Wer ich bin

Meine Kinder interessiert das Dorf meiner Eltern in Südostanatolien nicht. Schade
Südanatolisches Dorf
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Südanatolisches Dorf

Es ist nicht so einfach mit der Herkunft und Identität: „Wenn man mich fragt, woher ich sei, sage ich manchmal, aus Schwäbisch Gmünd. Oder aus Deutschland, aber meine Eltern kommen aus der Türkei. Südostanatolien. Ü-o-a-a-o-i-e. Der Mund hat viel Arbeit bei diesem Wort.“ Ein Essay von der Berliner Autorin Dilek Güngör.

Wer ich bin, werde ich selten gefragt. Begegne ich jemandem zum ersten Mal, fragt man mich nach meinem Namen, nach meiner Arbeit und danach, woher ich sei. Ich sage, ich komme aus Berlin. In Berlin sage ich Mitte. Wenn ich denke, es sei relevant, antworte ich, aus der Nähe von Stuttgart. Manchmal sage ich, aus Schwäbisch Gmünd. Oder aus Deutschland, aber meine Eltern kommen aus der Türkei. Südostanatolien. Ü-o-a-a-o-i-e. Der Mund hat viel Arbeit bei diesem Wort. Wenn jemand fragt, woher genau aus der Türkei, sage ich Gaziantep. Und wenn ich weiß, da fragt jemand nach dem Dorf, nenne ich den Namen des Dorfes. Hıyam, den alten. Niemand in meiner Familie benutzt den neuen, auch wenn der Name längst nicht mehr neu ist. Bei meinem letzten Besuch in diesem Dorf fragte mich im Minibus ein Mann, aus welchem Haus ich sei. Wessen Tochter, wessen Frau. Meinen Mann kennt keiner dort, und auch an meinen Vater wird sich kaum jemand erinnern. Ich nannte seinen Namen trotzdem.

Als die Mutter meines Vaters im Sterben lag war ich noch einmal dort. Vor sieben Jahren, seither nicht mehr. Ich weiß nicht, wann ich wieder hinfahre. Ich würde das Dorf gern meinen Kindern zeigen, aber ich möchte nicht wie eine Fremde durch die Straßen gehen und auf Häuser zeigen, in denen mich niemand kennt.

„In diesem Haus hat meine Tante gewohnt“, sagte meine Mutter, als wir vor langer Zeit eingehakt durch das Dorf spazierten. Wir fielen auf, sie im weißen Leinenhemd, ich in irgendwas, dem man sofort ansah, dass es nicht von hier war. In einer Tür standen zwei Frauen und fragten uns, wer wir seien, wen wir suchten. Und die beiden Männer, denen wir auf dem Weg begegneten, waren, wie sich herausstellte, die Söhne von Cousins meiner Mutter. Fremde für mich und Fremde für sie. „Wir hätten nicht gewusst, wer du bist“, sagten sie zu meiner Mutter. „Ich habe euch zuletzt als Kinder gesehen“, sagte sie. Bei diesem Dorfspaziergang hatte ich mich nicht für das Haus meiner Großtante interessiert und hatte wenig Lust, mir das Schulgebäude von innen anzusehen. Auch meine Kinder interessieren sich nicht für das Dorf.

Trotzdem möchte ich zu ihnen sagen, hier stand das alte Haus meiner Großeltern und hier haben wir uns in den Sommerferien horoz şeker gekauft. Große, rote Lollis, die aussehen wie ein Hahnenkamm aus Glas. Die Kinder werden nicht wie Touristen in meiner Erinnerung herumgehen wollen, und ich werde ihnen alles zeigen wollen, was für andere fremd und komisch war, als ich so alt war wie sie. Ich werde ein wenig übertreiben, weil man das tut, aus lauter Nostalgie. Horoz şeker schmeckte mir nicht besonders, ich wollte keinen süßen Hahnenkamm, ich nervte meine Eltern die ganzen Ferien mit der Frage, warum es in dem Laden keine Nutella gab. Das werde ich den Kindern auch erzählen, damit sie wissen, dass mich ihre Gleichgültigkeit nicht stört. Vielleicht kommen sie dann mit.

Meine Wurzeln liegen nicht in diesem Dorf, ich stelle mir nicht vor, dass Menschen Wurzeln haben. Dieses Dorf war und bleibt mir fremd, und doch geht von ihm ein Sog aus. Er saugt meine Eltern an, so kräftig, dass auch ich in seinen Strudel gerate. Vielleicht täusche ich mich, vielleicht spüren sie keinen Sog, und das, was ich mit diesem Ort zu schaffen habe, ist ganz und gar meins. An diesen Ort habe ich meinen Ursprung gesetzt. Wie an einem Fluchtpunkt treffen sich dort alle Fäden, hier liegt der Anfang meiner Familie. Was Unsinn ist, es gibt ja keinen Anfang. Im Anfang war das Wort, aber das hätte Großvater nicht gelten lassen. Ich verschwieg ihm, dass ich in der Schule in den evangelischen Religionsunterricht ging und dienstags in den Schülergottesdienst. In unserer Schule besuchte jedes Kind entweder den evangelischen oder den katholischen Religionsunterricht, und dienstags vor dem Unterricht ging die ganze Schule gemeinsam in die Kirche. Ob man an Gott glaubte oder nicht. Oder an Allah. Großvater sagte: „Das sind zwei Namen, die dasselbe bedeuten“ und ich hatte Angst, er könnte mich bitten, ein muslimisches Gebet aufzusagen. Ich wusste keines, ich konnte nur das Vaterunser. Das sagte ich ihm nicht. Er fragte: „Geht Dein Vater in Deutschland in die Moschee? Fasten Deine Eltern? Beten sie?“ Ich antwortete ihm mit ja. Angelika, meine beste Freundin, würde nach den Ferien wie immer für mich mitbeichten.

Ich glaube nicht an Wurzeln, nicht an Allah und auch nicht an Gott. Aber sollte ich mich täuschen, bin ich mir sicher, dass mich Allah zwischen den Sünderinnen und Sündern herausziehen, mich mit Großvaters weißen Brauen ansehen und „Komm du mal hier rüber zu mir“ sagen wird. Und Gott wird mir nicht helfen können. Unentrinnbar ist das, was mir als meine „eigentliche“ Religion, mein „eigentlicher“ Fleck auf dieser Erde scheint. Unentrinnbar und selbstgewählt. Es kostet Kraft, aus diesem Strudel herauszuschwimmen.

Schwäbisch Gmünd, meine Geburtsstadt, hat diese Saugkraft nicht. Dieser Ort ist nicht mein Anfang, hier komme ich nicht her, obwohl ich genau dort herkomme, aus dem Bauch meiner Mutter direkt in den Kreissaal des hübschen Margaritenhospitals. Die Stadt ist mir vertraut, der Marktplatz, der Brunnen und das Rathaus, die Straßen und der Bus Nummer 4. Immer, wenn ich dort bin, zeige ich meinen Kindern meinen ehemaligen Kindergarten, meinen Hort, meine Schule und die Bushaltestelle, an der ich jeden Morgen ein- und jeden Nachmittag wieder ausgestiegen bin. Sie protestieren nicht mehr, sie hören schon nicht mehr zu und haben kleine weiße Kopfhörer im Ohr. Ich frage mich, ob sie eines Tages mit ihren Kindern durch Berlin-Mitte gehen und auf ihre Schule, ihren Spielplatz und auf das Schwimmbad in der Gartenstraße zeigen werden. „Schaut, und hier habe ich mein Seepferdchen gemacht.“

Neben allem, was ich bin und wer ich bin und was ich mag und was ich kann, was mir Angst macht und was andere über mich sagen, hat das Türkische das größte Gewicht in meinem Selbstverständnis. Es zieht alles mit sich mit. Das hätte es nicht, wäre ich in der Türkei großgeworden, dort wäre es ein Merkmal unter anderen gewesen. Wie bei meinen Cousinen. Das, was ich als „das Türkische“ bezeichne – dieses Land und dieses Dorf, die Sprache und die Religion –, hätten sich nicht zu einem fernen Fixpunkt gebündelt, auf den ich mich unentwegt beziehe.

Dieses Gewicht habe ich dem Türkischen nicht allein gegeben, dazu haben viele mit kleinen Gewichtstücken beigetragen. Meine Eltern, die, als sie neu in Deutschland waren, sicherlich viel von der Türkei gesprochen haben und für die die Frage, wohin wir wirklich gehörten, erst Jahre später relevant wurde. Man sprach von uns und mit uns, und nie fehlte der Bezug zur Türkei. „Du als Türkin“ oder „ihr Türken“.

Bis ins Erwachsenenalter, die ersten zwanzig Jahre meines Lebens, war es völlig normal, dass uns Nachbarn fragten, ob wir im Sommer wieder in die Heimat fahren würden. Dass es sowohl für die anderen als auch für mich klar war, ich bin nicht von hier, obwohl ich genau das war. Das geht. Man lernt, in Gegensätzen zu denken und zu leben, von Anfang an. Schon im Kindergarten wusste ich, dass es etwas Unerhörtes hatte, dass ich so gut Schwäbisch schwätza konnte. Und dass dieses verwunderte Lob kein Grund zur Freude war.

Immer die gleiche Frage

Und am Telefon stets die Großeltern, die noch mit achtzig Jahren fragten, wann ihre Tochter und ihr Sohn endlich wieder zurückkommen würden. Die Tanten, die Onkel, Cousinen und Cousins, immer die gleiche Frage, fast pflichtschuldig, wie Danke und Bitte.

Statt zu sagen, ich käme aus und ich wäre und ursprünglich und eigentlich, statt also zu antworten wie immer und dann wieder in diesem Dorf zu landen, könnte ich den Fixpunkt sprengen und einmal ganz anders von mir erzählen.

Ich schaue mir gern Kleider in Boutiquen an, aber es ist mir unangenehm, sie mit leeren Händen wieder zu verlassen. Ich drehe eine zweite Runde, halte mir eine Bluse vor die Brust oder sehe mir einen Rock genauer an und schiebe den schweren Moment hinaus. Im Schreibwarenladen suche ich lange nach Umschlägen mit Fenster, nie kann ich mich überwinden, die Frau an der Kasse zu fragen. Ich bin schüchtern, aber ich habe keine Scheu vor Mikrofonen oder Publikum. Oft frage ich meine Freunde, ob sie finden, dass ich zu viel rede. Oder wirres Zeug. Meine Freunde sind höflich und sagen nein.

Gummibärchen mag ich nicht, aber Kartoffelchips esse ich gern, die großen, die in der Tüte ganz geblieben sind. Die zerkrümelten schütte ich mir in die hohle Hand und kippe sie mir in den Mund. Am Morgen fühle ich mich besser als am Nachmittag, ich gehe gerne früh schlafen und bewundere Menschen, die bis zwei Uhr wach bleiben können. Nachts stehe ich manchmal schlaflos am Fenster und gucke in die Nachbarsfenster, um zu sehen, ob noch wer wach ist außer mir. Ich habe Angst, jemandem Böses zu wünschen, weil meine Wünsche oft schon in Erfüllung gegangen sind. Manchmal wünsche ich anderen dennoch Böses und sage mir, ihnen wird schon nichts passieren, das ist ja reiner Aberglaube.

So käme man ins Gespräch mit anderen Menschen, viel besser und auf viel interessantere Weise als mit unseren üblichen Fragen nach Beruf und Familie und Wohnort und Urlaub. Wir könnten uns kennenlernen, wie wir es als Kinder getan haben. Im Spiel, beim gemeinsamen Tun und zusammen Machen. Den ganzen Abend zusammen essen und trinken und reden und tanzen und lachen und im Garten sitzen. Und hinterher nicht einmal wissen, wie die andere oder der andere heißt. Was könnten wir erfahren, von dieser Frau mit dem weißen Rock, dort drüben, am Stehtisch?

Vielleicht, dass sie, bis sie 14 war, Eishockey gespielt und nach einem Unfall aufgehört hat. Dass sie Jahre schon nicht mehr auf dem Eis war. Dass sie Dialekte mag und immer versucht zu erraten, woher jemand kommt. Oder sich für Zugfahrpläne interessiert. Spargel mag und Ausschlag von Erdbeeren bekommt. Dass sie bei offenem Fenster schläft oder dass sie Angst vor Hunden hat. Dass sie ihre Hände schön findet, schielen kann und fließend Arabisch spricht.

So könnte ich dem Strudel entkommen. Ich würde gerne wieder malen. Oder zeichnen. Oder beides. Was haben Sie als Kind gern gemacht und aufgehört? Was würden Sie gerne wieder beginnen? Ja, so vielleicht. 

 

Literatur

Dilek Güngörs neuestes Buch „Vater und ich“ ist gerade im Verbrecher Verlag Berlin erschienen, hat 104 Seiten und kostet Euro 19,–.

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