Krieg im ersten christlichen Land der Welt

Armenien und die umkämpfte Region Berg-Karabach
Das alte Kloster Khor Virap nahe des Berges Ararat wurde Mitte des 7. Jahrhunderts gegründet.
Fotos: picture alliance
Das alte Kloster Khor Virap nahe des Berges Ararat wurde Mitte des 7. Jahrhunderts gegründet.

Auch wenn die erst 2020 wieder aufge­flammte Auseinandersetzung um die Region Berg-Karabach in erster Linie ein ethnisch-nationaler Konflikt ist, der sich im Ringen um ein Territorium immer wieder neu entzündet – ohne die religiöse Dimension ist dieser rund hundertjährige blutige Streit nicht zu verstehen, erklärt Andreas Goetze, Landeskirchlicher Pfarrer für den Interreligiösen Dialog der Kirche Berlin-Brandenburg.

Armenien liegt am Fuße des Ararat, dem Berg, auf dem der Tradition nach Noah mit seiner Arche zum Stehen kam, „nahe am Paradies“: Denn hier entspringen der Tradition nach die vier Paradiesflüsse, die im Buch Genesis erwähnt werden. Ein Besuch in Armenien ist eine Pilgerreise zu dem ersten christlichen Land unserer Erde, in dem das Christentum bereits 301 Staatsreligion wurde. Schon im ersten Jahrhundert, so erzählt die Legende, haben die Apostel Bartholomäus und Judas Thaddäus die Lehre Jesu nach Armenien gebracht. So wurde der christliche Glauben in Armenien zur Staatsreligion, noch bevor Kaiser Konstantin das Christentum im römischen Reich anerkannte und Kaiser Theodosius es im Jahr 380 zur Staatsreligion erklärte.

Das Christentum bildete von da an das neue geistige Fundament Armeniens. Die Menschen in Armenien sind nicht unbedingt religiös, obwohl gut 92 Prozent offiziell der „Heiligen Armenisch-Apostolischen Kirche“ angehören. Dennoch ist die christliche Religion bis heute wesentlicher Teil der Identität des armenischen Volkes.

Zu Armeniens christlichem Erbe gehören nicht nur die zahlreichen Klöster, sondern auch Manuskripte, Liturgien und vor allem die Kreuzsteine, die „Chatschkare“. Überall in den Gebieten des alten Armenien bezeugen sie die Geschichte des ältesten christlichen Landes der Welt mit eigener Sprache: Im Jahr 404 erschuf der Mönch Mesrop Maschtoz das armenische Alphabet und bereitete damit den Weg für die Übersetzung der Bibel und die Ausprägung einer eigenen armenisch-christlichen Identität. Auch in der Diaspora (etwa sieben Millionen Menschen) wird die Sprache gepflegt.

Diese reiche Kultur ist immer wieder bedroht. Das wissen die Armenier aus ihrer langen leidvollen Geschichte. Wenn heute der türkische Präsident Erdoğan davon spreche, „das zu beenden, was die Vorfahren begonnen hatten, könnten die Armenier nicht einfach wegsehen.

Und das sollte die Welt auch nicht!“, sagt Vartkes Alyanak, Vorsitzender der armenischen Gemeinde zu Berlin. „Es geht nicht um ein Stück Land, es geht um die Existenz eines ganzen Volkes mit langer, aber trauriger Geschichte. Die Menschen in Berg-Karabach wissen, dass sie diesen Kampf entweder gewinnen werden oder aber das armenische Leben auch in Berg-Karabach für immer ausgelöscht sein wird.“

Auch wenn der vor allem 2020 wieder aufgeflammte Konflikt um die Region Berg-Karabach in erster Linie ein ethnisch-nationaler Konflikt ist, der sich im Ringen um ein Territorium immer wieder neu entzündet, ist er ohne die religiöse Dimension nicht zu verstehen, die bei aller Distanz zu einem gelebten Glauben identitätsstiftend ist. Als Land mit christlich-kultureller Prägung ist Armenien in der Region (fast) isoliert. Nur im Norden mit Georgien hat das kleine Land eine Grenze zu einem christlichen Nachbarn, zu dem auch kein konfliktfreies Verhältnis besteht. Die Türkei und Aserbaidschan haben Armenien schon lange in die Zange genommen.

Allein zwischen 1894 und 1896 wurden unter der Herrschaft von Sultan Abdülhamid II. (einem engen Verbündeten des damaligen deutschen Kaisers Wilhelm II.) bis zu 300 000 Armenier von der osmanischen Obrigkeit und den mit ihr verbündeten kurdischen Hamidiye-Banden ermordet. 1915 setzten die sogenannten „Jungtürken“ im Schatten des Ersten Weltkriegs mit stillschweigender Duldung der Regierung des Deutschen Reichs einen Völkermord an der armenischen Bevölkerung fort, der bis heute von der Türkei nicht als solcher anerkannt wird. Ihm fielen bis zu anderthalb Millionen Armenier zum Opfer. Die Mehrheit von ihnen wurde auf Todesmärschen in die mesopotamische Wüste getrieben. Entsprechend analysiert der Ostrechts-Experte Otto Luchterhandt die komplexen geistesgeschichtlichen, ethischen und religionspolitischen Ursachen des gegenwärtigen Konflikts: „Der Streit um Berg-Karabach (Armenisch: Arzach) ist der älteste der ungelösten interethnischen Konflikte auf dem Territorium der untergegangenen Sowjetunion und der einzige, der zwei ihrer ehemaligen Unionsrepubliken –Armenien und Aserbaidschan –entzweit. Dass man ihn bis heute nicht hat lösen können, ist denn auch kein Zufall, denn der Konflikt hat tiefere Wurzeln als alle sonstigen interethnischen Konflikte im postsowjetischen Raum. Seinen Grund hat er letztlich in der Pathologie des türkisch-armenischen, armenisch-türkischen Verhältnisses seit dem 19. Jahrhundert, die in dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 ihren Gipfel erreichte. Mit dieser Geschichte aber sind die aserbaidschanisch-armenischen Wechselbeziehungen im 20. Jahrhundert auf mannigfache Weise verwoben.“

Die Region Berg-Karabach, eine im östlichen Südkaukasus gelegene Bergregion, wird seit Jahrhunderten überwiegend von Armeniern bewohnt. Die zahlreichen uralten Kirchen und Klöster lassen die kulturelle Prägung dieser Region erkennen. Vor dem Krieg im Herbst 2020 lebten dort knapp 150 000 Armenier.

Seit gut hundert Jahren wird um dieses Gebiet gerungen. Der Berg-Karabach-Konflikt hat „seine Hauptursache in falsch gezogenen Grenzen. (…) Denn obwohl Karabach in den 1920er Jahren sogar zu über 90 Prozent von Armeniern besiedelt war und zur benachbarten Republik Armenien ein ununterbrochener armenischer Siedlungszusammenhang bestand, entschied die Führung der Kommunistischen Partei Sowjetrusslands (…) noch vor Gründung der UdSSR (30.12.1922), (…) Berg-Karabach mit dem Status eines Autonomen Gebiets der Sowjetrepublik Aserbaidschan zuzuschlagen. Die am 5. Juli 1921 getroffene Entscheidung war maßgebend von Stalin unter massivem türkischen Druck herbeigeführt worden. Das armenische Volk hat sich mit der Entscheidung, die allzu offenkundig dem von Lenin und den Bolschewiki in der Oktoberrevolution feierlich verkündeten Selbstbestimmungsrecht der Völker widersprach, niemals abgefunden“ (Otto Luchterhand). Die Aserbaidschaner werden auch Aseris genannt.

De-facto-Sieg Armeniens 1994

So sagten sich die Bewohner von Berg-Karabach in einer Volksabstimmung 1991 im Zuge der Selbstauflösung der Sowjetunion von Sowjet-Aserbaidschan wieder los. „Mit dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 mutierte der innerstaatliche Konflikt zwischen Armeniern und Aseris zu einem zwischenstaatlichen Krieg, der Mitte 1994 mit einem De-facto-Sieg Armeniens endete“, bilanziert der Konfliktforscher Leo Ensel.

Mit der Eroberung von Arzach und eines territorialen Korridors zum Kernland sowie der strategischen Besetzung von sieben Anrainerprovinzen als Pufferzone hatten die Armenier ihre Kriegsziele erst einmal erreicht. Armenien erklärte Berg-Karabach zur Republik. Ein Waffenstillstandsabkommen wurde ausgehandelt und am 12. Mai 1994 in Moskau unterzeichnet. „Der Krieg im Südkaukasus hatte Zehntausende Menschen das Leben gekostet, von beiden Seiten waren – auch das gehört zur Wahrheit – Massaker an der Zivilbevölkerung verübt worden und die bis dato in Karabach lebenden Aseris mussten ihre Heimat Richtung Aserbaidschan verlassen, wo die Mehrheit von ihnen seitdem in Flüchtlingscamps vegetiert.“ ( Leo Ensel). Die Republik Nargony-Karabach ist völkerrechtlich nicht anerkannt worden. Die Frage der völkerrechtlichen Gültigkeit der Abspaltung ist aber weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick scheint. „Die Abspaltung Berg-Karabachs war nicht nur legitim, sie war legal, denn sie vollzog sich konform zum damals geltenden sowjetischen Staatsrecht“, führt Leo Ensel weiter aus.

Es bestehen kaum Zweifel, dass Aserbaidschan den Krieg, der vom 27. September bis zum 10. November 2020 dauerte, mit Hilfe der Türkei herbeigeführt hat. Es war nicht der erste Versuch des postsowjetischen Aserbaidschan, Berg-Karabach wiederzugewinnen. Davon zeugen die andauernden Grenzzwischenfälle, die nach dem Krieg von 1992 – 94 zu beobachten waren.

Letztlich kamen die kriegerischen Auseinandersetzungen im Herbst 2020 also nicht überraschend. Doch hätte sich Aserbaidschan wohl kaum zum offenen Krieg hinreißen lassen, wenn es nicht vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dazu ermuntert worden wäre.

Nach dem Krieg vereinbarten Armenien und Aserbaidschan Anfang November 2020 einen von Russland vermittelten Waffenstillstand. Dieser verhinderte den vollständigen Zusammenbruch Armeniens. Gleichzeitig verschleiert er den wahren Charakter dieses Zermürbungs- und Vertreibungskrieges durch Aserbaidschan und die Türkei und verstärkt die Flucht und Vertreibung der Armenier aus Arzach. Wehmütig sagt Arnoush, die als Reiseleiterin in Armenien arbeitet: „Überall sind dort wunderbare Granatäpfel-Gärten. Aber jemand anderes wird nun die Ernte einfahren.“

„Die Türken haben uns schon gewarnt“, sagte der armenische Soziologe und Historiker George Hintlian schon 2005. Anfang der 1990er-Jahre habe der ehemalige türkische Ministerpräsident Turgut Özal betont, die Armenier sollten nicht vergessen, was 1915 passiert sei. „Es war das einzige Mal, dass ein türkischer Politiker zugegeben hat, dass überhaupt etwas passiert ist, wenn auch nur indirekt. Die Türken werden sich hüten, Armenien anzugreifen. Aber ihre Verbündeten in Aserbaidschan könnten es stellvertretend für sie tun. Wir haben uns um Armenien weniger Sorgen gemacht, als das Land noch eine sowjetische Republik war.“

Das Ziel der Türkei ist schon seit langem, den Land-„Korridor“ zu durchbrechen, um eine direkte Verbindung zwischen Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan herzustellen, die zu Aserbaidschan gehört, aber südwestlich zwischen der Türkei und Armenien gelegen nur über den Iran erreicht werden kann. Dazu würde man am liebsten den gesamten südlichen Teil von Armenien abtrennen –was für die Armenier eine wirtschaftliche Katastrophe wäre, ist doch der Iran für sie der wichtigste Handelspartner in der Region. Armenien hatte es aber in den letzten Jahren versäumt, sich diplomatisch und auch militärisch neu aufzustellen, und die Bedrohungslage unterschätzt.

Schmaler Korridor

Nun hat man den Krieg verloren und musste ein von Russland diktiertes Waffenstillstandsabkommen unterzeichnen, das einer Demütigung gleichkommt. Nicht nur die sieben Anrainerprovinzen, die als Pufferzone dienten, sondern auch Teile der Region Arzach mussten an Aserbaidschan abgetreten werden. Nur ein
schmaler Korridor verbindet Armenien nun noch mit Berg-Karabach. Die Angst, ganz ausgelöscht zu werden von den beiden turkmenischen Bruderstaaten im Osten und Westen, ist allgegenwärtig.

Die Geschichte Armeniens und der Armenier ist von Tragik bestimmt. Schon oft fühlten sich die Armenier von der Weltgemeinschaft vergessen. Deutschland hat daran einen historischen Anteil. Auch deshalb darf es jetzt kein Schweigen und Wegschauen geben. Nicht nur der künftige Status von Berg-Karabach bleibt offen. Gegenwärtig befinden sich die armenische Bevölkerung des Südkaukasus und ihr christlich-kulturelles Erbe in existentieller Gefahr. Der Konflikt um Arzach kann sich auf ganz Armenien ausweiten und das Land auslöschen. Unsere christlichen Geschwister in der ganzen Region brauchen unsere Solidarität, unsere Gebete und aktuell vor allem unsere politische Unterstützung. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Andreas Goetze

Dr. Andreas Goetze ist Landeskirchlicher Pfarrer für interreligiösen Dialog der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Religion"