Spannend

Das Kochbuch der Großmutter

Ihre Familienbiografie, in deren Mittelpunkt das Kochbuch ihrer Großmutter steht, beginnt Karina Urbach mit einem überraschenden Bekenntnis: „Ich kann nicht kochen.“ Diese Unzulänglichkeit erklärt, warum die Historikerin sich für Omas Bestseller „So kocht man in Wien!“ nicht interessierte. Erst als ihre Cousine ihr eine Kiste mit alten Briefen und Tonbandkassetten von Alice Urbach vorlegte und sie zum Schreiben ermunterte, fiel Karina Urbach auf, dass sie zu Hause das besagte Kochbuch gleich zweimal hat: Das Original aus dem Jahr 1935 und ein fast identisches, das 1938 im gleichen Verlag erschien – von einem gewissen Rudolf Rösch. Wer war er? Hat er überhaupt existiert? Karina Urbach schrieb daraufhin einen Krimi.

Im Mittelpunkt dieses gut recherchierten und auch sehr lesbaren Buches steht die Wiener Überlebenskünstlerin Alice. Nach dem frühen Tod ihres Mannes musste sie ihre beiden kleinen Kinder ernähren. Studiert hatte sie nicht, aber kochen konnte sie immer. Also gründete sie 1920 eine Kochschule, hielt Vorträge und fasste ihre Rezepte und Erfahrungen auf 500 Seiten zusammen. Auf ihr Autorenfoto verzichtete der Münchner Verlag, wohl weil sie zu jüdisch aussah. Es wurde ein Bestseller und zugleich ihre Rettung. Mit dem Verzicht auf ihre Urheberrechte konnte sie die Flucht nach England finanzieren. Dort leitete sie ein Heim für jüdische Flüchtlingskinder aus Nazi-Deutschland. 1941 gelang ihr die Weiterreise zu ihrem ältesten Sohn Otto nach New York. Doch die Sehnsucht nach Wien blieb auch dort bestehen, wie Karina Urbach aus einem Gedicht erfuhr, das Alices Bruder ihr 1942 schickte: „Es gibt kein Land, wo nie die Sonne schien.Doch keines kann die Heimat mir ersetzen. Denn leben, atmen kann ich nur in Wien!“

Karina Urbach verflicht gekonnt und spannend die Geschichte ihrer Großmutter mit der ihres Vaters Otto, der nach Kriegsende im besetzten Deutschland für den amerikanischen Geheimdienst flüchtige Nazis jagte. Die Geschichte der beiden kreuzte sich 1949 in Wien, wo Otto im Kalten Krieg tätig war. 1949 besuchte ihn Alice dort. Bei einem Spaziergang entdeckte sie im Schaufenster einer Buchhandlung das Buch „So kocht man in Wien!“ Als Autor ihres Buches stand jedoch ein gewisser Rudolf Rösch.

Alice Urbach hatte drei Schwestern in der Shoah verloren. Sie beschloss dennoch, um die Rückgabe ihres gestohlenen Kochbuches zu kämpfen, aber ohne Erfolg. Und das, obwohl der Ernst Reinhardt Verlag in der Neuauflage 1938 rund zwei Drittel ihres Textes und sogar die Fotos ihrer Hände übernahm. Streichen ließ er Rezepte wie das „Omelette Rothschild“ oder die „Jaffa-Torte“.

Es ist möglich, dass Alice von einer neuen Karriere in Wien träumte. Daher erschien sie 1948 sogar persönlich im Verlag, wurde aber mit falschen Behauptungen abgewiesen. Noch im hohen Alter bemühte sie sich darum, dass ihr Buch wieder unter ihrem Namen erscheint. Sie verstarb in den USA mit 97 Jahren, ohne ihr Ziel zu erreichen. Der Münchner Verlag vertrieb das arisierte Buch bis 1966.

Als Karina Urbach beim Münchner Verlag nachfragte, erhielt sie die Antwort, man habe kein Archiv mehr über Alice Urbach. Die Historikerin fand jedoch heraus, dass der Verleger in einer Festschrift 1974 Bezug auf Alices Besuch in seinem Büro genommen hatte. Dafür, dass er ihre Rezepte unter anderem Namen verwendete, wollte er sie keinesfalls entschädigen. Erst nach einem Interview im SPIEGEL 2020 gab der Reinhardt Verlag Alices Autorenrechte an ihre Erben zurück und druckte in einer limitierten und nicht verkäuflichen Auflage nach. Karina Urbach verspricht, bald einen Kochkurs zu besuchen.

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