Pädagogen als Propheten

Wenn die früheren Lehrer der Promis befragt werden, wird es oft peinlich
Foto: Harald Oppitz

Olaf Scholz ist gerade zum Bundeskanzler gewählt worden, was eine investigative Journalistin eines öffentlich-rechtlichen Radiosenders dazu veranlasst hat, Scholzens Grundschullehrerin aus alten Hamburger Zeiten aufzutreiben. Die Dame ist heute 80, kann sich noch gut an den kleinen Olaf erinnern und bewahrt sogar noch das Klassenfoto von damals auf. Leider hat sie auch manche Erinnerungen bewahrt: „Er war als Kind eher moppelig“ klärt die Lehrerin auf und weiß noch, dass Olaf ein Schüler war, „der alles machte“. Olaf habe es aber auch dank des Einsatzes seiner Mutter einfacher gehabt als andere Schüler. „Bekam Olaf schon damals rote Ohren wenn er sich aufgeregt hat?“ will die Journalistin wissen. Daran kann sich die Lehrerin tatsächlich nicht erinnern, die Haare seien früher auch länger gewesen als heute. Schließlich will die Journalistin noch erfahren, seit wann die Lehrerin denn Olaf Scholz zugetraut habe, Bundeskanzler zu werden. „Erst sehr spät“, lautet die zögerliche Antwort. „Lieber nicht!“, sei lange ihre Einschätzung gewesen, und man spürt, dass diese Skepsis die Frau bis heute nicht ganz verlassen hat.

Eine Grundschullehrerin wie die von Olaf Scholz gönne ich höchstens meiner besten Feindin. Ich stelle mir vor, wie es an der Tür meiner Klassenlehrerin Frau K. aus alten Gießener Zeiten klingelt und Frau K. ins Mikro erzählt, wie die kleine Angela so in der Grundschule war. „Sie hat sich in der Pause immer mit den Jungs geprügelt.“ Oder: „Damals war sie spindeldürr, ganz anders als heute.“ Bei mir werden nicht nur die Ohren rot, wenn ich mir solche Fragen vorstelle. Glücklicherweise werde ich garantiert nicht mehr Bundeskanzlerin oder sonst irgendwie so prominent, dass jemand auf die Fahndung nach Frau K. gehen würde.

Möglicherweise hätte Frau K. mir sogar den Job der Bundeskanzlerin zugetraut (eher unwahrscheinlich, zu meinen Grundschulzeiten waren Frauen für solche Aufgaben nicht vorgesehen), dafür aber weniger (dank meines handfesten Engagements auf dem Schulhof) eine Berufstätigkeit im seelsorglichen Bereich. Vielleicht war sie aber damals schon so weise, sich Prognosen über ihre Zöglinge zu verkneifen.

Performative Auswirkungen

Es ist ja eine Versuchung der lehrenden und ausbildenden Zunft, sich eine prophetische Gabe im Blick auf das Lebensscript der ihnen anvertrauten Schülerinnen und Schüler einzubilden. Leider hat das manchmal verheerende performative Auswirkungen. Ich kann mich noch gut an die Ansage meines Mathelehrers in der Mittelstufe erinnern: „Bei mir hat noch kein Mädchen besser als „3“ abgeschnitten“. Bis dahin war Mathe eines meiner Lieblingsfächer gewesen. Bei dieser Fachkraft rutschten meine Leistungen jedoch ab. Viele Menschen mit Migrationshintergrund können von wesentlich schlimmeren Prognosen im Blick auf ihre Leistungsfähigkeit berichten. Nachgewiesen ist, dass man mit den Vornamen Dennis oder Kevin ganz schlechte Karten hat.

Ich will hier kein Lehrerbashing betreiben. Schließlich bin ich das Kind einer Lehrerin und bilde selbst junge Menschen aus. Meine Mutter war allerdings der Meinung, dass ihre Schülerinnen und Schüler die Drehbücher ihres Lebens selbst schreiben sollen und dürfen. Dem schließe ich mich vollumfänglich an.

Für den Fall, dass ich gerade jemand ausbilde, der einmal ganz berühmt wird, etwa als zukünftige Ratsvorsitzende der EKD, kann ich aber heute schon eines felsenfest versprechen: Ich gebe keine Interviews und verrate keine Details. Bei mir gilt die Schweigepflicht! Selbst wenn der Rundfunk zweimal klingelt.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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