Identitätspolitik ist eine ziemlich komplizierte Sache voll offener Fragen, angefangen mit: Gibt es das überhaupt, „Identitätspolitik“ – oder presst dies Schlagwort nicht eher akademische Strömungen, gesellschaftliche Reformen und politische Aktionen zusammen, die nur wenig verbindet? Es geht weiter mit einem ganzen Dschungel von Forderungen und Phänomen dieser Denkrichtung, die nur schwer verständlich sind für Greenhorns auf diesem Feld: wie zum Beispiel „Sprecherpositionen“, „Mikroaggressionen“ und „Kulturelle Aneignung“, um nur einige Leuchttürme dieser Weltanschauung zu nennen. Man muss sich in die Identitätspolitik richtig hineinarbeiten … und ob sie einem dann als logisch und sinnvoll einleuchtet, ist eine ganz andere Frage.

Man tritt Mithu Sanyal nicht zu nahe, wenn man sie als grundsätzliche Anhängerin der Identitätspolitik beschreibt. Die Düsseldorfer Autorin und Kulturwissenschaftlerin hat nun mit ihrem Buch Identitti etwas Außergewöhnliches gewagt: Sie beschreibt die Grundlagen und Hauptdiskussionen der Identitätspolitik (übrigens ein Begriff, den sie im Großen und Ganzen befürwortet) in Romanform. Das ist fast so kühn wie Umberto Ecos Idee von 1980, mithilfe des historischen Romans Der Name der Rose mal kurz (oder eher lang) in die Mediävistik, die Semiotik, die Philosophie-Geschichte und noch ein halbes Dutzend anderer Forschungszweige einzuführen – verbunden miteinander in einer großen Erzählung, die immer noch ungemein spannend ist und ein weltweiter Mega-Bestseller wurde.

Eco hat das geschafft. Und Sanyal? Man darf, kurz zusammengefasst, den Hut vor ihr ziehen und sagen: Ihr Ziel, die Erklärung der Identitätspolitik in Romanform, hat sie mit Identitti im Großen und Ganzen erreicht. Wer dieses über 430 Seiten starke Buch liest, hat einen ordentlichen Einstieg in dieses komplexe Gedankengebäude bekommen, und das in einer Sprache, die, naja, für fast jeden und jede zugänglich ist, auch wenn es, zugegeben, schon hilft, wenn man seine Nase schon einmal in geisteswissenschaftliche Proseminare hat stecken können.

Die Handlung ist schnell erzählt: Eine hoch angesehene Professorin der Universität Düsseldorf, Saraswati (ohne Vornamen), die dort Postcolonial Studies lehrt und indischer Herkunft zu sein scheint, hat einen Kreis von studentischen Fans vor allem migrantischer Herkunft um sich geschart, denen sie identitätspolitische Ansätze vermittelt – und zugleich in fast mütterlicher Weise Stolz auf ihre Identität und Herkunft. Doch plötzlich wird aufgedeckt: Saraswati ist gar nicht indischer Herkunft. Und sie ist eigentlich weißer Hautfarbe! Fast alles ist ein großer Betrug! Besonders verletzt ist Nivedita, die so etwas wie die Lieblingsstudentin Saraswatis ist. Wie Nivedita, die autobiografische Züge Sanyals trägt, nun versucht, diesen großen Verrat ihres akademischen Stars zu verstehen und damit umzugehen, davon handelt der Roman.

Tatsächlich gelingt es der Autorin, aus diesem Stoff eine insgesamt gelungene Erzählung zu formen – auch wenn die de facto dozierenden Passagen über Identitätspolitik nach meinem Geschmack etwas zu zahlreich und oft zu lang sind, da geht zu viel Spannung verloren. Dem Roman hätte es auch gutgetan, um etwa hundert Seiten gekürzt zu werden; weniger Gespräche und etwas mehr Handlung wären auch schön gewesen. Zugleich aber liefert das auch als ein Entwicklungsroman zu verstehende Werk so viele fesselnde Passagen, Einblicke in das Studentenleben von heute, Beziehungsdramen unterschiedlichster Art, viele treffende Formulierungen und nicht zuletzt ziemlich viel Humor, dass man sagen muss: Dies ist ein sehr reiches, kluges und insgesamt gelungenes Buch. Sicher, Sanyal ist kein Eco, Identitti nicht Der Name der Rose. Aber der Roman ist lehrreich, lesenswert – und er wird bleiben.

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