Für Soziales (um)genutzt

Wie diakonische Projekte neues Leben in alte Kirchengebäude bringen
Seit 2018 ein Inklusionshotel: die Philippuskirche in Leipzig.
Fotos: dpa
Seit 2018 ein Inklusionshotel: die Philippuskirche in Leipzig.

Viele Kirchengebäude sind zu groß geworden für schrumpfende Gemeinden. Doch wenn diakonische Projekte in die Kirchen einziehen, entstehen neue lebendige Orte, die auch die Profilbildung in der Diakonie unterstützen, meinen Kerstin Menzel und Alexander Deeg vom Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig. Sie stellen einige Beispiele dafür vor.

Seit 2008 beherbergt die Kirche als sogenannte Tafelkirche die Oberhausener Tafel, die hier Lebensmittel an bedürftige Menschen verteilt. Auch wenn jetzt keine Gottesdienste mehr in der Kirche gefeiert werden, entspricht sie so immer noch ihrem ursprünglichen Auftrag, die Menschen um den Tisch des Lebens zu versammeln.“ So wird die von Rudolf Schwarz entworfene und 1958 eingeweihte Kirche „Heilige Familie“ in Oberhausen auf der Website der Gemeinde heute vorgestellt. Der Tisch in der auf quadratischem Grundriss errichteten Kirche, deren Wände mit Ziegelsteinsockel und bunt verglasten Formsteinen ganz deutlich die Sprache des modernen Sakralbaus sprechen, bildete schon immer das Zentrum. An drei Seiten von der Gemeinde, an der vierten Seite von Chor und Orgel umschlossen, entsprach diese Raumkomposition den liturgischen und ekklesiologischen Idealen, die erst einige Jahre später im zweiten Vatikanischen Konzil für die römisch-katholische Kirche leitend werden sollten: Jeder Kirchenbau sollte die tätige Teilnahme der gesamten Gemeinde an der Feier der Liturgie ermöglichen. Auch wenn die gottesdienstliche Nutzung 2007 beendet wurde, wurde die Kirche nicht profaniert, die Bänke wurden nur zusammengerückt für die neuen Gäste und die Lebensmittelausgabe.

„Die Menschen um den Tisch des Lebens versammeln“: Werden diakonische Umnutzungen in der Diskussion um überzählige Kirchen bislang ausreichend wahrgenommen? Welche Folgen haben sie für das Verhältnis von Gemeinde und Diakonie, deren Auseinanderfallen ja immer wieder beklagt wird? Diakonische Kirchennutzung ist dabei weder neu noch radikal. Historisch waren etwa die großen Stadtkirchen immer auch Orte der Armenversorgung und der Spendenakquise für diakonische Tätigkeiten. Die Einrichtung von Suppenküchen und Tafelausgabestellen in Kirchenräumen führt diese Tradition bis heute an vielen Orten weiter. Auch das Kirchenasyl zieht – nicht unumstritten – die Dimension des Kirchenraums als Ort des Schutzes in die Gegenwart hinein. Wo aktuell Kirchengebäude weniger für gottesdienstliche Zwecke genutzt werden, kommen gelegentlich auch explizit diakonische Nutzungen in den Blick. Dies geschieht in unterschiedlichen Konstellationen.

Ein erstes Modell ist das der Ablösung: Kirchen, die verkauft werden und ganz aus der liturgischen oder kirchlichen Nutzung fallen. So wurde aus der 2006 profanierten katholischen Kirche St. Norbertus in Krefeld 2014 ein Mehrgenerationenhaus mit gut zwanzig öffentlich geförderten und zwei behindertengerechten Wohnungen. Der umgebende Platz wurde mit Geld für den Stadtumbau neugestaltet, ein Spielplatz eingerichtet. Die katholische Kirche St. Sebastian in Münster, ein elliptisches Gebäude aus dem Jahr 1962, wurde 2012/13 zu einer Kindertagesstätte mit einem großen Innenspielplatz umgebaut. Die kommunale Wohnungsgesellschaft, die diesen Umbau umsetzte, war bereit, Mehrkosten zur Erhaltung der Außenwirkung des Gebäudes zu tragen, obwohl die Kirche nicht unter Denkmalschutz stand.

Sakralraum erhalten

In diesen Fällen bleiben die Gebäude zwar von außen – in gebrochener Weise – als Kirchen lesbar, und die soziale Nachnutzung erfährt häufig eine hohe Akzeptanz. Synergien zwischen kirchlichen und diakonischen Institutionen stellen sich in diesen Fällen jedoch eher selten ein, zumal die Trägerschaft des Ablösungsmodells oft soziale Verbände übernehmen, die nicht den Diakonie-Dachverbänden angehören.

Gerade bei einer Umnutzung durch Mitglieder der Diakonie oder der Caritas bleibt dagegen häufig ein kleinerer Teil des Gebäudes als Sakralraum erhalten und nur der größere Teil des Kirchenraums wird umgenutzt, das Modell der Separation. Ab 2011 wurde etwa St. Mariä Empfängnis in Willich-Neersen zum Pfarrzentrum umgebaut. Der Gottesdienstraum wurde auf den vorderen Teil der 1962 erbauten Kirche konzentriert und mit der nebenan liegenden alten Klosterkirche verbunden. In den Hauptteil der Kirche wurden Pfarrbüro und Archiv, Gruppenräume, eine Bücherei und eine Kleiderkammer eingebaut. Die Caritas Sozialstation nutzt das Gebäude mit. Auch hier war die Umnutzung des Kirchengebäudes Anstoß für eine kommunale Neugestaltung des Umfelds. Die evangelische Friedenskirche in Bochum wurde ebenfalls zu einem Stadtteilzentrum umgebaut: „Q1 – Eins im Quartier. Haus für Kultur, Religion und Soziales im Westend“. Auch dieses Kirchengebäude stammt aus den 1960er-Jahren. Projektpartner war ein Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe sowie Migrationsarbeit, mit dem benachbarten Familienzentrum sowie der Kindertagesstätte wird ebenfalls eng zusammengearbeitet. Im Kirchengebäude sowie in ergänzenden Anbauten wurden Veranstaltungs- und Gruppenräume sowie ein Café eingerichtet. Die Friedenskapelle als neu gestalteter Sakralraum ist Ort für Gottesdienste wie für Gebete von Menschen anderer Religionen.

In die 2007 entwidmete evangelische Neue Pauluskirche in Essen sollte zunächst ein Veranstaltungszentrum der Diakonischen Werke Nordrhein-Westfalen einziehen. Als dieses Vorhaben scheiterte, war mit der Adolphi-Stiftung ein diakonischer Träger auf das denkmalgeschützte Gebäude aufmerksam geworden und baute dieses aufwändig mit eingezogenen Geschossen und Anbauten zu einem Wohn- und Pflegeheim um. Die hohen Glasfenster sind in einem Gemeinschaftsraum auch im Gottesdienst erlebbar, die Taufkapelle blieb in die Cafeteria integriert.

Diese Beispiele der Umnutzung beziehungsweise Teilumnutzung verkörpern im Grunde das Modell der Kapelle, wie es sich in vielen diakonischen Institutionen wie Krankenhäusern oder Seniorenwohnheimen findet. Die diakonische Nutzung wird bereichert und profiliert durch einen spezifisch als solchen deklarierten Sakralraum. Der Gottesdienst und die Möglichkeit persönlicher Besinnung gehören hier zum selbstverständlichen Angebot. Durch den Einzug einer sozialen Nutzung in ein Kirchengebäude wird einerseits die Zusammengehörigkeit der Diakonie zur Kirche sichtbar, andererseits die diakonische Dimension der Kirchengebäude neu profiliert – in besonderer Weise vielleicht in stadtteilorientierten Nutzungsformen, die eine öffentliche Zugänglichkeit auch weiterhin gewährleisten.

Es gibt jedoch auch Beispiele, in denen die räumliche Trennung nicht so eindeutig ist. In diesen Fällen dient der Sakralraum nicht nur als Gottesdienst- und Andachts-, sondern als multifunktionaler Veranstaltungsraum – ein Modell der Simultaneität. So wird gegenwärtig etwa die Heilandskirche in Leipzig zum Stadtteilzentrum Westkreuz umgebaut. In die neogotische Kirche, die mit einer Kindertagesstätte und einem Altenheim im Ensemble liegt, wurde schon zu DDR-Zeiten eine Zwischendecke eingezogen. Nach der Nutzung des Erdgeschosses als Kunstgutarchiv soll dieses nun mit einem Café zum Stadtteiltreff und mit Gruppen- und Probenräumen für die Nutzung durch unterschiedliche kulturelle und soziale Träger ausgebaut werden. Im Gottesdienstraum finden bereits jetzt Konzerte und Veranstaltungen, Ausstellungen und Performances statt.

Ebenfalls in Leipzig liegt die zum Inklusionshotel umgenutzte Philippuskirche, eröffnet 2018. Im ehemaligen Pfarrhaus wurden Hotel, Tagungsräume und ein Biergarten eingerichtet. Die Unternehmensgruppe des Berufsbildungswerks ist seit 2012 Eigentümerin der Kirche und verantwortet auch das geistliche und kulturelle Programm, das im aufwändig sanierten Kirchenraum im Stil des Wiesbadener Programms neben Konferenzen und Vortragsveranstaltungen stattfindet.

Dieses Modell, das zwischen Umnutzung und Nutzungserweiterung changiert, verbindet kirchlich-gemeindliche und diakonische Nutzungen noch enger. Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass die damit verbundenen Logiken durchaus in Spannung geraten können. Die ökonomischen Zwänge eines diakonischen Unternehmens, die Anforderungen an Professionalität und Verlässlichkeit eines Tagungshauses etwa liegen in Philippus zuweilen quer zur gemeindlichen Logik ehrenamtlicher Mitarbeit und dem Anspruch, jenseits aller finanziellen Möglichkeiten inklusiv zu sein. Die damit verbundenen Aushandlungsprozesse führen jedoch im besten Fall zu mehr gegenseitigem Verständnis und einer gegenseitigen Ergänzung von Diakonie und Kirche.

Ein viertes Raummodell der diakonischen Kirchen(um)nutzung ist weniger auffällig: die Anlagerung diakonischer Nutzung im direkten Umfeld der Kirche. Im Blick auf zahlreiche Diakoniestationen im Ensemble von Kirchengebäuden und Gemeindehäusern ist dies ebenfalls kein völlig neues Phänomen. Ein besonders profiliertes Beispiel ist aber beispielsweise der aktuell im Bau befindliche Campus Lorenzo, ebenfalls in Leipzig. Die katholische St. Laurentiuskirche, die im Zentrum eines neu entwickelten Campus steht, bleibt dabei im Wesentlichen unverändert. Sie wird nach Abschluss des Projektes aber umgeben sein von einem Berufsschulzentrum für Gesundheits- und Sozialberufe der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V., einem Schüler:innen-Wohnheim, einem großen Café, das inklusiv betrieben wird, einer Kindertagesstätte und einem Mehrgenerationenwohnhaus mit Sozialstation und Wohngruppen für Demenzkranke. Die Gemeinde sieht in der Beteiligung an der Stadtteilentwicklung die Chance, eine diakonische Tradition fortzusetzen und zu stärken. So wurde das Pfarrhaus in der Vergangenheit als Waisenhaus und als Suppenküche mitgenutzt, aktuell engagieren sich etwa Gemeindemitglieder für Geflüchtete.

Erweiterter Blick

Dieses Modell ist keine Umnutzung im eigentlichen Sinne. Die Erweiterung des Blicks auf ein eventuell vorhandenes Ensemble bietet unseres Erachtens aber die Chance, mit diakonischen Akteur:innen neue Nutzungen des Kirchenraums zu erschließen und die Zusammengehörigkeit von beiden Körperschaften der Kirche in umfassender Weise räumlich zu inszenieren.

Der Schweizer Pfarrer und Diakoniewissenschaftler Christoph Sigrist hat Kriterien der diakonischen Funktion beschrieben, die jedem Kirchengebäude eingeschrieben ist: Als Gasträume sind Kirchengebäude Orte, in denen soziale Unterschiede und gesellschaftliche Hierarchien kritisch in Frage gestellt werden und in denen durch Akte des Teilens – in wechselseitiger Hilfe und im Feiern von Festen – eine solidarische Gemeinschaft entsteht. Als Schutzraum geben (offene) Kirchenräume verletzlichen Menschen einen Ort und erinnern im Blick auf die Geschichte, die weltweite Menschheit und den konkreten Ort an Wunden und deren mögliche Heilung. Als Zwischenraum sind sie Orte des Segens und der Verwandlung – in Gottesdiensten anlässlich von Wendepunkten des Lebens, aber auch in kleinen Gesten wie dem stillen Verweilen oder dem Anzünden einer Kerze. Der katholische Theologe und Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards hat darauf verwiesen, dass die implizite diakonische Dimension von Kirchenräumen immer auch ein kritisches Moment gegenüber gemeindlichen und liturgischen Selbstabschließungstendenzen darstellt. Dass diakonisch getragene Nutzungserweiterungen und Umnutzungen sozial spannungsreich und baukulturell komplex sind, ist daher unseres Erachtens wenig verwunderlich. Sie bieten gerade darin aber die Möglichkeit, dieses kritische diakonische Potenzial der Kirchenräume neu zur Geltung zu bringen. 

 

Weiterführende Links

www.zukunft-kirchen-raeume.de

https://transara.de/teilprojekt-2

Literatur

Christoph Sigrist: Kirchen Diakonie Raum. Untersuchungen zu einer diakonischen Nutzung von Kirchenräumen. TVZ, Zürich 2014.

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Foto: Sakralraumtransformation

Alexander Deeg

Prof. Dr. Alexander Deeg, geb. 1972, lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 

Foto: Lilly Schaack

Kerstin Menzel

Dr. Kerstin Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe „Sakralraumtransformation“ am Institut für Praktische Theologie an der Universität Leipzig.


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