Pfarrer werden oder abhauen

Kurz vor dem Ruhestand: Joachim Goertz erlebte Um- und Abbrüche im Prenzlauer Berg
Joachim Goertz
Foto: Rolf Zöllner
Pfarrer Joachim Goertz in der Bartholomäuskirche in Berlin.

„Ich will hineingehen in das Haus des Königs. Komme ich um, so komme ich um.“ So lautete der Taufspruch, mit dem Joachim Goertz seine kirchliche Laufbahn in der DDR begann. Sie führte ihn von der Weimarer Kirchen­wüste nach Berlin, wo er in den Wendewirren und danach als Pfarrer im Prenzlauer Berg arbeitete. Im vierten Teil unserer „Pfarrer:innen-Serie“ berichtet er von vielen Veränderungen und dem, was seine Arbeit noch immer spannend macht.

Ich wurde 1973 konfirmiert und Ende 1976 getauft. Sind Sie irritiert? Sehen Sie, das soll so bleiben, nicht nur bezogen auf das vermeintliche Vertauschen von Jahreszahlen. Glücklicherweise hat die Entwicklung des Amts- und Bildungsverständnisses der Großkirchen nicht dazu geführt, dass sowohl mein kirchliches Abi­tur im Sommer 1976 als auch meine spätere Ordination 1982 und alle daraus folgenden Amtshandlungen ihre Gültigkeit verloren haben. Zwischenfazit: Christenverfolgung und deren Widerstehen sind vom Römischen Reich bis zum Kommunismus mitunter verschlungene Wege gegangen. Aber von vorne:

Im nächsten Jahr werde ich vierzig Jahre Dienst als Pfarrer in der evangelischen Kirche in Ostdeutschland absolviert haben, acht Jahre in der DDR und 32 Jahre im vereinigten Deutschland, sieben Jahre im Thüringer Land, 33 Jahre in der Mitte Berlins. Pfarrer fallen ja nicht vom Himmel, sondern höchstens aus Pfarrhausbetten. Doch auch das hätte ja nicht gereicht, um im Mutterland der Reformation die Fahne des Evangeliums hochzuhalten. Aber dass ausgerechnet ich einmal ein begeisterter und überzeugter Pfarrer werden würde, hätte man trotz allem nicht gedacht. Ich bin der Sohn eines doppelten Buchenwaldhäftlings (KZ und sowjetisches Speziallager), geriet zwar als Kind in Weimar durch Zufall in die anthroposophische Christengemeinschaft, war zudem mit zwölf Fußballschiedsrichter bei katholischen Kaplänen, durchlitt aber sonst die übliche DDR-Sozialisation der 1960er- und frühen 1970er-Jahre als Jungpionier, Thälmann-Pionier, FDJ-ler und Jugendgeweihter.

Mein Kindheitstraum war der Pfarrdienst nicht, ich wollte eigentlich Schauspieler, später dann Sportjournalist werden. Was wohl geworden wäre, wenn einer dieser Träume in Erfüllung gegangen wäre? Provinzschauspieler in prekären Verhältnissen oder abgewickelter Journalist, der seine Staatsnähe nie hätte verleugnen können, wie es manchem freilich bis heute gelungen zu sein scheint? Man ließ mich aber nicht zur Erweiterten Oberschule (EOS) zu, ebenso wenig wie zur Berufsausbildung mit Abitur, sodass ich nur noch Schornsteinfeger oder Dachdecker hätte werden können. Aber Gott sei Dank wurde ich auf andere Pfade geführt, und in mir reifte der Gedanke: In der DDR kannst du eigentlich nur noch Pfarrer werden oder abhauen.

Letzteres schied aus familiären Gründen aus, meine Eltern waren schließlich schon jenseits der sechzig und wollten auch nicht in den Westen. Ich kam nach Naumburg an der Saale an das Kirchliche Proseminar, ein Gymnasium, dessen Abitur in der DDR nur zum Theologiestudium entweder an einer der drei kirchlichen Hochschulen in Ostberlin, Leipzig oder Naumburg oder an einer staatlichen Universität berechtigte. Das jedoch für die Herren der Schöpfung nur, wenn sie den aktiven Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee leisten wollten. In Naumburg tat sich jedenfalls für mich eine neue Welt auf: bürgerlich humanistische Bildung, nicht belästigt durch marxistisch-leninistische Indoktrination, und eine Insel der Freiheit, die ihresgleichen suchte in der DDR der 1970er-Jahre unter dem saarländischen Dachdecker Erich Honecker. Ich lernte Lehrer und Kommilitonen kennen, die mein weiteres Leben nicht nur beruflich prägten. Wolfgang Ullmann, Richard Schröder, Edelbert Richter, der falsche Schwede Aleksander Radler (IM Thomas), Axel Noack und viele andere. Und nicht zuletzt meine Frau Esther.

Politische Prägungen

Politische Prägungen hatten sich freilich schon früher herauskristallisiert. Auch wenn ich 1968 erst zwölf Jahre alt war, empfand ich den Prager Frühling und seine gewaltsame Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Pakts unter Führung der Roten Armee als einschneidende Profilierung meines Gerechtigkeitsempfindens. Ebenso wie kurz darauf die Ablehnung des Begehrens meines Vaters, als Verfolgter des Naziregimes anerkannt zu werden, mit der Begründung, dass er ja nicht am Aufbau des Sozialismus mitgewirkt habe. 1976 erlebte ich bewusst und erschüttert die Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz und die Ausbürgerung von Wolf Biermann mit allen folgenschweren Konsequenzen für das Land und die Menschen in ihm.

Wir lasen die osteuropäischen Dissidenten, ließen uns von der Charta 77 und der polnischen Solidarnosc ermutigen und inspirieren. Ich hatte schon 1974 den Wehrdienst verweigert, auch den seit 1964 möglichen Bausoldatendienst, in einer absurden Risikoabwägung, den DDR-Knast für weniger gefährlich zu halten als die NVA-Kaserne. 1982 wurde ich bei der obligatorischen Überprüfung der Wehrunterlagen wieder gefragt, ob ich nicht doch meinen Ehrendienst antreten wolle. Als ich verneinte, wurde mir im Wehrkreiskommando Naumburg gesagt: „Sie hören von uns!“ Was das bedeutete, war jedem jungen DDR-Bürger klar – bis zu zwei Jahre DDR-Knast, und das möglicherweise nicht nur einmal, wie ich von Zeugen Jehovas und anderen Totalverweigerern aus Weimar erfahren hatte. Also begab ich mich auf den Weg zum Kirchenbund der DDR in die Ostberliner Auguststraße zu meinem Bischof Leich, der gerade dessen Vorsitz innehatte, um ihm ein Kassiber mit meinen Beschwernissen zukommen zu lassen. Die Thüringer Kirche bat dann auch erfolgreich die staatliche Behörde um Aufschub für ihren angehenden Vikar, und bis zum Ende der DDR hörte ich nichts mehr aus dieser Richtung.

Weil ich in der Nähe meiner Mutter sein wollte, kam ich 1982 als Vikar in die Weimarer Kirchenwüste, im Volksmund auch ABC-Zone genannt (Apolda, Buttstädt, Camburg). Hier war die Rübe die einzige schattenspendende Pflanze. Meine Frau und Kommilitonin Esther folgte mir in 15 Kilometer von unserem Pfarrhaus entfernte Kirchengemeinden. Ich lernte dort nicht nur Kirchenbau und Gemeindeaufbau unter speziellen Thüringer Kirchenkampf und Thüringer Weg erprobten Bedingungen kennen, mit in Vakanzzeiten 28 Stunden Christenlehre in der Woche, häufigen Bestattungen und einer eng mit uns verbundenen und angefochtenen Jungen Gemeinde. Sondern auch fünf Hauptsätze seelsorgerlicher Kommunikation, die eine solche im Fluss hält: 1. Sieht doch keiner. 2. Mal was anderes. 3. Spaß muss sein. 4. Hauptsache gesund. 5. Bissel rapple muss man schon. Versuchen Sie es mal, es funktioniert immer …

Solidarische Kirche

Um der staatlich und mitunter auch kirchlich gewollten Vereinzelung entgegenzuwirken, hatten Absolventen der Naumburger kirchlichen Hochschule im Wittenberger Predigerseminar verabredet, ein Netzwerk zu gründen, das in Kirche und Gesellschaft hineinwirkt und zu deren Demokratisierung beiträgt. So entstand Mitte der 1980er-Jahre die Solidarische Kirche in der DDR, in der viele Menschen wirkten, die später im politischen oder kirchlichen Umfeld maßgeblich Entwicklungen prägten, etwa Marianne Birthler, Freya Klier, Dorothea Höck, Thomas und Cornelia Seidel, Uwe Lehmann und Katrin Göring-Eckardt. In dieser Zeit entschlossen sich meine Frau und ich aber auch, die Perspektive Dorfpfarrer und den belastenden und belasteten Thüringer Weg zu verlassen. Die Zerschlagung unserer Schaukästen durch die sich als Trunkenbolde tarnende Stasi, aber auch die überwiegend opportunistisch eingerichtete Thüringer Landeskirche bekräftigten dieses Ziel.

1989 ergab sich die Gelegenheit, als mich eine Anfrage aus der Berliner Bartholomäusgemeinde erreichte. Diese Gemeinde war spätestens 1986 republikweit zumindest in oppositionellen und kirchlichen Kreisen bekannt geworden. Ihr Vikar Reinhard Lampe hatte mit einer spektakulären Demonstration an der Ber­nauer Straße auf den Stachel im Fleisch der DDR, die Mauer durch Deutschland, hingewiesen. Die Gemeinde hatte daraufhin auf Initiative des Physikers und Kirchenältesten Hans-Jürgen Fischbeck einen Antrag bei der Berlin-Brandenburgischen Landessynode eingebracht, der die Kirche zur „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ aufforderte.

1973 hatte ich noch während der Weltfestspiele der Jugend und Studenten im nahegelegenen Volkspark Friedrichshain als langhaariger Tramper übernachtet, nicht ahnend, dass diese Gegend einmal mein Arbeitsort werden sollte. Als ich mich 1976 in Thüringen während eines Gemeindepraktikums taufen ließ, um zum Theologiestudium noch zugelassen zu werden, wählte ich mir den Taufspruch aus dem Buch Esther: „Ich will hineingehen in das Haus des Königs. Komme ich um, so komme ich um.“ In dieser Motivation gingen wir im Sommer 1989 nach Ostberlin und gerieten mitten hinein in die Turbulenzen der Freiheitsrevolutionen, die ja nicht nur die DDR erfasst hatten. Ich beteiligte mich an der Gründung der Sozialdemokratischen Partei der DDR, war kurze Zeit Abgeordneter für sie im Stadtbezirk Friedrichshain, konzentrierte mich aber schnell wieder auf meine kirchliche Tätigkeit. Gab es doch auch hier erhebliche Umbrüche, die freilich zu anderen Abbrüchen als in der sonstigen DDR-Gesellschaft führten, allerdings auch zu solchen, die der DDR-Existenz geschuldet waren (Kirchensteuer, Religionsunterricht, Militärseelsorge).

In meinen jungen Jahren wollte ich nie Pfarrer im Westen werden, weil mir das als zu etabliert und langweilig erschien. Inzwischen bin ich es über dreißig Jahre in Ostberlin, im Prenzlauer Berg, in Mitte und Friedrichshain, wo man mittlerweile öfter schwäbische oder norddeutsche Satzmelodien hört als das Ostberliner Sprech der 1970er- und 1980er-Jahre. Zwischen Anpassung und Widerstand, so wurde oft das Wirken der evangelischen Christen in der DDR beschrieben. Hatte sich für meinesgleichen nun nach 1989 ergeben, die Phase des Widerstandes hinter sich zu lassen und in die demokratische Anpassung zu transformieren?

Jedenfalls tun sich immer wieder spannende und spannungsreiche Dissonanzen auf, die manchmal das Wort von Walter Ulbricht „heute stehen wir am Abgrund, morgen sind wir einen Schritt weiter“ als Kommentar zum kirchlichen Ost-West-Dialog und allen Reformbestrebungen erscheinen lassen. Nehmen wir nur die Rolle der Öffentlichkeit in der kirchlichen Perspektive: „Nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ waren viele Verlautbarungen gezeichnet, auch als Schutzbehauptung, die verordnete Trennung von Staat und Kirche in der DDR nicht unterwandern zu wollen, aber gleichzeitig sich nicht mit der Trennung der Kirche von der Gesellschaft abzufinden. Wer sich gegen diese Trennung wehrte, der konnte ihre Wirkung unmittelbar spüren, nicht erst, wenn es die westliche Öffentlichkeit wahrnehmen konnte.

Verhallender Ruf

Im demokratischen Raum dagegen, und das nicht erst seit dem Siegeszug des Internets, verhallt der Ruf zur Umkehr in einem scheinbar unendlichen Resonanzraum, wenn er sich nicht öffentlichkeitskonform inszeniert. Wie nachhaltig er wirkt, ist allerdings noch einmal eine andere Frage. So generieren Bischöfe und Gemeinden, vielleicht auch manchmal Synoden, Kirchentage oder Akademien Aufmerksamkeit. Doch das, was wirklich Bestand hat, verbirgt sich in der alltäglichen menschlichen Begegnung.

Und so ist es wohl nicht nur der Lebenserfahrung geschuldet, dass viele Fragen und auch Antworten sich zu wiederholen scheinen, etwa wenn es um die Frage geht, die eigene Kirchturmperspektive zu verlassen, nicht nur die Kerngemeinde im Blick zu haben, sondern auch den Unentschlossenen und den Andersdenkenden Aufmerksamkeit zu schenken. Manches erscheint freilich auch als „Flucht in die Öffentlichkeit“ (Karl Barth).

Spannend bleibt trotzdem – und das hoffentlich bis zu meinem Ruhestand – die Begegnung mit den alteingesessenen Ossis und den zugezogenen Wessis und ihren Kindern und Enkeln mit ihren Prägungen, Erwartungen und Vorstellungen, wie heute Kirche und Gemeinde gestaltet werden kann, zwischen „kasueller Bedürfnisanstalt“ und „Licht der Welt“ im Zeichen globaler Krisenbewältigung.

Das habe ich ja nicht nur in der eigenen Gemeinde erlebt, nicht nur in den Nachbargemeinden in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain, sondern auch im Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, in dem Gemeinden aus Kreuzberg, Tiergarten und den genannten Ostgemeinden eine gemeinsame Sprache suchen, wie auch in der ganzen Landeskirche zwischen Charlottenburg, Brandenburg und der Oberlausitz.

Es ist immer wieder eine Herausforderung, sich selber zu positionieren, die eigenen Leute zu vertreten, aber auch ihre Begegnung mit den Anderen wahrzunehmen und oft vermitteln zu müssen. Ebenso die Begegnung mit den KollegInnen unterschiedlicher Prägung, theologischer Einstellung und anderer Generation, in der Hoffnung, Gott möge es schon richten.

Keine Alternative

Natürlich war es am schwersten, gegen den Abbau zu arbeiten, gegen den Trend zu wachsen trotz des Wegfalls so vieler hauptamtlicher Stellen im gemeindlichen Pfarrdienst, in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Gemeindediakonie. Wenn es da nicht immer wieder Aufbrüche, kreative Lösungen auch mit Ehrenamtlichen und öffentlich geförderten Leuten gegeben hätte, wäre wohl nur die Alternative geblieben: Resignation oder Promotion.

Sich neuen Herausforderungen zu stellen und vor bestehenden nicht wegzulaufen, das ist aber nicht nur mitunter stressbeladen, sondern hält auch fit. Hoffentlich auch jenseits des Ruhestandes! Um Erich Honecker abwandelnd zu resümieren: Der DDR trauere ich keine Träne nach, denn das Leben und Arbeiten bleibt spannend. „Früher war ich jünger“ ist die einzige Wehmut dabei. Wer sich einmal der Wirklichkeitserkenntnis der Menschwerdung Gottes anvertraut hat, für den gibt es keine Alternative. 

Literatur

Joachim Goertz (Hg.): Die Solidarische Kirche in der DDR. BasisDruck Verlag, Berlin 1999, 370 Seiten, Euro 9,80.

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