Glut unter der Asche

Schöpfungszweifel, die Rückkehr Jesu und ein Kuss. Fjodor Dostojewski zum 200. Geburtstag
„Unvergessbare Figuren hat dieser Russe geschaffen, die so gut wie alles zeigen, wozu Menschen, zerrissen zwischen Geist und Trieb, zwischen Mordlust und Moral, zwischen Lust und Laster, fähig sind.“
Fotos: akg
„Unvergessbare Figuren hat dieser Russe geschaffen, die so gut wie alles zeigen, wozu Menschen, zerrissen zwischen Geist und Trieb, zwischen Mordlust und Moral, zwischen Lust und Laster, fähig sind.“

Dass krisensensible Schriftsteller und Theologen im 20. Jahrhundert bedeutende Dostojewski-Interpreten waren, sei kein Zufall, meint Karl-Josef Kuschel. Der Theologe und Literatur­experte beschreibt aus Anlass des 200. Geburtstages von Fjodor Dostojewski seine persönliche Leseerfahrung mit „Die Brüder Karamasow“. Der Roman des russischen Schriftstellers stellte auch an seinen Glauben erschütternde Fragen.

Es gibt sie, die lebensprägenden Lese­erfahrungen, aufstörend in der Wucht ihrer Wahrheit. Sie bleiben für immer, unauslöschbar, unüberspielbar. Für mich gehören zwei Kapitel aus Fjodor Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow dazu: „Die Revolte“ und „Der Großinquisitor“. Ich lernte sie zu Beginn meines Literatur- und Theologiestudiums Anfang der 1970er-Jahre in Tübingen kennen, und sie „zwangen“ mich in ihrer Unerbittlichkeit, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer Rede von Gott gewissenhaft zu prüfen, 90 Jahre Zeitdistanz hin oder her. Mag auch die Dostojewskische Gottesleidenschaft in der Gesellschaft um mich herum einer Gottesvergleichgültigung gewichen sein, aber die Glut unter der Asche gibt es noch, jedenfalls für mich. Wer dann wie ich tiefer in die Welt der Theologie einzudringen bereit war, tat dies auch „nach Dostojewski“. Im Wissen also um „Die Revolte“ und „Der Großinquisitor“.

„Die Brüder Karamasow“, ein „Roman in vier Teilen mit einem Epilog“, ist das letzte Werk dieses am 11. November 1821 in Moskau geborenen großen russischen Schriftstellers, 1879/80 erschienen, ein Jahr vor Dostojewskis Tod. Dieses meisterlich geschriebene, ebenso vielstimmige wie vielschichtige Buch ist immer beides zugleich: ein Zeit-, Gesellschafts- und Ideenroman, der die Krise des zaristisch-orthodoxen Russland im späten 19. Jahrhundert schonungslos zu spiegeln weiß, all die sozialen Spannungen, politischen Konflikte, gesellschaftlichen Verwerfungen, und zugleich ein Kriminal- und Psychoroman, der „die Größe und das Elend“ alles Menschlichen im grellen Licht zu zeigen versteht. Unvergessbare Figuren hat dieser Russe geschaffen, die so gut wie alles zeigen, wozu Menschen, zerrissen zwischen Geist und Trieb, zwischen Mordlust und Moral, zwischen Lust und Laster, fähig sind: einen Fjódor Páwlowitsch Karamasow, mehr Wüstling als Vater, und dessen vier Söhne, gezeugt mit drei verschiedenen Frauen: Dimitri, Iwan, Aljóscha und Ssmerdjaków. Im jeweiligen Charakter denkbar konträr, lässt Dostojewski diese seine Figuren in einem Riesenwerk aufeinanderprallen. Die besondere Fähigkeit dieses Dichters, sich in unterschiedlichste menschliche Seelen einzufühlen und sie bis in letzte Regungen und Motive freizulegen, kommt hier zur Vollendung, schon erprobt in großen Romanen wie „Verbrechen und Strafe“ (1866), „Der Idiot“ (1868) und „Die Dämonen“ (1873).

Aufeinanderprallen aber lässt der Roman vor allem zwei völlig konträre Vorstellungen von Gott, Welt, Glauben und Moral, verkörpert in den beiden jüngeren Brüdern Iwan und Aljóscha. Denn Dostojewski reagiert in diesem Buch auf die epochale geistige Krise des Jahrhunderts, die von Europa ausgehend auch in Russland tiefe Spuren hinterlassen hat: die Kritik von Glauben, Kirche, Religion und Moral durch eine kritische Philosophie, angefangen bei Voltaire und den französischen Materialisten bis hin zu Feuerbach und Marx. In Iwan Karamasow zeichnet der Dichter die Figur eines scharfsinnigen russischen Intellektuellen, der durchschaut hat, dass der Verlust des Glaubens an Gott und Unsterblichkeit zugleich auch den Verlust von moralischen Bindungen nach sich ziehen wird.

Aus dem Verlust Gottes und damit aus dem Verlust religiöser Rückbindungen folgt der Verlust von verbindlichen Werten und unbedingten Normen, kurz: der Verlust eines allgemein verpflichtenden Sittengesetzes und allgemein anerkannter moralischer Maßstäbe. Was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1944 dann – angesichts der durch den Faschismus und Militarismus verschärften Weltkrise – als „Dialektik der Aufklärung“ analysierten, sieht sich in der von Dostojewski beschriebenen Welt vorweggenommen. Kein Zufall, dass die krisensensibelsten Schriftsteller und Theologen im 20. Jahrhundert sich als bedeutende Dostojewski-Interpreten auszeichneten: Schriftsteller wie Hermann Hesse (1919) und Stefan Zweig (1929) sowie Theologen wie Karl Barth (1921) und Eduard Thurneysen (1927) auf evangelischer und Romano Guardini (1933), Hans Küng (1985) und Eugen Drewermann (2004) auf katholischer Seite.

Iwan ist denn auch die Dostojewskische Experimentalfigur, mit der die Probe aufs Exempel gemacht wird. Denn diesen Karamasow lässt der Dichter mit allem Scharfsinn den Gedanken durchspielen, dass für den, der weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glaubt, sich „das sittliche Gesetz der Natur in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln“ und dass „der Egoismus, sogar bis zum Verbrechen, dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg aus seiner Lage anerkannt werden“ muss. Die praktischen Folgen dieses Gedankenspiels liefert Iwan gleich mit, als er am Ende mit logisch eiskalten Vernunftgründen seinen Halbbruder Ssmerdjaków zum Mord an seinem Vater aufstachelt, für den dann aber Dimitrij auf Grund eines Fehlurteils vor Gericht verurteilt wird.

Dem Autor verfallen

Der tiefere Grund für Iwans Absage an Gott aber liegt an seiner Wahrnehmung der Welt als Gottes Schöpfung. Schon im „Fünften Buch“ mit dem Titel „Pro und Contra“ kommt es im Gespräch mit seinem jüngeren Bruder zu den Passagen, die mich auf immer diesem Autor „verfallen“ sein ließen. Er weiß, Aljóscha ist als Klosternovize ganz erfüllt von ernsthafter christlicher Frömmigkeit und gewissenhaft tätiger Nächstenliebe. Das aber reizt ihn gerade zum Widerspruch. Diesen Christen will er provozieren. Dabei ist er bereits des Streites um die Existenz oder Nichtexistenz Gottes überdrüssig und gibt anfangs spielerisch-gönnerhaft zu, dass er „einen Gott schlicht und einfach hinnehme“. Nur um hinzuzufügen, dass er zugleich aber die Welt, die Gott geschaffen habe, nicht hinnehme. Warum nicht? Aus Empörung. Worüber?

Und dann erzählt Iwan wie im Rausch von einer schier unendlichen Geschichte der Leiden, die Menschen sich in dieser Gotteswelt wechselseitig zufügen. Er hat sie gesammelt, solche Geschichten „bestialischer Grausamkeiten“, die so zu nennen beleidigend für die Tiere sei; denn diese seien niemals so grausam wie Menschen sein können – auch Tieren gegenüber. Und das schlimmste Leiden ist das der unschuldigen Kinder, welche die Züchtigungen ihrer Eltern ertragen müssen. Ausführlich erzählt Iwan denn auch die Geschichte von einem fünfjährigen Mädchen, das seinen – durchaus „ehrenwerten“, „gebildeten“ – Eltern plötzlich so verhasst geworden sei, dass sie es geschlagen und gequält hätten. Bei Frost und Kälte hätten sie ihr eigenes Kind im Abort eingesperrt, weil es sich nachts nicht gemeldet hätte. Sie hätten sein kleines Gesicht mit dessen Kot beschmiert, ja es zur Strafe gezwungen, diesen Kot auch noch zu essen. Iwan stellt sich vor, wie das Kind sich „mit den winzigen Fäustchen an die zerschundene Brust schlägt und in Kälte und Dunkelheit, unter blutigen, arglosen, sanften Tränchen zu seinem ‚lieben Gott‘ ruft, er möge es schützen“.

Was also soll dieser ganze Widersinn in der Schöpfung? Warum kann Gott ein solches Geschöpf wie den Menschen wollen? Wozu all die Leiden Unschuldiger, die obendrein noch ungesühnt bleiben und alles Gerede von einer letzten Gerechtigkeit zerplatzen lassen? Denn selbst wenn die Peiniger in die Hölle kämen: Würde das erlittene Leiden der Unschuldigen dadurch wieder gutgemacht? „Wozu brauche ich die Rache, wozu brauche ich die Hölle für die Peiniger, was kann die Hölle wiedergutgemacht, wenn sie schon zu Tode gemartert sind?“, ruft Iwan. Er will keine billige Gnade, keine billige Versöhnung und Vergebung, weil die gemarterten Toten keine Stimme mehr haben. Und weil das so ist, weil das Leiden Unschuldiger zur unauslöschbaren, unvergebbaren, unsühnbaren Signatur von Gottes Schöpfung gehört, weil der Glauben an eine „höchste Harmonie“ zerbrochen ist, ist Iwan Karamasow entschlossen, Gott die „Eintrittskarte“ in seine Schöpfung zurück zu geben: „Nicht dass ich Gott nicht hinnähme, Aljóscha; ich retourniere nur ehrerbietigst das Billett.“

Versteht man, warum ich, aufgewachsen in einer „gut katholischen“ Familie und Gemeinde, durch die Dostojewski-Lektüre meinen angelernten Gottesglauben einer unerbittlichen Bewährungsprobe hatte aussetzen müssen? Die Narrative und Schlussfolgerungen des Iwan Karamasow? Waren sie nicht erzählerisch bedrückend und in ihrer Konsequenz einfach zwingend? Was sollte mich hindern, dem Schöpfergott ebenfalls die Eintrittskarte in seine Schöpfung zurückzugeben?

Noch aber ist das Bruder-Bruder-Drama nicht zu Ende. Es folgt ein „zweiter Akt“. Er geht aus von der Frage, die Iwan selber aufgeworfen hatte: Das Leiden all der Unschuldigen bleibt ungesühnt, denn es gibt nun einmal auf der ganzen Welt kein Wesen, „das vergeben könnte und das Recht dazu hätte“. Hier hakt der Bruder ein: In der Tat gäbe es ein solches Wesen, behauptet er, das alles und jedem vergeben könne, „weil er selbst sein schuldloses Blut für alle und alles geopfert“ habe.

Darauf aber hat Iwan nur gewartet, denn zu diesem Jesus Christus hatte er sich eine besondere Geschichte ausgedacht. Er lässt sie in Sevilla spielen, zur Zeit, als in Spanien die Inquisition der katholischen Kirche wütet. Gezielt hier lässt er Jesus auf die Erde zurückkehren. Alle im Volk erkennen ihn, wie er wortlos durch die Menge schreitet „mit dem stillen Lächeln unendlichen Erbarmens“. Und wie einstmals heilt er einen blinden Mann, erweckt ein totes Mädchen und die Massen folgen ihm aufs Neue wie gebannt. Dann lässt ihn der anwesende greisenhafte Kardinal-Großinquisitor verhaften und ins Gefängnis werfen. Dort sucht er ihn auf, und es kommt zu einer monologischen Abrechnung, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht. Die ihnen von Jesus gegebene Freiheit habe die Menschen heillos überfordert, wütet der Greis. Was sie wollen und brauchen, sind Ordnung, Zucht, Gehorsam. Lange habe man als Kirche gebraucht, Jesu „Tat“ zu „korrigieren“, da könne man eine „Störung“ nicht gebrauchen, durch Jesus selber schon gar nicht. Schon morgen werde er, Jesus, sehen, dass dieselben Massen, die ihm gefolgt seien, auf einen Wink von ihm die Kohlen des Scheiterhaufens schüren würden, auf den er, der Kardinal, ihn verbrennen lassen würde: „Denn wenn es einen gibt, der mehr als alle unseren Scheiterhaufen verdient hat, dann bist du es.“ Ein gewaltiger Monolog, von Iwan einzig zu dem Zweck erfunden, um Aljóschas einfältigen Glauben an die Person Jesu zu erschüttern. Wenn selbst Christen ihren Christus als Ketzer verbrennen!

Was also? Lässt uns dieser Dichter mit dieser seiner schonungslosen Analyse und den gnadenlosen Konsequenzen allein? Nein. Denn am Ende des „2. Aktes“ lässt er eine Alternative aufblitzen, die für mich, ich gestehe es, bis heute geistiges Überlebensmittel ist. Diese erfolgt nicht etwa in Form einer argumentativen Widerlegung der Einwürfe Iwans, sondern durch eine sanfte, stille, ja demütige Geste, die in ihrer Stummheit mehr sagt als eine wortgewaltige Apologetik. Dostojewskis Aljóscha weiß, dass er mit Verweis auf Christus Iwans Schöpfungskritik argumentativ nicht außer Kraft gesetzt hat und setzen kann. Stattdessen stellt er ihr ganz elementar eine Alternative gegenüber. Auch Jesus selber hatte ja in Iwans Geschichte die Argumente des Kardinals nicht rational konterkariert, hatte keine Gegentirade gehalten. Er hatte schweigend zuhört. Dann war er auf den Greis zugegangen und hatte ihm nichts als einen Kuss auf seine „blutleeren, neunzigjährigen Lippen“ gedrückt.

Zurückgegebener Kuss

Welch eine Szene im Gefängnis zu Sevilla: Der Dostojewskische Jesus gibt seinem Todfeind den einst in Gethsemane empfangenen Kuss des Judas zurück – zum Zeichen, dass der Feind nur durch Liebe, der Hass nur durch Vergebung zu besiegen ist. Das ist die atemberaubende Dostojewskische Kehre im Geiste Jesu: vom Hochmut zur Demut, von der aggressiven Revolte gegen Gottes Schöpfung zu einer Haltung, die auch im Feind noch den Bruder erkennt, vom Entsetzen über die Leiden in der Schöpfung zu einem bedingungslosen Mitleiden, das diese Welt trotz allem als Bewährungsfeld einer praxis pietatis im Geist von Matthäus 25 begreifen kann. Nicht zufällig hatte dieser russische Dichter und Christ als Motto des Romans ein Christus-Wort aus dem Johannesevangelium (12,24) gewählt, das auch auf seinem Grabstein in St. Petersburg zu lesen ist: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte.“ 

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