Neigung zum Dramatisieren

Wie Geistliche die Veränderungen der 1960er-Jahre erlebten, hat Jonas vom Stein untersucht
Jonas vom Stein
Foto: Michael Schütz

Im Studium konnte ich mich nie so recht zwischen Theologie und Geschichtswissenschaft entscheiden. Meine Masterarbeit in Geschichte schrieb ich dann – sozusagen als Kompromiss – zu einem kirchengeschichtlichen Thema: Ich untersuchte evangelische Pfarrer in den 1950er-Jahren, ihre Beobachtungen des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders und die Konflikte, die sie austrugen. Als ich diese Arbeit in der Theologie vorstellte, war ich überrascht, dass sie auch viele Fragestellungen der Praktischen Theologie berührte. Von Professorin Isolde Karle erhielt ich dann das Angebot, eine praktisch-theologische Doktorarbeit an der Ruhruniversität Bochum zu schreiben.

Der Titel meiner Dissertation lautet: In Sorge um Gesellschaft, Kirche und Amt. Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer in den Transformationsprozessen der langen 1960er-Jahre. Die „langen 1960er-Jahre“ sind eine Periodisierung aus der Sozialgeschichte und meinen in etwa die Jahre von 1958 bis 1973. Jene Jahre zwischen dem Wirtschaftswunder und der ersten Rezession waren von Wohlstand und einem starken Fortschrittsglauben geprägt, aber auch von zahlreichen Transformationsprozessen, die wir häufig unter der Chiffre „1968“ zusammenfassen.

Ich habe Beiträge von Pfarrern und von Pfarrerinnen ausgewertet, die im Deutschen Pfarrerblatt erschienen waren, und Artikel der praktisch-theologischen Fachzeitschrift Wege zum Menschen. Aufgrund der Quellenlage richtete sich der Fokus der Untersuchung auf die westdeutsche Geschichte. Der Begriff „Sorge“ ist für den Pfarrberuf zentral. Er umfasst die Besorgnis, die Pfarrerinnen und Pfarrer angesichts der Transformationsprozesse in Gesellschaft und Kirche befiel, und beschreibt gleichzeitig, was den Pfarrberuf ausmacht, die Sorge für Menschen an wichtigen Schwellen des Lebens. „Sorge“ steht für die negativkonnotierte Wahrnehmung der Welt und für Handlungen zum Wohle der Mitmenschen.

Auffällig ist, dass im untersuchten Material schon zahlreiche Problemstellungen auftauchten, die Pfarrer, Pfarrerinnen und Kirchen noch heute beschäftigen. Aber natürlich stieß ich auch auf Einstellungen, die uns heute befremdlich sind. So fiel mir ein starker Kulturpessimismus auf. Der „moderne Mensch“ galt als Mängelwesen, das orientierungslos ist und einen Hirten sucht, der es führt. Durchgehend wurde deutlich, dass Pfarrerinnen und Pfarrer selbst in positiven Erscheinungen der Moderne, wie der Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse, immer das Negative suchten.

Nachdem viele Landessynoden um 1968 herum die Frauenordination beschlossen hatten, vertraten Pfarrer zunächst noch die Auffassung, dass Frauen und Männer unterschiedliche Fähigkeiten für den Pfarrberuf mitbringen und nur letztere das Hirtenamt ausfüllen und führen können.

In der von mir untersuchten Periode wurde der Pfarrberuf auch als Reaktion auf die abnehmende Zahl der Kirchenmitglieder und Gottesdienstbesucher vielfältiger. Die Möglichkeiten, sich zu spezialisieren, und der Wunsch danach wuchsen. So verlangten diejenigen, denen die Seelsorge wichtig war, eine psychologische Ausbildung. Hier war die Zeitschrift Wege zum Menschen, in der Theologen und Psychologen publizieren, Vorreiterin. Gleichzeitig äußerten Pfarrpersonen die Angst, ihre Kolleginnen und Kollegen könnten sich von der eigentlichen Aufgabe ihres Berufs entfernen, es sei denn, sie betrachteten Psychologie als „Hilfswissenschaft“.

Ich musste schmunzeln, wie viele Pfarrerinnen und Pfarrer schon in den 1960er-Jahren überzeugt waren, dass es mit der Volkskirche zu Ende geht. Man dramatisierte die eigene Position und – die Lösungsvorschläge. Auffällig vertraut klangen auch einige Lösungsvorschläge, zum Beispiel die Idee eines Teampfarramtes. Aber daraus wurde nichts. Den Quellen entnahm ich, dass viele Pfarrpersonen – zum Teil selbstkritisch – feststellten, dass sie lieber alleine in einer Gemeinde oder einem Gemeindebezirk tätig sein möchten.

Auch die Reformvorschläge für das Theologiestudium kommen uns heute bekannt vor. Gefragt wurde, ob Studierende der Theologie Griechisch, Latein und Hebräisch lernen müssen und es nicht sinnvoller wäre, sich mit der Lebenswelt der Leute zu beschäftigen. Als Problem wurde empfunden, dass viele nach dem Studium das, was sie an der Universität gelernt hatten, der Gemeinde nicht mehr vermitteln konnten. Die moderne Theologie traf hier auf eine traditionelle Gemeindefrömmigkeit.

Die Diskussion um die Aufgabe der Kirche in der Moderne führte unter Pfarrerinnen und Pfarrern häufig zu einem Entweder-Oder, ob man zum Beispiel missionieren oder sich gesellschaftlich-politisch engagieren soll. Oft prägte Häme die Auseinandersetzungen. So wurde unterschieden zwischen „echten Hirten“ und „Mietlingen“ und gefragt, ob man noch derselben Kirche angehöre. Interessanterweise waren aber alle Beteiligten stets davon überzeugt, im Interesse der Menschen zu handeln.

In den 1960er-Jahren taten sich Pfarrerinnen und Pfarrer gerade in der Diaspora noch schwer mit der interkonfessionellen Ehe. Sie fürchteten den Einfluss der römisch-katholischen Kirche auf die Kindererziehung und mussten zugleich feststellen, dass sie den Eheleuten die Konfessionsunterschiede nicht mehr vermitteln konnten. Mit Erstaunen nahm man die vom Zweiten Vaticanum angestoßenen Veränderungen wahr, dass der Priester nun hinter dem Altar steht und sich bei der Eucharistie der Gottesdienstgemeinde zuwendet. Für manche evangelische Pfarrpersonen zeigte das, dass die römisch-katholische Kirche an diesem Punkt weiter sei als die eigene Konfession.

Im Verlauf meiner Forschung ist deutlich geworden, wie sich das Pfarrerbild im Laufe der Zeit verändert hat. Im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten wurden aus preußischen Staatsbeamten über die braven Pfarrer der 1950er-Jahre schließlich die weltverändernden Pfarrerinnen und Pfarrer der 1960er-Jahre. Das paternalistische Selbstbild der Hirten, der selber viel eher weiß, was seine Schafe brauchen, als diese selbst, kommt uns heute sehr befremdlich vor. Auch gab es noch kein Gespür für Work-Life-Balance. Für Pfarrerinnen und Pfarrer war Überlastung noch selbstverständlich das Joch, das der Herr seinen Dienern auferlegt hat.

Doch trotz dieser offensichtlichen Unterschiede fällt in der Rückschau auf, wie sehr sich Wahrnehmungen und diskutierte Lösungsansätze gleichen. Für unsere Gegenwart würde es sich daher lohnen, zu reflektieren, mit welchen Augen wir als Kirche auf die Welt blicken und warum viele der gewünschten Veränderungen bis heute nicht erreicht worden sind. 

 

Aufgezeichnet von Jürgen Wandel
 

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