Mehr Mut zum Streit!

Warum die Konsensorientierung der evangelischen Kirche ihre gesellschaftliche Relevanz schmälert
Foto: privat

Wozu sind die Kirchen da? Was ihre Rolle in der Gesellschaft angeht, besteht darüber schon länger kein Einverständnis mehr. In den Leitungsschichten der Evangelischen Kirche wird trotzdem betont, man könne und wolle den Menschen Orientierung geben.

Dafür braucht es möglichst konsistente und einhellige Überzeugungen, die man der restlichen Gesellschaft übergibt, so die landläufige Haltung. Dass so das alte Bild einer Kirche fortlebt, die sich als Gegenüber zu dem positioniert, was man so Gesellschaft nennt, ist darin eingepreist. Ebenso wie ein erstaunliches Selbstbewusstsein, das weiterhin damit rechnet, „die Gesellschaft“ oder „die Menschen“ fragten nach solcher Orientierung überhaupt bei den Kirchen nach.

Das Evangelium und die Predigt können solche Orientierung geben. Vor allem dort, wo deren Kommunikation weiterhin oder wieder neu als Beziehungsgeschehen gelebt wird. Old school in den zu Unrecht vielgescholtenen Ortsgemeinden mit ihren Kreisen und Gruppen für Kinder, Jugendliche, Familien und Senioren, für andere Zielgruppen eher an anderen Kirchorten wie Einkehrhäusern, Klöstern, durch ein Ehrenamt in der Diakonie oder in der Kirchenhierarchie, in der Familie oder im Freundeskreis und in Online-Communities.

Braucht’s des?

Aber „die Kirche“, die Orientierung per Mitteilung oder Sendschreiben verteilt – braucht’s des? Die Evangelische Kirche hat es in diesem Jahr mit drei Schriften versucht: Mit einer Digitaldenkschrift und erst kürzlich mit einem ökumenischen „Gemeinsamen Wort“ zu Flucht und Migration und einem Grundlagentext zu Vielfalt und Gemeinsinn. Das Schicksal der beiden letztgenannten ist aufgrund ihrer zeitnahen Publikation noch nicht besiegelt. Das „Gemeinsame Wort“ jedenfalls macht es Leser:innen einfach, wesentliche Positionen der christlichen Kirchen zu Flucht- und Migrationsfragen zu finden. Weil ich diesen progressiven Standpunkten zustimme, bin ich mit dem „Gemeinsamen Wort“ sehr einverstanden. Gelegentlich kann die Evangelische Kirche jedoch auch dankbar sein, dass über die Ergebnisse ihrer Textwerkstätten der gnädige Mantel des Schweigens gebreitet wird.

Orientierung braucht Einigkeit und nirgendwo sonst wird der Streit um Positionen so konsequent sublimiert wie in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kompromiss, ja sogar Konsens sind hehre Ziele in einer pluralisierten Gesellschaft. Dort wo es den Kirchen gelingt, gemeinsame Überzeugungen zu vertreten, können sie auf Gehör hoffen und Wirkung erzielen. Doch könnte der zunehmend geringere Punch kirchlicher Positionierungen, aka Stellungnahmen, nicht auch daran liegen, dass die erreichten Kompromisse nicht nur häufig genug wischiwaschi, sondern auch schal sind?

In einem Jahr trifft sich die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe. Wie auch bei den „Gemeinsamen Worten“ und Grundlagentexten sind Gremien und Kammern der evangelischen Kirchen mit der Vorbereitung durchaus befasst – auch wenn hier wie dort während dieser Prozesse nur wenig Transparenz und Beteiligung von Außenstehenden hergestellt wird. In Kammern und Gremien lädt man ein, gerne auch Expert:innen „aus anderen Kontexten“. Aber was sie (der Kirche) zu sagen haben, fließt halt formschön in die langen Dokumente ein, die erst am Ende der Diskussionen veröffentlicht werden. Die sollen dann auf wundersame Weise aber andere in der Rest-Gesellschaft weiterdiskutieren oder – wie man bei Kirchens gerne sagt – „weiterdenken“.

Konfliktarm und befriedet

Gemessen an den Schwesterkirchen, die im kommenden Spätsommer nach Deutschland eingeladen sind, erscheint die Evangelische Kirche in Deutschland konfliktarm und, ja, befriedet. Zumindest soll es so scheinen. Nun bin ich ja entschieden nicht der Meinung, wir sollten es den Schwesterkirchen in der Ökumene gleichtun und einfach stur weiter die Ordination von Frauen, die Anerkennung von LGBTQ* oder andere Gender-Fragen diskutieren, nur weil „noch nicht alle mitgenommen wurden“.

Doch die Evangelische Kirche ist Teil der pluralen Gesellschaft und sollte darum dem Streit um wichtige Fragen auf offener Bühne mehr Raum geben. Dazu gehört auch, sich personell nicht verschämt schein-divers aufzustellen. (Es sind ja am Mangel von satisfaktionsfähigen Konservativen in Kirche und Theologie auch diese selbst schuld, aber der Vielfalt innerhalb der Kirche ist nicht damit gedient, Kontroversen schon durch die Besetzung von Ämtern und Gremien vorzubeugen.)

Lohnender Streit

In einer Woche treffen sich die Synoden der Evangelischen Kirche in Deutschland zum ersten Mal seit dem Herbst 2019 wieder im Fleische. Auf der Bremer Tagung ist mit Streit auf offener Bühne eher nicht zu rechnen. Und dass, obwohl auch die angesagte Wahl eines neuen Rates und dann eineR neuen RatsvorsitzendeN - immerhin eines Amtes, dass auf die Öffentlichkeit zielt und sie durchaus auch erreicht -, selbstverständlich Teil von Positionsbestimmungen und gelegentlich Richtungsentscheidungen innerhalb der Kirche ist. Und es gäbe zu streiten:
Zum Beispiel über die Stellung, die die Evangelische Kirche in der Frage von Krieg und Frieden einnimmt. Es ist doch rund um den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan augenfällig geworden, dass Deutschland sich sicherheitspolitisch in den kommenden Jahren wird anders aufstellen müssen. Mehr europäische Integration der Streitkräfte und eine zunehmend polarisierte Öffentlichkeit, die rechtsextreme Netzwerke innerhalb der Bundeswehr auf der einen Seite und sicher ehrenwerte, in der Form aber diskutable Ehrenbezeugungen wie zuletzt den Großen Zapfenstreich in Berlin auf der anderen Seite, schwerlich „zusammendenken“ kann, sind nur zwei der gegenwärtigen Herausforderungen. Über eine angemessene Antwort von Seiten der Evangelischen Kirche besteht durchaus Dissens.

Und über die Frage des assistierten Suizids schulden wir evangelischen Christen uns doch eine tiefere, gründlichere und vor allem offenere und zugänglichere Debatte als sie bisher leidlich zwischen F.A.Z. und evangelischer Publizistik sowie auf einigen Universitäts- und Akademietagungen geführt wird. Übrigens besteht in dieser Frage ja auch Uneinigkeit unter denjenigen, die die Evangelische Kirche an herausgehobener Stelle repräsentieren wollen. Warum also darüber nicht offen und kontrovers reden?

Wenn „die Kirche“ schon etwas für „den Zusammenhalt der Gesellschaft“ tun will, sich geradezu in der Verantwortung sieht, zur Verständigung in der pluralen Gesellschaft nicht nur beizutragen, sondern konstitutiv für sie verantwortlich zu zeichnen, dann muss sie selbst mehr streiten. Wie es für Protestanten richtig ist, nicht hinter verschlossenen Türen, sondern an der frischen Luft. Und am besten über solche Fragen, die nicht nur innerkirchlich Konfliktpotential haben, sondern auf die auch kirchenferne und konfessionsfreie Menschen Antworten suchen. Oder in den Worten Robert Gernhardts:

„Das nennt man nicht eigentlich suchen,

wenn man schon weiß, wo was ist.

Das nennt man nicht eigentlich finden,

wenn man es gar nicht vermisst.“

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