Versuch einer Entgiftung

Über Identität und Identitätspolitik
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Die toxisch gewordene Debatte zur Identitätspolitik lässt sich zumindest teilweise entgiften, wenn man etwa die Logik des Jahrhundertbuchs „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls ernst nimmt und Romane junger Autorinnen mit Migrationshintergrund, die sich erst in jüngster Zeit mit dem Thema Identität auseinandergesetzt haben. Das meint Klaas Huizing, der mit anderen den  Masterstudiengang Diversitätsmanagement, Religion und Bildung an der Universität Würzburg leitet.

Wörter können ranzig werden. Wesen ist so ein Wort. Aus dem Mundraum ist es in der Postmoderne verbannt worden. Titel wie: Das Wesen des Menschen sind vom Markt verschwunden oder verstauben in Antiquariaten oder werden bei booklooker zu einem demütigenden Preis angeboten. Und auch die liebgewonnene Rede von der Bestimmung des Menschen im Theologensprech wird nur noch von bestimmten Alterskohorten bedient. Entessenzialisierung oder Fluidierung lauteten die Stichwörter der Stunde, und auch der Begriff Identität bekam einen Relaunch verpasst. Dann setzte eine Dialektik der Aufklärung ein, in deren Folgen die drohende Essenzialisierung ein fröhliches Comeback feierte.

Identität machte einen Twist zur Identitätspolitik. In Fragen von race, gender und Klasse wird jetzt vieltönend ein Alleinvertretungsanspruch der jeweils Betroffenen, sprich: der Opfer eingeklagt, weil nur diejenigen, die Ausgrenzungen erfahren haben, Auskunft geben können. Gefordert und gefördert wird diese Sicht etwa von einer kulturaffinen Gruppe der Grünen und Linken, eine andere, vertreten durch Sahra Wagenknecht, glaubt die Probleme lösbar, wenn man die ökonomischen Bedingungen sehr grundsätzlich ändert, bitteschön. Konservative fremdeln mit dieser Sicht auf die Besonderung, Rechte instrumentalisieren sie für Ausgrenzungsmoves.

Wie kompliziert ein Umgang mit einer Weltsicht ist, die die Besonderung ins Zentrum stellt, zeigt ein Blick in die Rechtswissenschaft. Doris Liebscher, Leiterin der Ombudsstelle für Gleichbehandlung und gegen Diskriminierung (LADS) in der Berliner Senatsverwaltung, hat in einem feinen Essay gezeigt, wie Antidiskriminierungsgesetze dazu neigen, typische Gründe für Diskriminierung zu sammeln und zu kategorisieren. Durch diese Essenzialisierung fallen Personen, die diesem Raster nicht entsprechen, heraus. Hier droht eine neue Stigmatisierung in der Rechtsprechung Einzug zu halten, die nur verhindert werden kann, wenn man mit offenen, kontextsensiblen Listen von Gründen für Diskriminierung arbeitet. Schutz gegen problematische Essenzialisierungen bieten zweitens Ansätze, die intersektionell arbeiten, also gender, race und Klasse in ihrer Vernetzung in den Blick bringen.

Die toxisch gewordene Debatte zur Identitätspolitik lässt sich zumindest teilweise entgiften, wenn man die präventivlogische Brille ausprobiert. In seinem Jahrhundertbuch Theorie der Gerechtigkeit entwirft John Rawls – in den ersten Jahren seiner publizistischen Offensive war Rawls übrigens ein entschiedener Anhänger der dialektischen Theologie – den Mythos über einen Urzustand, in dem die Menschen über eine gerechte und faire künftige Gesellschaftsordnung entscheiden sollen. Die Pointe ist: Sie vollziehen diese Entscheidungen unter dem Schleier des Nichtwissens, wissen also nicht, in welcher Position sie später im Leben agieren. Über ihre Identität – etwa Status, Hautfarbe, Geschlecht, Fähigkeiten, Wohlstand, Gruppenzugehörigkeit – bleiben sie im Unklaren.

Das Spielerische des Ästhetischen

In einem kämpferischen Essay Identität im Zwielicht hat Jörg Scheller im Rekurs auf Rawls geschrieben: „Ob Schleier, Wolken oder Nebel – nur wer in der Lage ist, die eigene Identität temporär zu suspendieren und einen hypothetischen Urzustand zu imaginieren, in welchem alle Menschen ihre eigene Identität nicht kennen, kann identitätsübergreifende Gerechtigkeitsprinzipien entwickeln. Hier berührt die strenge, systematische Philosophie das Offene und Spielerische des Ästhetischen.“

Wer einmal über das Buffet der Möglichkeiten für die eigene Identität nachdenkt, wird sensibel auch für Möglichkeiten, die nicht im faktischen, schicksalhaften Spielraum der eigenen Möglichkeiten liegen. Problematisch finde ich deshalb den Alleinvertretungsanspruch der Betroffenen in identitätspolitischen Fragen. Diese Einstellung verkleinert erstens den Raum der öffentlichen Debatte und unterschätzt zweitens kräftig die menschliche Phantasie und Empathie. Warum soll ich, ein weißer älterer Mann mit niederländischer Herkunft, nach professioneller Recherche nicht einen Roman über eine Schwarze Frau in einem Township in Johannesburg schreiben können und warum nicht eine Schwarze Schriftstellerin einen Roman über einen arbeitslosen Weißen in Kapstadt? Eine offensive Verkennung menschlicher Phantasie landet schnell bei Berufsverboten.

Für seine Ambiguitätsflexibilität gelobt und ausgezeichnet wird seit einigen Jahren der Resonanzbegriff. Ideen des Leib-Phänomenologen Hermann Schmitz und einen Vertreter der an Merleau-Ponty anschließenden Phänomenologie wie Bernhard Waldenfels aufnehmend, pointiert der Soziologe Hartmut Rosa die Qualitäten der Resonanzvokabel in seinem sprachmächtigen Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung: „Der nichtessentialistische, offene Charakter des Resonanzbegriffs erlaubt es auch, die problematischen Seiten der Identitäts- oder Authentizitätskonzepte zu vermeiden: Während die Vertreter der Letzteren Weltbeziehungen nur dann als nichtentfremdet verstehen können, wenn sie zu einem gegebenen Selbst oder einer Gemeinschaft passen, diesen entsprechen oder sie verstärken, begreift die Resonanzidee beide Seiten der Beziehung als wandelbar: Selbst und Welt können sich fortgesetzt verändern und doch in Resonanz bleiben, und mehr noch, es sind just Resonanzerfahrungen und -beziehungen, durch die sie sich wechselseitig (im Sinne einer Anverwandlung) transformieren. Die Antwortbeziehung besteht dabei gerade nicht zwischen Gleichen oder Identischen (das entspräche einer stummen Echo-Beziehung), sondern zwischen Differenten, aber Antwortenden.“ Für Rosa wird damit „das Resonanzverlangen als Grundmotiv hinter dem Identitäts- und Authentizitätsverlangen sichtbar“.

Auch Lesende stehen in einem resonanten Antwortverhältnis. Romane sind Irritations- und Empathiemaschinen, die mit großer Bildkraft und Sprachmacht beides, selbstverständlich gewordene Wahrnehmungsweisen und auch liebgewonnene Selbstbilder, hinterfragen. Sehhilfen bieten aktuell drei Romane von Format: Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume; Sharon Dodua Otoo: Adas Raum; Mithu Sanyal, die das Thema ironisch gebrochen im Titel ihres Romans führt: Identitti. Ich konzentriere mich auf den Roman der Bachmann-Preisträgerin Otoo, der mit vielen Finten und diversen Einfällen lockt.

Okay. Ich gebe es zu. Ich bin berufsbedingt besonders empfänglich für gegenwartssatte Romane, die auch die Figur Gott/Göttin als Fachkräfte für Identitätsfragen auftreten lassen, bei Otoo ist es Gott und als sein Agent der Weltgeist als Erzähler. Die Romanfigur von Mithu Sanyal unterhält sich gerne mit der indischen Göttin Kali (diese Göttin spielt übrigens im zweiten Spielfilm der Beatles: Help! die entscheidende Rolle). Yaghoobifarah orientiert sich lieber an den Heroen der Musik, der ‚abgewetzte Hafiz-Band‘ ihres im Iran ermordeten Vaters bleibt auf dem Nachttisch der Mutter zurück, sie versucht, als queere Türsteherin ihren Alltag auf die Reihe zu bekommen.

Im Roman von Otoo, eine Schwarze Autorin und gebürtige Britin, die seit fünfzehn Jahren in Berlin lebt, inkarniert oder materialisiert sich der Weltgeist in drei Gegenständen: einem Reisigbesen, einem Türklopfer, Zimmerwänden eines Raumes – kurzfristig auch in einem Frühstücksei. Aus diesen überraschenden Erzählperspektiven wird die Geschichte von vier Frauen, zwei Schwarze Frauen, zwei Weiße Frauen, erzählt, die alle Ada heißen und in einem Zeitraum von sechs Jahrhunderten an unterschiedlichen Orten einen Spielraum für ihr Leben erobern wollen: Adas Raum eben.

Der materialisierte Weltgeist ist ein teilnehmender Beobachter, der, das ist meine Lieblingsstelle, eine eigene Bildungsgeschichte durchmacht. Von Gott, der im Roman gerne selbst die Form einer Brise annimmt, gefragt, welche Form er aktuell wählen möchte, antwortet der: „Ich wusste es sofort. Irgendetwas, was Freude bringt, sagte ich. Über die Jahrhunderte hatte ich mitbekommen, wie glückliche Wesen aussahen. Der Zustand schien ansteckend zu sein. Und mit Sicherheit, dachte ich, würde es mir das Weiterkommen erleichtern, wenn ich mehr Wert auf Bejahendes legen könnte. Meine Begegnungen mit Lebenden waren immer ertragreicher, wenn ich Glücksgefühle in ihnen ausgelöst hatte.“ Beispiele? Gerne. „Eine Kuscheldecke, ein positiver Asylbescheid oder Top-Surgery genügen, um Wärme, Erleichterung oder Begeisterung hervorzurufen.“

Diese Kunst, blickt man auf den ganzen Roman, ist durchaus ausbaufähig, denn das Leiden des Personals drängt sich in allen Geschichten mächtig nach vorne. Und die neue Form des Weltgeistes? Ein Pass. Die Geschichte der vierten Ada. Die vierte, hochschwangere Schwarze Ada, erneut eine Ghanaerin, scheint die glücklichste zu sein, denn diese Ada ist die stolze Besitzerin eines Reisepasses, hält also den Weltgeist in Händen: „2019 wurde ich zu einem glänzenden nagelneuen britischen Reisepass. Ich bekam einen bordeauxroten mit goldfarbenen bedruckten Buchstaben auf der Vorderseite. Die Darstellung eines Löwen und eines Einhorns, die jeweils auf ihren Hinterbeinen links und rechts von einer Krone standen, fand ich seltsam. Ist wohl Teil einer männlichen Phantasie, dachte ich und stellte sie nicht infrage. Ich konzentrierte mich stattdessen auf die Freude in Adas Augen, als sie sich mit beiden Händen an mich klammerte.“ Dann regt sich Nachdenklichkeit: „Anfangs fand ich es seltsam, dass ich so viel Anerkennung von Ada bekam. Ich war ein guter Pass, sicherlich. Aber doch nicht besser als ein Mensch?“ Sharon Dodua Otoo erzählt die Identitäts-Geschichte der vier Adas (Kurzform eines hebräischen Namens, der die vom Herrn Geschmückte oder Schönheit, Zier bedeutet) als Geschichte der Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung. Die ersten drei Adas kommen durch Schüsse weißer Männer um. Das nicht kleine Kunststück besteht darin, diese Enge erzeugenden Geschichten durch weitenden Humor aufzuhellen. Dafür ist zuständig der materialisierte Weltgeist. Und was ist mit dem Glauben an Gott?

„,Für mich‘, antwortete Ada“ ihrer Schwester, „als sie gemeinsam den Fahrstuhl verließen, ‚ist die viel interessantere Frage: Glaubt Gott wirklich an uns?‘“

Als ein Entgiftungsmittel für identitätspolitische Diskurse werbe ich also für Romane (aber auch für Theaterstücke oder Netflix-Serien), die Selbstbilder hinterfragen und Transformationsprozesse auslösen. Wer die Phantasie feiert, kann nicht stur und giftig sein.

Coda: Könnte es sein, dass sich der Weltgeist erneut in einem Pass materialisiert? Jetzt in einem Impfpass? Als ich diesen Pass in Händen hielt, war mir nach Springen zumute. Ein nicht zu bändigendes Gefühl der Freude durchzog meinen Körper. Ich hatte eine sichere Identität. In dem Augenblick konnte ich erahnen, was es bedeutet, wenn Geflüchtete einen Pass in Händen halten und save sind. 

 

Literatur und Hinweis

Jörg Scheller: Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft, München 2021.

Zusammen mit seinen Kollegen Ilona Nord und Dr. Michael Bauer leitet Klaas Huizing den Masterstudiengang Diversitätsmanagement, Religion und Bildung an der Universität Würzburg. Der Master wird finanziell gefördert von der bayerischen Landeskirche.

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Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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