Was Augenhöhe bedeuten kann

Allzu leicht werden Zuhörerinnen und Zuhörer eines Gottesdienstes unterschätzt
Foto: privat

Die junge Pastorin hält einen Gottesdienst in einer großen Domkirche. Das zahlreiche Publikum sitzt coronabedingt weit auseinander. Bevor sie mit ihrer Predigt anfängt, sagt sie: Sie wolle nicht auf die Kanzel steigen, sondern auf den Altarstufen bleiben, „weil ich zu Ihnen auf Augenhöhe sprechen will“.

Ich stutze, das Wort „Augenhöhe“ beginnt in meinem Kopf zu arbeiten, zuerst aus ganz praktischen Gründen. Warum geht sie nicht auf die Kanzel, sie wäre doch von da weitaus besser zu sehen und zu hören?

Mir fällt das Buch Phrase unser von Jan Feddersen und Philipp Gessler ein, das ich kurz zuvor gelesen hatte, eine kritische Auseinandersetzung mit der „blutleeren Sprache der Kirche“, so der Untertitel des Buches. In ihm wird der moderne Kirchenjargon auseinandergenommen, und ich musste bei der Lektüre häufig an ein Wort von Walter Benjamin denken. „Echte Polemik,“ sagt Benjamin, „nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.“ ähnliches machen die Autoren mit der modernen Kirchensprache, wobei sie Worte wie „Abholen“, „Achtsamkeit“, „Anliegen“, „menschenfreundlich“, „sich schämen“, „wertschätzen“ genussvoll, und manchmal etwas übersteuert, tranchieren. Gewiss kein Buch für die „Kuschelkirche“, und in ihm eben kommt auch das Wort „Augenhöhe“ vor.

„Augenhöhe“ wird hier als verlogen und falsch abgekanzelt. Ein Gemeindeglied darf erwarten, dass sein Pastor oder seine Pastorin mit diesem nicht auf Augenhöhe ist, sonst wären ja gleich alle Pastoren. „Augenhöhe“ klänge nach Verkaufsmesse und Propagandistenprosa, ein Wort, das Hierarchien bloß vernebelt, in Wirklichkeit aber Gehorsamstugend nach oben meine.

Starker Tobak für die doch eher harmlose Ankündigung der Pastorin! Und nachdem die Predigt vorbei ist, konstatiere ich: Sie war keineswegs auf „Augenhöhe“, sie war anspruchs- und gehaltvoll. „Augenhöhe“ im Sinne eines Gleichstands von Botschaft und Wahrnehmung musste sich der Zuhörer erst nachdenkend erarbeiten.

Auf dem Weg nach Hause ließ mich die „Augenhöhe“ nicht los, und überraschend, wie das bei Assoziationen ja häufig ist, kam mir das Lied Tut mir auf die schöne Pforte von Benjamin Schmolck aus dem Jahr 1734 in den Sinn, besonders die Zeile „Rede, Herr, so will ich hören“ blieb stecken, und diese Aufforderung schien mir jahrhunderteweit von einer Welt entfernt, in der man „auf Augenhöhe“ kommunizieren möchte.

Zuhause lese ich mir dieses Lied noch einmal durch und erkenne in ihm ein ganz anderes Kommunikationsmodell für den Gottesdienst, als es das Wort „Augenhöhe“ annonciert. Wahrnehmen im Gottesdienst wird hier nicht als ein gleichberechtigter Prozess zwischen Sender und Empfänger dargestellt, nicht als eine Informationsübertragung, es ist ein Vorgang des Nehmens und Gebens: Ich bin, Herr, zu Dir gekommen, komme du nun auch zu mir. Der Gottesdienstbesucher bringt mit seiner Aufmerksamkeit ein Opfer, wird in der Hingabe zum Empfangenden. Das gesamte Lied spricht von solch annehmender Erwartung, von „Opfern“ und „Empfangen“:

Gib mir Licht in dem Verstande und, was mir wird vorgestellt, präge du im Herzen ein, laß es mir zur Frucht gedeih’n. Das Lied redet dabei keinem kultischen Brimborium das Wort. Es betrachtet den Gottesdienst als eine Andacht, erwartet vom Zuhörer aktive Mitarbeit, die aus Respekt vor dem Wort (halte mir Dein Wort stets für) entsteht. Reich ist es in den Wendungen, mit denen es die Singenden zur Verinnerlichung auffordert: Worte wie Reinigung, ins Herze nehmen, das Herz als Tempel durchziehen es wie ein Refrain.

Gegenüber dieser verinnerlichenden Aufmerksamkeit für das Wort erscheinen mir viele heutige protestantische Gottesdienste manchmal so, als sei der Gottesdienst eine von Liedern und liturgischen Restbeständen unterbrochene feierliche Informationsveranstaltung, durch die die Pastorin oder der Pastor wie ein Moderator führen.

Der jungen Pastorin war der Respekt vor den Zuhörenden ganz besonders wichtig. „Augenhöhe“ ist dann ein Signalwort für Präsenz des Publikums, sein „Dabeisein“, seine Ansprüche sollen weder unterschritten noch überboten werden. Tendenziell werden damit Zuhörerinnen und Zuhörer eines Gottesdienstes unterschätzt, hinter der vorgeblichen „Wertschätzung“ (dem Goldstandard der Generalkommunikation … und … Sound der Einverstandenheit mit allen, wie Gessler/Feddersen schreiben) verbirgt sich ein didaktisches Modell der Anpassung von „oben“ nach „unten“. Das ist beim alten Lied genau umgekehrt, hier geht die Bewegung von unten nach oben: „Heilige du Mund und Ohr, zieh’ das Herze ganz empor!“

„Rede Frau, so will ich hören“, hätte ich der Pastorin im Nachhinein am liebsten vor ihrer Predigt zugerufen. Von wo sie sie dann gehalten hätte, ob von der Kanzel oben oder auf den Altarstufen nur geringfügig erhöht, das wäre mir egal gewesen. 

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