Neues und Gutes

Sinn und Unsinn von Gottes Allmacht
Polarlicht bei Murmansk, 2021.
Foto: dpa

Ist Gott allmächtig? Viele Menschen, die glauben, wollen auf diese Eigenschaft Gottes nicht verzichten. Zumindest wollen sie eine Allkausalität Gottes postulieren. Der Heidelberger Systematische Theologe Michael Welker mahnt zur Vorsicht, denn ein „primitiver Theismus“ mache jede Gottesvorstellung unglaubwürdig.

Kein Geringerer als Prinz Philip von England wählte als erste Lesung für seinen eigenen Trauergottesdienst auf Schloss Windsor am 17. April dieses Jahres den alttestamentlichen Text Jesus Sirach (Ecclesiasticus) 43,11–26.

Darin heißt es: Sieh den Regenbogen an, und lobe den, der ihn gemacht hat! Denn er hat sehr schöne Farben. Er zieht am Himmel einen glänzenden Bogen; die Hand des Höchsten hat ihn gespannt. Auf sein Wort hin fällt viel Schnee, und er lässt Blitze herabfahren, mit denen er richtet. … Er drückt durch seine Kraft die Wolken zusammen, dass Hagelkörner herausfallen. Sein Donner erschreckt die Erde, und Berge zittern vor ihm. Durch seinen Willen wehen der Südwind und der Nordwind und der Wirbelsturm. … Was auf den Bergen steht, verbrennt er wie Gluthauch, und alles, was grün ist, versengt er wie Feuer. Dagegen hilft der feuchte Nebel; und der Tau nach der Hitze erquickt alles wieder. Durch sein Wort brachte der Herr das Meer zur Ruhe und säte Inseln darein. Die auf dem Meer fahren, erzählen von seinen Gefahren, und wir, die es hören, verwundern uns.

Gott wird hier als Wettergott und, indem er Inseln ins Meer setzt, als Kosmokrator gesehen. Er löst alle Arten von Witterungserscheinungen aus – schöne wie Tau oder Regenbogen, schreckliche Wirbelstürme und versengende Hitze. Am Ende des Kapitels wird zusammenfassend auf Gottes Größe in der Schöpfung hingewiesen mit dem Satz: „Alles hat der Herr gemacht.“ (Vers 33).

Nach dieser Aussage ist alles, was im Himmel und auf Erden geschieht, auf Gottes allmächtiges Wirken zurückzuführen. Gott wird angesehen als die „alles bestimmende Wirklichkeit“. So haben es auch einflussreiche deutsche protestantische Theologen wie Rudolf Bultmann und Wolfhart Pannenberg formuliert. Gottes Allmacht wird verstanden als Macht, die schlechthin alles verursacht, als Allkausalität – „Alles hat Gott gemacht“. Diese Vorstellung von Gottes Allmacht muss allerdings als unsinnig bezeichnet werden, auch wenn ein solcher, wie man sagen sollte, „primitiver Theismus“ von manchen Philosophen und zahlreichen Popularphilosophien gestützt wird.

Ein gewichtiger Einwand liegt auf der Hand. Dieser primitive Theismus macht Gott unglaubwürdig, denn wie kann ein Gott, der schöpferisch und Liebe ist, unterschiedslos alles hervorbringen – von der Freude über ein neugeborenes Kind bis zu Pandemien, Tornados, Kriegen und Konzentrationslagern? Die in diesem primitiven theistischen Allmachtdenken angelegten Probleme provozieren geradezu die Ablehnung eines solchen Gottes. Ein primitiver Theismus provoziert einen primitiven Atheismus, wie ihn der Entwicklungsbiologe Richard Dawkins mit seinem Weltbestseller „Der Gotteswahn“ (London 2006, in 31 Sprachen 2007) propagiert hat. Warum hat Dawkins nicht recht? Warum ist nicht ein aggressiver Atheismus angesagt, wenn denn der allmächtige Gott letztlich nicht unterscheidbar ist von einem launenhaften Schicksal oder gar einem kosmischen Monster? Mehrere theologische Warnungen vor einer unspezifizierten Rede von Gottes Allmacht sind nötig.

Verunglückter Versuch: Wettergott

Erstens: Gottes Allmacht darf nicht mit der Macht kosmischer und natürlicher Prozesse verwechselt werden. Der Wettergott des Jesus Sirach – der sich nicht nur in mancher Volksfrömmigkeit, sondern auch an manchen Stellen im biblischen Kanon und sogar in akademischen Theologien finden lässt – ist mit guten Gründen als ein verunglückter Versuch anzusehen, Gottes Macht in der Schöpfung naturalistisch zu begreifen. Dankbarkeit für eine weitreichende Wohlordnung in der Natur und im Kosmos wird in der Totalisierung überzogen und damit unglaubwürdig.

Auch eine heute wieder weitverbreitete, teils ökologisch motivierte Naturromantik verdrängt, dass alles natürliche Leben nicht nur anfällig und hinfällig, endlich und sterblich ist, sondern dass alles natürliche Leben schon in der Nahrungsaufnahme unabdingbar auf Kosten von anderem Leben lebt. Natürliches Leben ist Raub, hat der Mathematiker und Naturphilosoph Alfred North Whitehead 1929 in seinem Buch Prozeß und Realität formuliert: Life is robbery.

Whitehead schrieb: „In lebenden Gesellschaften nimmt die Wechselwirkung mit ihrer Umgebung die Form der Räuberei an. Die lebende Gesellschaft kann – muss aber nicht – ein höherer Typ von Organismus sein als die Nahrung, die sie zersetzt. Ob dies nun aber dem allgemeinen Wohl dient oder nicht: Leben ist Räuberei. Genau an diesem Punkt wird im Zusammenhang mit dem Leben das Problem der Moral akut. Der Räuber muss sich rechtfertigen.“

Wer Natur und natürliches Leben als Heilsbegriffe verwendet, übergeht diesen Sachverhalt. Natur und natürliches Leben und kosmische Prozesse sind ambivalent. Auch die kosmischen Prozesse lassen sich mit religiöser Andacht oder mit agnostischer Skepsis wahrnehmen. Ein Teil meiner naturwissenschaftlichen Kollegen sieht sich durch die Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur und die Gesetzmäßigkeiten kosmischer Prozesse, vor allem aber durch ihre erstaunliche Erkennbarkeit und die mathematisierte Erschließbarkeit von Natur und Kosmos in ihrer Religiosität und Frömmigkeit bestärkt.

Der Mathematiker und Physiker Freeman Dyson, Träger zahlreicher Auszeichnungen in seinem Fach, stellte zum Beispiel 2002 fest: „Je mehr ich das Universum und die Details seiner Architektur untersuche, desto mehr Hinweise finde ich, dass das Universum auf irgendeine Weise gewusst haben muss, dass wir kommen. … Für mich heißt Gott zu verehren, zu erkennen, dass Geist und Intelligenz in das Gefüge unseres Universums auf eine Weise eingebunden sind, die alles in allem unser Verstehen übersteigt.“

Eine andere Gruppe von Kollegen würde dem theoretischen Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg zustimmen, der 1977 schrieb: „Je mehr das Universum als verstehbar erscheint, desto mehr erscheint es auch als sinnlos.“

Zweitens: Neben der Warnung, sich auf Natur und Kosmos zu fixieren, um Gottes Allmacht zu begreifen, ist eine weitere theologische Warnung nötig, die uns vor einem unsinnigen Verständnis von Gottes Allmacht bewahrt. Es ist auf die große Eigenmacht zu verweisen, die Gott – sowohl nach biblischen Zeugnissen als auch nach menschlicher Erfahrung – den Geschöpfen, ganz besonders den Menschen einräumt und mit der sie sich Gott vielfach entgegenstellen. Es handelt sich um eine Eigenmacht, mit der die Menschen verantwortlich die Schöpfung gestalten sollen, mit der sie allerdings auch zerstörerisch in sie eingreifen können. Das verhindert Gott nicht, sondern er lässt es zu. Gott ist also nicht ein himmlischer Uhrmacher, der uns in eine perfekt organisierte Disney-Welt gesetzt hat. Gottes schöpferische Macht ist auch nicht die einer himmlischen Feuerwehr, die überall da eingreift, wo etwas gefährdet ist oder schon im Argen liegt.

Nach dem bekanntesten und wichtigsten Schöpfungsbericht der Bibel, Genesis 1 und 2, sollen – natürlich im Rahmen antiker kosmologischer Vorstellungen betrachtet – die Himmel scheiden, die Gestirne die Zeiten regieren, die Erde und die Gewässer sollen Pflanzen und Tiere hervorbringen. Schöpfung und kosmisch-natürliche Evolution sind damit keine Gegensätze. Die Menschen erhalten den Herrschaftsauftrag. Sie sind einerseits endlich und sterblich – sie leben irdisch „von Staub zu Staub“, doch andererseits, wie Psalm 8 sagt, ist der nach Gottes Bild geschaffene Mensch „nur wenig niedriger gemacht als Gott“. Gott übt nicht auf gespenstische Weise direkt aus einem Jenseits die göttliche Macht aus, sondern er tut es durch seinen Geist über die auch mit Eigenmacht begabten Menschen und Geschöpfe. Die göttliche Macht zeigt sich nicht so, dass sie die Ambivalenzen in Natur und Kosmos beseitigt und den Machtmissbrauch durch die Menschen schlicht unmöglich macht. Doch wie lässt sich dann überhaupt noch von Gottes „Allmacht“ sprechen?

Drittens: Die göttliche Macht ist erheblich weiter als die Kräfte von Kosmos und Natur. Gott muss als der Schöpfer des Himmels und der Erde, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt ernst genommen werden, wie nicht nur die biblischen Überlieferungen, sondern auch zentrale Glaubensbekenntnisse besagen. Die unsichtbare Welt aber sind nicht nur der weite natürliche Himmel (the sky) und das unermessliche kosmische Universum. Sie ist auch nicht ein numinoses Jenseits, etwa „die Transzendenz“ und andere metaphysische Ideengebilde. Die unsichtbare Welt, der Himmel (all the heavens), ist die geistige Welt, von der uns die Mathematik, die Musik, die bildende Kunst, die Gerechtigkeit und viele Formen der Organisation und Ordnungen unseres Lebens fragmentarische Eindrücke vermitteln. Die unsichtbare Welt ist voll von kulturellen Kräften, von geistigen Mächten, die allerdings nicht leicht fassbar und zu begreifen sind. Wir haben deshalb den Geist gern auf Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Gefühl, Rationalität und andere mentale Kapazitäten konzentriert. Doch schon der menschliche Geist ist reicher und weiter als ein nur intellektuelles und mentales Vermögen. Das gilt erst recht für den göttlichen Geist und die Mächte der unsichtbaren Welt, die mit der Konzentration auf die intellektuellen Vermögen nicht angemessen zu erfassen sind.

Gottes Geist ist nicht einfach ein Superintellekt, sondern ein Geist ungeheurer kultureller Kräfte, ein Geist der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit, des Friedens. An diesem Geist will Gott den Menschen Anteil geben. Dieser Geist vereinzelt nicht. Er bringt die Menschen in fruchtbare Wechselzusammenhänge. Er hält Menschen und Gesellschaften in kreativen Netzwerken. Sie sollen sich vom Geist der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens ergreifen lassen und diesem Geist zur Wirkung verhelfen. Über diesen Geist wird Gottes Allmacht schöpferisch wirksam und zugänglich. Die göttliche Allmacht besteht nicht darin, in jeder Raumzeitstelle präsent zu sein. Die göttliche Allmacht liegt vielmehr in der Macht, durch die schöpferischen Kräfte der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens auch aus Leid und Not Neues und Gutes zu schaffen. Sie ist eine Macht der schöpferischen Gestaltung und Erneuerung, des Trostes und der Hoffnung, auch über die vergängliche natürlich-irdische Existenz hinaus.

Die Erkenntnis der Spannung von ungeheurer Macht und Weite menschlicher Existenz und ungeheurer Ohnmacht und vermeintlich völliger Vergeblichkeit geschöpflicher Existenz eröffnen uns hilfreiche Perspektiven auf Gottes Allmacht.

Gottes Allmacht ist die Macht, endliche, sterbliche und leider auch gewollt oder ungewollt dumme oder bösartige Menschen mit göttlichen Kräften zu begaben und zu erneuern. Sie werden umgeben von Kräften eines Geistes der Gerechtigkeit in einer massiv von Ungerechtigkeit und Ungleichheit bestimmten Welt. Sie werden versehen mit Kräften eines Geistes der Freiheit in einer von Unfreiheit und vielfältigen Formen der Unterdrückung gezeichneten Welt. Ihnen kommen Kräfte eines Geistes der Wahrheit zu in einer Welt, die die Kraft der Wahrheit in ihren vielfältigen Gestalten (als Gewissheit, Richtigkeit, Konsens, natur- und geschichtsgestützte Evidenz, Rationalität et cetera) teils unterschätzt, teils unterdrückt. Auch durch zahllose Formen von Ungerechtigkeit und Unfreiheit wird die Wahrheitserkenntnis verdunkelt und verstellt. Dies gilt auch für die Kräfte eines Geistes des Friedens und der Solidarität unter Menschen und Mitgeschöpfen, der dennoch immer wieder segensreich wirkt in einer Welt notorischer Friedlosigkeit, in einer Welt, in der sich natürliches Leben auf Kosten von anderem Leben erhalten muss.

Gottes Allmacht in dieser Welt ist nicht die Bereitung einer Disney-World, in der alles, solange der Strom nicht ausfällt und das Wetter mitspielt, unterhaltsam und harmonisch aufeinander abgestellt ist. Gottes Allmacht ist aber eine Macht, die über allem Unabgegoltenen, Missglückten, vermeintlich Gescheiterten und Verlorenen in dieser Welt Perspektiven des Trostes und der Hoffnung eröffnet.

Viertens: Gottes Allmacht wird häufig als Theismus einer „alles bestimmenden Wirklichkeit“ gefasst. Die Prozesse der Natur und des Kosmos sollen diese Allmacht spiegeln. Doch die Prozesse der Natur zeichnen sich nicht nur durch Schönheit und Fruchtbarkeit aus, sondern sie sind auch geprägt von Endlichkeit und Sterblichkeit, von Destruktivität und einem natürlichen Leben, das auf Kosten von anderem Leben leben muss.

Bewunderung, Ehrfurcht, Sinnlosigkeit

Auch die Weite und die Regularitäten kosmischer Prozesse bieten keinen Ausblick auf Gottes Allmacht, denn sie nötigen wohl den einen Bewunderung und Ehrfurcht ab, den anderen aber vermitteln sie den Eindruck letzter Sinnlosigkeit. Um in dieser Spannung sinnvolle Perspektiven auf Gottes Allmacht zu gewinnen, muss das göttliche Wirken über die natürliche und kosmische Welt und deren große Eigenmacht hinaus wahrgenommen werden.

Gottes Allmacht ist die Macht, auch aus Leid und Not und scheinbar letzter Vergeblichkeit Neues und Gutes zu schaffen. Dies geschieht durch den göttlichen Geist, einen Geist der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens, der inmitten der ambivalenten Prozesse der irdischen Welt beständig wirkt. Mit seiner Macht werden die Menschen begabt, erhalten sie Anteil an der göttlichen Macht, werden sie erleuchtet und erhoben: ganz konkret in ihren familialen, zivilgesellschaftlichen, politischen, rechtlichen, wissenschaftlichen und religiösen Lebensprozessen. Auch viele Regionen der Bildung, der Kunst, der Medien und der Wirtschaft sind von Kräften dieses kreativen Geistes durchdrungen.

Die ebenso unglaubwürdige wie trostlose Vorstellung, dass Gott in jeder Raum-Zeit-Stelle gegenwärtig ist und unterschiedslos „alles bestimmt“, kann vor dieser Einsicht als schlechte metaphysische Spekulation gelassen aufgegeben werden.

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