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Gottesvorstellungen in monotheistischen und polytheistischen Religionen
Pantheonsdarstellung aus dem tibetischen Buddhismus-Fresko im Kloster Tashi Chöling, Nepal.
Foto: Adelheid Herrmann-Pfandt
Pantheonsdarstellung aus dem tibetischen Buddhismus-Fresko im Kloster Tashi Chöling, Nepal.

Unter Gott oder dem Göttlichen wird weltweit sehr Verschiedenes verstanden – nicht zuletzt durch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Monotheismus und Vielgötterei. Die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt sortiert Begriffe und Phänomene und zeigt Entwicklungslinien in der Geschichte des Gottesglaubens auf.

Der Gottesglaube ist Teil der meisten Religionen, allerdings in sehr verschiedenen Formen. Uns in Europa ist der Glaube an einen einzigen Gott (Monotheismus) am vertrautesten, den die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam miteinander teilen. Jede der drei Religionen kennt das Gebot Gottes, neben ihm keine anderen Götter zu haben, wie es in den Zehn Geboten heißt, oder dem einen Gott keine anderen beizugesellen, wie es der Koran ausdrückt.

Für die beiden restlichen Weltreligionen ist diese Festlegung auf einen einzigen Gott keine Option. Der Hinduismus ist in den meisten seiner Ausformungen polytheistisch, das heißt, man glaubt an viele verschiedene Götter und Göttinnen. Viele Hindus haben auch eine Art Lieblingsgottheit, auf die sie ihre Frömmigkeit konzentrieren. Die Verehrung einer einzelnen Gottheit von vielen, ohne die anderen zu leugnen oder abzuwerten, nennt man Henotheismus (von griechisch henós = eins).

Der Buddhismus, die fünfte Weltreligion, ist ursprünglich atheistisch zu nennen und lehnt insbesondere den Glauben an einen Schöpfergott ab; im Laufe der Jahrhunderte hat er sich jedoch dem Hinduismus angenähert und ein großes Pantheon aus Buddhas und anderen heiligen Gestalten aufgebaut, das einem Götterpantheon sehr nahekommt.

Was aber ist nun ein Gott oder eine Göttin? Religionswissenschaftlich wird eine Gottheit als ein transzendentes, also physisch nicht wahrnehmbares Wesen betrachtet, das sich ungesehen fortbewegen, oft auch fliegen kann, aber ansonsten wie ein Mensch persönliche Eigenschaften hat, also männlich oder weiblich, seltener androgyn oder geschlechtslos ist, Gefühle hat, sich fortpflanzt, Kriege führt und sich um das Wohl von Mensch und Tier kümmert. Einen Gott oder eine Göttin kann man im Gebet ansprechen, und es gibt Menschen, die, meist in Trance oder Ekstase, vorgeben, Gott sehen oder seine Stimme hören zu können.

In einem polytheistischen Pantheon sind alle Götter und Göttinnen aufeinander bezogen, bilden zusammen ein Ganzes und erfüllen ihre Aufgaben in der Welt. Jede Gottheit hat ihren Platz, ihre individuellen Eigenschaften und Aufgaben und auch als unsichtbares Wesen ein Aussehen mit Körperform, Kleidung und weiteren Attributen, an denen man sie als diesen bestimmten Gott, als jene individuelle Göttin erkennen kann. Da der Himmel hoch über der Erde liegt, ist der höchste Gott oder Götterkönig oft ein Himmelsgott, so etwa in den verschiedenen Ausformungen des indogermanischen Pantheons, wo er in Indien als „Dyaus Pitar“, in Griechenland als „Zeus Pater“ und in Rom als „Jupiter“ bekannt ist. Alle drei Gottesnamen hängen etymologisch zusammen und bedeuten ursprünglich „Vater Himmel“. Auch die höchsten Götter anderer Religionen, zum Beispiel in Afrika und Asien, und nicht zuletzt der Gott der drei monotheistischen Religionen werden mit dem Himmel assoziiert.

Im Polytheismus gibt es Gottheiten, die für Fruchtbarkeit, Liebe, Geburt, Tod, die gesamte Weltordnung, Krieg und Frieden, Wind, Wasser, Feuer, Erde, Tiere, Pflanzen und Himmelskörper, vor allem Sonne und Mond, zuständig sind. Anders als bei uns ist in vielen Kulturen der Sonnengott männlich und die Mondgöttin weiblich, was nicht zuletzt auf die Mondbezogenheit des weiblichen Zyklus zurückzuführen ist. In manchen Religionen sind Tiere allgemein oder einzelne Tierarten selbst Gottheiten, die man kultisch verehrt, zum Beispiel die Raubtiere in altamerikanischen Kulturen und manchen Gegenden Asiens. Zu polytheistischen Religionen gehören Opferrituale zur Speisung der Gottheiten mit Menschen- oder Tieropfern oder auch vegetarischen Speiseopfern.

Ambivalente, paradoxe Gegensätze

Gottheiten polytheistischer Systeme können ortsungebunden oder aber an bestimmten Orten zu Hause sein, als deren Schutzgottheiten sie dann häufig auftreten. Im antiken Mittelmeerraum wurden Städte häufig durch Göttinnen geschützt, deren „Mauerkrone“ aus Palisadenreihen die Schutzfunktion einer Stadtmauer symbolisierte.

Der eine Gott monotheistischer Religionen ist in der Regel den Gläubigen ferner als die kleineren polytheistischen Götter, er ist nicht Teil der Erde wie jene, sondern steht über der Welt, die er geschaffen hat und beherrscht. Er vereinigt viele der Eigenschaften einzelner Gottheiten polytheistischer Vorgängersysteme in sich und wird dadurch zu einer ambivalenten, ja paradoxen Gestalt der Gegensätze. So verbindet der alttestamentliche Gott Elemente der Befreiung, Gnade und Liebe mit gelegentlichen Zornesausbrüchen über menschlichen Ungehorsam. Dem neutestamentlichen Gott wird unter dem Einfluss von Mystik und auch Feminismus eine Natur zugeschrieben, die sich aus männlichen und weiblichen Elementen zusammensetzt und mitunter als Mutter und Vater angerufen wird.

Den hinduistischen Gott Shiva beten viele Menschen in henotheistischer Form als einzig relevanten Gott an. In dieser Rolle verkörpert er daher wie ein monotheistischer Gott alle Eigenschaften, die von seinen Anhängern als „göttlich“ angesehen werden, einschließlich der paradoxen Einheit der Gegensätze. Durch seinen Tanz vernichtet Shiva beispielsweise die ganze Welt, aber er erschafft sie auch neu, er ist also ein Gott der Schöpfung und der Zerstörung zugleich. Auch repräsentiert er einerseits die strenge Enthaltsamkeit des Wanderasketen und gilt andererseits als erotisch äußerst anziehend, was ihm die paradoxe Bezeichnung des „erotischen Asketen“ eingebracht hat. Die Große Göttin Kali im ostindischen Assam und Bengalen verlangt zwar nach regelmäßigen Menschenopfern, die heute meist durch Tieropfer ersetzt werden, wird aber zugleich als liebevolle Mutter wahrgenommen und angebetet, ist also auch die Verkörperung eines Paradoxons.

Der Polytheismus ist erheblich älter als der Monotheismus. Alle drei großen Monotheismen überliefern Mythen und Geschichtserzählungen darüber, wie sie sich im Gegensatz zur „Vielgötterei“ ihrer jeweiligen Ursprungsgesellschaften entwickelt haben. So grenzte sich die israelitische Religion im Laufe des ersten vorchristlichen Jahrtausends von den polytheistischen Systemen der kanaanäischen Religionen ab, und das Christentum überlagerte die polytheistischen Religionen zahlreicher Völker, in deren Gebieten es sich ausdehnte, so in Europa, aber auch in Amerika, Asien, Afrika und Australien. In Europa gibt es eine ganze Reihe alter Kirchen, etwa in Uppsala (Schweden), die der Tradition zufolge Überbauungen heidnischer Heiligtümer darstellen. In Peru ist der Coricancha, der zentrale Inka-Tempel, heute von einer Kirche überbaut.

Auch der Islam entstand in einer Kultur, zu der die Vielgötterei gehörte, war doch die Kaaba in Mekka, heute das Zentralheiligtum dieses strengsten aller Monotheismen, einst ein Tempel, der hunderte heidnischer Götterbilder beherbergte. Bei den muslimischen Eroberungen setzte sich dies fort: Allein in Indien gibt es rund 2 000 Moscheen, die nach muslimischen Quellen und archäologischen Befunden auf den Fundamenten und mit den Steinen zerstörter Hindu-Tempel errichtet sind. In der ältesten Moschee Indiens in Delhi (Quwwat-ul-Islam-Moschee) kann man die Götterfigurenfriese und Säulen der laut einer persischen Inschrift 27 abgebrochenen Tempel noch sehen.

Während sich die monotheistischen Religionen in ihren Kernländern gegen die polytheistischen Vorgängerreligionen weitgehend durchsetzten, gelang das in anderen Weltgegenden nur unvollständig, vor allem aufgrund der Lebensnähe mancher Polytheismen und der Langlebigkeit der an sie gekoppelten Sitten und Bräuche. So wurden zum Beispiel die altamerikanischen Kulturen der Azteken, Maya und Inka an der Oberfläche christianisiert, „versteckten“ jedoch ihre Götter und Göttinnen hinter den Namen katholischer Heiliger. Nach Forschungen der deutschen Ethnologin Ina Rösing (1942 – 2018) merkten selbst katholische Priester häufig nicht, dass die als Peter, Paul oder Barbara verehrten Heiligen in Wirklichkeit die alten, vorkolumbischen Götter waren, die bis heute, vor allem in den Anden, in einer Art Synkretismus mit dem Katholizismus weiterleben.

Als in den Jahrhunderten der nachkolumbischen Zeit Sklaven aus Afrika nach Amerika verschleppt wurden, schützten sie ihre mitgebrachten Gottheiten ebenfalls dadurch, dass sie sie nach christlichen Heiligen umbenannten. Aus der gegenseitigen Beeinflussung der Religionen der Afrikaner, der amerikanischen Ureinwohner und der Christen entstanden vor allem in der Karibik und Südamerika diverse neue Religionen (Santeria, Palo Mayombe, Candomblé, Macumba, Umbanda und so weiter), die unter einer oft nur dünnen christlichen Oberfläche polytheistische Glaubensformen mit Tieropfern und magischen Ritualen verbinden.

Mehrheitsreligion geblieben

Ein Land, das sich gegen eine monotheistische „Übernahme“ jahrhundertelang besonders erfolgreich gewehrt hat, ist Indien. Stärker als andere Formen des Heidentums konnte sich der Hinduismus, der nicht nur in zentralen Tempeln, sondern vor allem auch in jeder einzelnen Hütte, jedem Privathaus praktiziert wird, der Verdrängung durch Muslime und Christen erwehren. Während fast alle Länder, die von Christentum oder Islam einmal erobert wurden, heute mehrheitlich der betreffenden Religion angehören, ist in Indien der Hinduismus bis heute die Mehrheitsreligion geblieben. Das Erbe der gewaltsamen Eroberung und der hindu-muslimische Gegensatz erschüttert das Land von Zeit zu Zeit; einflussreicher ist allerdings die gegenseitige Befruchtung zum Wohl beider Religionen, die sich in der Architektur, der Musik, der Religion, dem Film und zahlreichen weiteren kulturellen Bereichen zeigt.

Viele Gläubige der drei großen monotheistischen Religionen glauben an Gott als Person. In allen Religionen gibt es jedoch auch die Vorstellung, dass das Göttliche eine überpersönliche Wirklichkeit ist, in die man sich – so ein häufiges mystisches Bild – fallen lässt wie ein Tropfen in den Ozean: wortlos und bereit zum Aufgehen in Gott. Der Gott der Mystik ist überpersönlich und allumfassend, er missioniert nicht, sondern lenkt den Blick auf das allen Religionen Wesentliche. Oft basiert ein solcher Glaube auf mystischen Erlebnissen, also auf der in Trance oder Ekstase erfahrenen Vereinigung mit Gott, die, ganz ähnlich wie die Erfahrung der Liebe, zutiefst persönlich ist, nicht kommunizierbar, nicht sagbar, nicht theologisch analysierbar.

Solche Erfahrungen werden vor allem mit hinduistischer und buddhistischer Meditation verbunden. Meditation und auch Tanz gelten als besonders wirkungsvolle Methoden, sich für mystische Erfahrungen zu öffnen. Es gibt Mystik aber in allen Religionen. Im Judentum sind entsprechende Erfahrungen unter anderem in der Kabbala und im osteuropäischen Chassidismus gemacht worden, im Christentum haben Mystiker wie Meister Eckhart oder Mechthild von Magdeburg darüber geschrieben, und im Islam tanzen und singen die Sufis über ihre mystische Gotteserfahrung, von der frühen Mystikerin Rabia in Basra im Irak (8. Jahrhundert) über den Perser Rumi (13. Jahrhundert) bis zu den vielen Dichterheiligen des indischen und pakistanischen Sufismus. Weil sie abgrenzende und intolerante Theologien und religiöse Individualitätsvorstellungen relativieren, sind muslimische und hinduistische Mystik gut dazu geeignet, von beiden Seiten aus an der muslimisch-hinduistischen Verständigung mitzuwirken.

Wenn wir heute bei uns in Mitteleuropa über Gott nachdenken, sollten wir auch Sichtweisen und Erfahrungen der vielen Zweifler und Atheisten einbeziehen. Gott – wozu brauchen wir den überhaupt? Diese Frage wird von Menschen gestellt, deren Zugang zur Transzendenz oft kaum noch etwas mit kirchlichen Gottesvorstellungen zu tun hat, die ihre religiösen Bedürfnisse stattdessen mit Esoterik, Naturmystik, neuheidnischem Polytheismus, Satanismus oder ekstatischen Drogenerfahrungen bei Techno-Musik decken. Oder die sich auf das irdische Hier und Jetzt konzentrieren und ganz darauf verzichten, der Spiritualität einen Platz in ihrem Leben einzuräumen. Wie andere Lebensbereiche hat sich auch die Gottesfrage individualisiert. Das Interesse daran, wer oder was Gott sei, wird nicht zuletzt dadurch beeinträchtigt, dass man Gott auf ungeliebte ethische Verbote und Strafen reduziert oder auf biblische Erzählungen, deren historische Realität zweifelhaft ist und damit auch den Zweifel an der Existenz des biblischen Gottes schüren. „Ich komme gerade von einer Diskussion mit Sokrates, und er hat mir bewiesen, dass ich nicht existiere“, sagt traurig der Titelheld in Woody Allens Satire „Gott“.

Fast unsichtbar gemacht

Der Gott, der nach der Bibel die Wahrheit vertritt, ja der selbst die Wahrheit ist, wird fast unsichtbar gemacht durch die Lügen und geheimen Gewalttätigkeiten missbrauchender Geistlicher oder durch wissenschaftliche Widerlegungen biblischer Geschichtserzählungen, von der Schöpfungsgeschichte über den Auszug aus Ägypten bis zu widersprüchlichen Details der Passionsgeschichte.

Auch die Allmacht Gottes sieht sich kritischen Blicken ausgesetzt. Wenn wir Gott im Refrain eines modernen Kirchenliedes mit „Er ist der Herr der Geschichte“ besingen, dann stellt sich sofort die Frage, ob das auch für Auschwitz, Katyn, My Lai, Srebrenica oder den 11. September 2001 in New York gilt oder ob jedes dieser Ereignisse nicht vielmehr Gottes Machtlosigkeit oder auch Gleichgültigkeit angesichts des Bösen beweist. Für viele Menschen ist Gott, ist das Reich Gottes nur eine Wunschvorstellung, ein scheinbarer Trost in einer Welt, in der sich so oft – und zunehmend im Namen Gottes – das Böse durchsetzt.

Angesichts all dieser kritischen Punkte ist es gleichwohl bemerkenswert und fast nicht zu glauben, dass es immer noch viele Menschen gibt, die sich inmitten ihrer Enttäuschung über Gottes „Bodenpersonal“ noch ein anderes Bild bewahrt haben, ein intuitives Wissen darüber, wie ein wahres „Reich Gottes“, wie eine Gegenrealität zu all der Gewalt und Lüge aussehen könnte, und die die Hoffnung darauf noch immer nicht aufgegeben haben. 

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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