim Bügeln von einem Laptopbildschirm aus erreichen kann. Die andere ging nie am Sonntag in den Kirchenraum, feiert aber seit einiger Zeit zoom-Gottesdienste mit. Der eine kann einen Bildschirm mit Daseinsweitung in Verbindung bringen, der anderen liegt das völlig fern.

Diese unterschiedlichen Positionen zunächst weniger mit theologischen Haltungen zu tun als viel mehr mit dem je eigenen spirituellen Notfallkoffer, mit dem wir unterwegs sind und mit der Frage, ob darin ein Fach für Digitales zu finden ist oder nicht. Wir spüren, dass wir diese Pluralität von Kirchenbildern nicht mehr auf ein gemeinsames zusammenführen können und ich glaube, das ist gut so. Wenn wir dennoch gemeinsam Kirche bleiben wollen, müssen wir lernen füreinander unsere spirituellen Notfallkoffer einen Spalt breit zu öffnen. Kennenlernen, was den anderen religiös bewegt, selbst wenn es mir völlig fernliegt. Und wer weiß, vielleicht entdecke ich ja etwas, das auch in meinen spirituellen Notfallkoffer gehört.

Ich habe andere Menschen gefragt, ob sie bereit sind, ihre Notfallkoffer ein Stück weit zu öffnen. Nach den digitalen Schätzen der vergangenen Monate habe ich sie gefragt. Diese Menschen schreiben diesen Kolumnentext zu Ende. Viel Freude beim Stöbern und Erleben.

Julia Ludwig (28), Kinder- und Jugendreferentin

Steffi und Ellen von „Anders Amen“ sind Teil meines spirituellen Notfallkoffers geworden. Es inspiriert mich, wie authentisch sie über spirituelle Themen sprechen und das auf eine völlig alltägliche und unaufdringliche Weise. Die beiden bringen mich immer wieder neu ins Nachdenken über Gott, Glaube und die Menschen. https://www.youtube.com/watch?v=zBinktVYW-U&list=PLLKqqsbDRxmmLIQqZaGo_Y2kVkVqY7eZt&index=8

Beatrice von Weizsäcker (63), Juristin und Autorin

„Mein Notfallkoffer ist voller Musik. Mit Igor Levit fing es an. Jeden Abend gab es via Twitter ein Hauskonzert, und ich hörte sie alle. Musik gehörte schon immer zu meinem Leben. Seit der Pandemie aber noch mehr. Weil sie zum Ausdruck bringen kann, was Worte nicht vermögen. Trauer und Freude, Einsamkeit und Fülle, je nachdem. Diesen Schubert, den Igor Levit am 19. März 2020 spielte, werde ich nie vergessen, es ist Schuberts letzte Klaviersonate.“

https://twitter.com/igorpianist/status/1240699691072778241

https://www.pscp.tv/w/1gqGvEBrkbpKB

Sabine Kropf-Brandau (57), Pröpstin in der EKKW

„In der Zeit des Lockdowns war das mein „Mutmachlied“, mein Schwung, meine Hoffnung... Wenn nichts mehr ging, habe ich es gehört und dabei getanzt. Erdenfern und Himmelsnah – einfach so.“

https://www.youtube.com/watch?v=YUxZpLm5Sa0

Annette Plaz (37), Diplom-Kulturwissenschaftlerin

„Mich haben in der Pandemiezeit ganz besonders die Brot- und Liebe-Gottesdienste berührt. Vor allem an Karfreitag. So viel Nähe und geteilte Geschichten, Freude und Schmerz...“

https://brot-liebe.net/

Marcus Haub (55), Leiter Finanzbuchhaltung

„Dieser Abendsegen für die Helfer der Flutkatastrophe von Holger Pyka hat mich sehr bewegt, weil da plötzlich nur einen Mausklick entfernt Worte waren für das, wofür ich keine hatte.“

https://www.youtube.com/watch?v=Om0BxBJ2RK4

Birgit Mattausch (45), Pastorin und Referentin

„In der Fastenzeit 2021 hatte ich die Fastenimpulse der Netzgemeinde da_zwischen abonniert. Jeden Morgen bekam ich per Telegram ein Bild des Künstlers Scott Erickson und einen kleinen englischen Text, den ich für mich übersetzen sollte. Und jeden Morgen passierte beim Übersetzen und eigene Worte (oder Widerworte) finden etwas in mir, das mir half, mehr zu verstehen von Gott und meiner eigenen Seele. Oft teilte ich das Entstandene dann wieder im Netz. Seitdem feiere ich auch immer mal die Messengerdienst-Gottesdienste von da_zwischen mit. Sonntagsmorgens mit meinem Handy und dem ersten Kaffee im Hängesessel auf dem Balkon.“

https://netzgemeinde-dazwischen.de

Rahel Höpner (23), Theologiestudentin

„Offensis.de ist eine digitale Spielwiese für Gedanken und Fragen rund um Gott* und die Welt. Dieser offene Raum hilft mir, über die eigenen Grenzen hinaus zu sehen und mich zu öffnen in die Weite, hin zu anderen und zu mir selbst, um frei zu sein und mich verbunden und vernetzt zu fühlen mit Menschen, die auch auf dem Weg sind in ihrem Leben, eine Reise mit Gott* auf dieser Erde.“

https://offensis.de/himmel/

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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