Bunt und blöd

Ich habe es nochmal mit der Boulevardpresse probiert. Eine schlechte Idee...
Foto: Harald Oppitz

Über Jahre hatte ich das bunte Boulevardblatt mit den fünf großen Buchstaben immer mal wieder gelesen, nicht nur beim Friseur. Sehr amüsant fand ich, wie der Chefredakteur in seinen Editorials aus den Kapriolen von Promis Schlussfolgerungen fürs Leben zu ziehen vermochte: Der Zauderer sucht die Tür, der Mutige schreitet durch sie hindurch. Oder: Der Flügelschlag der Liebe hebt jeden in die Schwerelosigkeit. Das hat doch Wucht und Kraft! Könnte fast in der Bibel stehen. Na ja: Fast.

Aber dann kam das Frühjahr 2020, die Corona-Krise und der Fleischskandal bei Tönnies. Und was tat das bunte Blatt? Es „berichtete“ über die Charity-Aktivitäten der Fabrikanten-Gattin und entblödete sich dabei nicht, auf die hingebungsvolle Fürsorge der Dame für die Arbeiter der Firma hinzuweisen. Margit Tönnies, die Mutter Theresa der Schlachthöfe. Nach der Lektüre dieses Artikels habe ich beschlossen: das war das letzte Mal! Wir sind fortan geschiedene Leute.

Daran habe ich mich nun seit über einem Jahr lang gehalten. Es war nicht wirklich schwer, da selbst bei meinem Friseur, wenn er denn geöffnet hatte, keine Zeitschriften mehr ausliegen dürfen. Während meine Haarkur einwirkte, las ich die „Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz oder einen ordentlichen Krimi. Vielleicht liegt es an Andreas Reckwitz, dass mir der halbherzige Rückfall vorletzte Woche nicht wirklich gut bekommen ist. Da habe ich mir nämlich im Urlaub in Berlin das Konkurrenzblatt gekauft. Das mit den galanten Reportagen aus der Promi-Welt.

Bienchen und Bischof

Das war leider keine gute Idee und trug nicht zu meiner entspannten Stimmung bei. Noch nicht einmal im Editorial der „Editor at Large“ gab es ein Sprüchlein, das mich hätte amüsieren können. Abgesehen von einer winzig kleinen Anzeige, die zu Spenden für die Hochwasseropfer aufrief, kamen die Probleme dieser Welt im Blatt nur insofern zur Sprache, als Angelina Jolie für die Erhaltung der Bienen einen Imkerkurs in der Provence absolviert.

Von Corona war keine Rede. Stattdessen gab es Fotos aus dem Urlaub der Promis. Eine Maske trug da keiner. Abstand? Wieso denn?! Hat sich schon mal jemand gefragt, ob damit indirekt die sogenannten Quer“denker“ unterstützt werden? In Berlin habe ich am vorletzten Wochenende Tausende gesehen, die der Auffassung sind, dass es Corona gar nicht gibt und dies auch lautstark kundtaten. Wäre es nicht eine Aufgabe selbst der Boulevard-Presse, ihre Leser*innen nicht nur über die „Fürstin der Herzen Caroline von Monaco“ zu informieren, sondern wenigstens ansatzweise auch über die Herausforderungen, denen sich Deutschland und die Welt gerade stellen müssen? Denn sonst kommt es vielleicht schneller, als uns allen lieb ist, zu einer Spaltung der Gesellschaft. Wenn die nicht schon längst da ist.

Der halbseitige Bericht über die Eröffnung der Festspiele in Bayreuth auf einer der letzten Seiten des Blatts wirkte dann abschließend fast wie schwerintellektueller Lesestoff. Allerdings stellte sich mir angesichts der abgedruckten Fotos der prominenten Gäste die Frage, warum Heinrich Bedford-Strohm auf dem Grünen Hügel Bischofskreuz und Kollar trug. Möglicherweise, weil manche Leute nach Bayreuth „pilgern“? Oder weil es sich um einen Musen“tempel“ handelt? Vielleicht kann er mir das bei der nächsten EKD-Synode mal erklären.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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