Ein Beitrag zur Spaltung

Warum ich weiterhin gegen eine Impfpflicht bin

Nach längerer urlaubsbedingter Internet-Abstinenz bin ich vor einigen Tagen auf den Beitrag von Ingo Reuter gestoßen, den ich mit Interesse gelesen habe, zumal er sich auf einen Text von mir bezieht, dessen Überschrift („Impfpflicht? Nicht im Ernst, oder?“) von der Redaktion stammte. Mit Recht kritisiert Reuter, prägnanter als ich es getan habe, das staatlich propagierte und medial flankierte „Corona-Impfungs-Nudging“ als „unehrlich und tendenziell entmündigend“.

Zugleich wird aber auch deutliche Kritik an der Stoßrichtung meines Votums geäußert. Nicht das faktische Ziel der deutschen Corona-Politik, die Durchsetzung einer Impfpflicht, hält Reuter für problematisch, sondern lediglich den Weg, auf dem dieses Ziel bisher zu erreichen versucht wurde. Ganz ähnlich hat sich übrigens der Philosoph Markus Gabriel in einem Interview geäußert. Ich bin hier dezidiert anderer Auffassung und möchte dies im Folgenden begründen.

Im Hintergrund meiner Position scheint Reuter einen „neoliberal-konsumistischen Freiheitsbegriff“ zu vermuten, der unangemessener Weise auch dort noch die individuelle Freiheit zum Zuge bringen will, wo diese „aufgrund der Gefahr von Ansteckung, Überbelegung von Intensivstationen, Ausbreitung und weiterer Mutation des Virus […] gesellschaftliche Implikationen hat“. Schlichter formuliert: Wo durch das Ausleben individueller Freiheit die Freiheiten anderer eingeschränkt und jene gesellschaftliche Strukturen gefährdet werden, auf denen unser aller Freiheitspraxis basiert, dort sind Freiheitsbeschränkungen nicht nur möglich, sondern sogar geboten.

Keine sterile Immunität

Dem stimme ich uneingeschränkt zu, und ein aufgeklärter Liberalismus (Otfried Höffe) weiß das alles längst. Die Frage ist allerdings, welche Argumente für oder gegen eine Impfpflicht sich daraus ableiten lassen. Um hier einer Klärung näher zu kommen, muss ich etwas tun, das ich in meinem oben erwähnten Beitrag mangels Fachverstand bewusst unterlassen hatte; ich muss mich auf medizinische und medizinstatistische Argumente beziehen, deren Richtigkeit ich mangels eigener Kompetenz nicht so gut beurteilen kann, wie ich es gern würde. Hinzu kommt, dass sich nach meinem Eindruck aus den verfügbaren Informationen derzeit noch kein kohärentes Gesamtbild ergibt. Insofern sind meine Überlegungen, das machen die Formulierungen auch deutlich, vorläufig und reversibel – was faktisch, wenn auch oft uneingestandener Maßen, von allen Äußerungen zum Thema gilt.

Es dürfte zustimmungsfähig sein, dass durch die Impfung gegen SARS-CoV-2 keine sterile Immunität erreicht wird. Konkret heißt das: Auch Geimpfte können sich infizieren und die Infektion an andere weitergeben. Allerdings scheint ebenso zu gelten, dass Geimpfte im Infektionsfall zumeist vor schweren Verläufen geschützt sind. Für Menschen, die für sich das Risiko eines schweren Verlaufs gern minimieren wollen, ist das eine gute Nachricht. Zugleich freilich zeigt der momentane Blick etwa nach Israel oder Island, dass hohe Impfquoten mit hohen Infektionszahlen einhergehen können. Im Blick auf die auch in Deutschland zu verzeichnende steigende Zahl von Infektionen bei Geimpften werden vom zuständigen Minister bereits Auffrischungsimpfungen („Booster-Impfungen“) ins Spiel gebracht, gern für alle, die es wollen, und wenn es nach Jens Spahn geht, sollten alle es wollen. Gerade die dann dreifach Geimpften müssten keinerlei Angst vor einer Infektion mehr haben. Denn sie sind, wenn die Impfungen halten, was sie versprechen, sowohl vor ihresgleichen (also vor infizierten Geimpften) als auch vor Ungeimpften hinreichend geschützt.

Was die Ungeimpften angeht, so muss unterschieden werden zwischen den (noch) Nicht-Infizierten und den Genesenen, einer Gruppe, die gut 94% der bestätigten Coronavirus-Fälle in Deutschland umfasst. Diese Menschen haben eine natürliche Immunität gegen das Virus ausgebildet, durch die sie, wie eine auf Spiegel Online ausgewertete Studie aus Israel zeigen soll, vor dem Virus signifikant besser geschützt sind als Geimpfte. Dass sie sich infizieren und die Infektion an andere weitergeben, tritt bei dieser Gruppe also seltener auf als bei der der Geimpften; ob sich diese Feststellung auch langfristig als richtig erweist, kann derzeit nicht gesagt werden.

Persönliche Risikoabwägung

Wäre es nun, die Validität des Ergebnisses der Studie vorausgesetzt, gesundheitspolitisch nicht vernünftig, auf Impfangebote für diese Personen vorerst grundsätzlich zu verzichten? Derzeit gelten Genesene allerdings lediglich als Ungeimpfte im Wartestand mit einer „Schonfrist“ von maximal sechs Monaten.

Doch nun zu denen, die für die politischen Bekämpfer der Pandemie das entscheidende Ärgernis sind, also diejenigen Ungeimpften, die entweder noch nicht infiziert waren oder nicht mehr als genesen gelten (die Gruppe jeder Ungeimpften, die für eine Corona-Impfung aus derzeit noch politisch akzeptierten medizinischen Gründen nicht infrage kommen, mag hier unberücksichtigt bleiben). Dabei handelt es sich um Menschen, deren jeweils persönliche Risikoabwägung zu einem anderen Ergebnis geführt hat als die der Geimpften: Sie rechnen, zumeist auch aufgrund ärztlicher Beratung, damit, dass sie im Infektionsfall keinen schweren Verlauf zu erwarten haben. Die Frage ist nun: Für wen sind diese Personen eine Gefahr? Für die Geimpften eher nicht, die sind ja geschützt. Für andere Ungeimpfte? Hier kommen zunächst die gerade erwähnten nicht Impffähigen infrage. Diese können allerdings prinzipiell auch von infektiösen Geimpften angesteckt werden, wenn auch möglicherweise in geringerem Maße.

Insgesamt gilt: Hier gibt es zwar ein Problem, über das man nachdenken muss; aber angesichts der komplexen Gesamtkonstellation sollten nicht voreilig einfache Lösungen propagiert werden, schon gar nicht, wenn sie mit einer Einschränkung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit verbunden sind, denn genau darum würde es sich im Fall der Impfpflicht handeln.

Unbestritten ist allerdings: Die selbstbestimmt Ungeimpften können eine Gefahr für ihresgleichen sein. Zwar ist dieses Risiko in ihre Entscheidung eingepreist, aber, so muss man fragen, werden nicht durch die dann vielleicht doch akut werdenden schweren Krankheitsverläufe die vorhandenen und teuren Intensivbettenkapazitäten überstrapaziert? Gehen die denkbaren und von der Website „Der Postillon“ satirisch imaginierten Treffen der Impfgegner auf Intensivstationen nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten?

Zweifel angebracht

Nun gilt grundsätzlich, dass es immer wieder Menschen gibt, die aufgrund ihres Lebenswandels und ihrer Risikoabwägungen durchaus vermeidbare kostenintensive medizinische Behandlungen benötigen. Deshalb dürfte man sich, wollte man hier mit rechtlichen Regelungen eingreifen, nicht auf die Ungeimpften beschränken. Und deshalb steht dieses Thema auch auf keiner politischen Agenda. Die grundsätzlich ganz unplausible Fokussierung Ungeimpfter wird nun im speziellen Fall regelmäßig begründet mit dem Hinweis, die Lage auf den Intensivtherapiestationen in den deutschen Krankenhäusern sei angespannt. In der jüngeren Vergangenheit wurden mit diesem Hinweis auch immer wieder Einschränkungen des öffentlichen Lebens, Kontaktbeschränkungen u.ä. legitimiert.

An solchen Lagebeschreibungen waren und sind allerdings Zweifel angebracht. So hat das Robert Koch-Institut im Januar 2021 die dann auch vom Bundesrechnungshof aufgenommene Vermutung geäußert, dass die im DIVI-Intensivregister erfassten Behandlungskapazitäten – die Datenbasis der Lagebeurteilung – für eine sachgerechte Bewertung der Situation ungeeignet sind, weil Krankenhäuser zum Teil weniger intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten, als tatsächlich vorhanden waren, um eine Gewährung von Ausgleichszahlungen zu erreichen. Ob es die von Reuter angesprochene „Überbelegung von Intensivstationen“ in der Vergangenheit tatsächlich gegeben hat, ist also alles andere als klar. Und was die zukünftige Entwicklung angeht, so gibt es, wie Elisa Hoven kürzlich in der „Leipziger Volkszeitung“ festgestellt hat, erst recht keine Anhaltspunkte für eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems; diese „wird mit der Impfung der Risikopatienten auch zunehmend unwahrscheinlicher“.

Auch mit der Situation des Gesundheitssystems lässt sich also – so jedenfalls scheint es mir – eine Impfpflicht nicht rechtfertigen; eine Einschränkung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit bräuchte triftigere Gründe. „Nicht der Gebrauch der Freiheit ist zu begründen, sondern die Eingriffe in diese Freiheit sind es.“ Diesen schlichten, aber richtigen Grundsatz hat der Rechtsphilosoph Horst Dreier im August 2021 in der „Welt am Sonntag“ in Erinnerung gerufen, und ihn sollten sich all die Menschen zu Herzen nehmen, die derzeit Regeln ersinnen, begrüßen und implementieren, die den Zweck verfolgen, Ungeimpften das Leben so schwer wie möglich zu machen. Wer so agiert, trägt nach meiner Überzeugung weniger zur Förderung der „Volksgesundheit“ bei, sondern leistet eher einen weiteren Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft in feindliche Lager.

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Rochus Leonhardt

Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Universität seiner Geburtsstadt Leipzig Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik.


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