Ein Werk, das nicht altert

Ungebrochene Aktualität – Gustave Flauberts 200. Geburtstag
Gustave Flaubert – eine Karikatur von Edouard Brun (1922) nach einem Gemälde von Pierre François Eugène Giraud, 1868.
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Gustave Flaubert – eine Karikatur von Edouard Brun (1922) nach einem Gemälde von Pierre François Eugène Giraud, 1868.

Seine Romane gelten als Vorläufer des zeitgenössischen Romans. Der Schriftsteller Gustave Flaubert, dessen Geburtstag sich in diesen Wochen zum 200. Mal jährt, erfreut sich auch heutzutage ungebrochener Beliebtheit. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, stellt einen bedeutenden Schriftsteller und scharfsinnigen Analytiker der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts vor.

Das ist der natürliche Gang der (Literatur-)Geschichte: Je dicker der Staub auf den Büchern vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte liegt, desto mehr geraten ihre Autorinnen und Autoren in Vergessenheit, fallen allmählich aus dem Kanon der unverzichtbaren Lektüren und sind schließlich allein noch für Literarhistoriker von Interesse. Blickt man zum Beispiel auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts, gibt es allenfalls eine Handvoll von Schriftstellern, deren Bücher kaum Patina aufweisen und die bis heute produktiv rezipiert werden. Ganz oben auf dieser Rangliste steht Gustave Flaubert, der vor zweihundert Jahren, am 12. Dezember 1821, geboren wurde.

Seine Romane Madame Bovary und L’Education sentimentale gelten als Meilensteine der Gattung und weisen ihren Autor nicht nur als Meister des psychologischen Realismus, sondern auch als scharfsinnigen Analytiker der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts aus. „Heute“, schrieb einst Nathalie Sarraute, die Grande Dame des Nouveau Roman, „heißt unser Meister Gustave Flaubert. Über ihn besteht Einmütigkeit: Er ist der Vorläufer des zeitgenössischen Romans.“

Während das Interesse an Honoré de Balzac oder Émile Zola schwächer geworden ist, erfreut sich Flaubert bei Lesern und Literaturwissenschaftlern gleichermaßen großer Beliebtheit. Auch an neuen Übersetzungen mangelt es nicht. Elisabeth Edl hat so zuletzt – viel gerühmt, wenngleich nicht unumstritten – Madame Bovary und L’Education sentimentale ins Deutsche gebracht, in reichhaltig kommentierten Ausgaben des Hanser Verlags. Dort erschien vor kurzem überdies mit acht Jahren Verzögerung die nüchtern-klare Flaubert-Biografie Michel Winocks.

Über den Romancier Flaubert sollte man indes den Briefschreiber Flaubert nicht vergessen. Fünf stattliche Bände umfasst seine Korrespondenz in der Bibliothèque de la Pléiade, und wenn man einmal begonnen hat, in diesen Briefen zu blättern, fällt es schwer, sie beiseitezulegen. Zu vielfältig, zu komisch, zu absonderlich, zu scharfsinnig ist es, was Flaubert seinen zahlreichen Korrespondenzpartnern anvertraut.

Meister der Freundschaft

Die Briefe spiegeln nicht nur Flauberts komplexe Psyche; sie zeigen ihn als Meister der Freundschaftspflege, als mäßig sympathischen Sexualprotz, als liebevollen Onkel, als bissigen Kritiker bürgerlichen Philistertums, und sie geben einen vorzüglichen Einblick in seine Werkstatt, sind Ausdruck seiner Schreibbesessenheit und veranschaulichen, was es heißt, der Sprache Satz für Satz die richtigen Wörter abzuringen. En passant gibt Flaubert dabei zu erkennen, wie überzeugt er von der Neuartigkeit seines Schreibens war. Dass die Beschreibung der Landwirtschaftsausstellung in Madame Bovary – ein Meilenstein in der Geschichte des modernen Romans – durch die „Verflechtung des Dialogs und die Gegenüberstellung der Charaktere“ etwas Unbekanntes hervorbringe, ist ihm sofort klar, und gleichzeitig demonstriert er in seinen Briefen, welche Anstrengung es mit sich bringt, derart unbekanntes Terrain zu erobern. Nicht minder bewusst ist ihm, was er sich mit der ungewöhnlichen Konstruktion der Education sentimentale vorgenommen hat. 1864 schreibt er an Marie-Sophie Leroyer de Chantepie, dass er an einem in Paris spielenden „modernen Sittenroman“ sitze, der nichts weniger als die „Moralgeschichte der Menschen meiner Generation“ umfasse.

Nicht zuletzt finden sich in Flauberts Briefen jene Schlüsselsätze, die der Nachwelt viel Anlass zum Nachdenken gegeben haben – etwa wenn er in einem Brief an Louise Colet aus dem Jahr 1852 sein Schreibideal fixiert und zugleich deutlich macht, dass es nicht ratsam ist, sein Werk zu früh einem wie immer auch definierten Realismus zuzuschlagen: „Was mir schön vorkommt, was ich machen möchte, das ist ein Buch über nichts, das an nichts Äußerem hängt, das sich durch die innere Kraft seines Stils von selbst hält, so wie sich die Erde, ohne gestützt zu werden, in der Luft hält, ein Buch, das fast kein Thema hätte, oder in dem das Thema beinahe unsichtbar wäre, wenn das möglich ist.“ Was das in der Praxis bedeutet, zeigt Madame Bovary (1857), obschon nicht leicht zu sagen ist, worin die Wirkkraft dieses Romans besteht. Am Inhalt konnte und kann es kaum liegen, an jener Geschichte der Bauerntochter Emma Bovary, geborene Rouault, die in der Ehe mit dem verwitweten Landarzt Charles Bovary nicht glücklich wird und ihre hochfahrenden Träume andernorts erfüllt sehen will, in den Armen ihrer Geliebten Rodolphe und Léon etwa. Mag das Lügengespinst, das Emma errichtet, um ihre Rendezvous zu ermöglichen, anfangs größte Auf- und Erregung garantieren, so erkaltet dieser Reiz schneller, als sie denkt. Die Katastrophe naht: Emma verschuldet sich, ergibt sich den Gläubigern und flieht in den Selbstmord.

So weit, so gewöhnlich, möchte man sagen, doch Flauberts Zeitgenossen erkannten umgehend, welche Sprengkraft diese so selbstverständlich daherkommende Ehebruchsgeschichte besitzt. Den kalten Blick auf die Gesellschaft – der Roman spielt um 1840 – und die mitleidslose Darstellung einer, so Flaubert, „Frau von falscher Poesie und falschen Gefühlen“ empfand eine auf Sitte und Moral pochende Leserschaft als Unverfrorenheit, und so nahm es nicht wunder, dass dem Roman der (mit einem Freispruch endende) Prozess gemacht wurde.

Flauberts erzählerische Revolution liegt in einer hart erkämpften Kunstsprache, bei der kein Wort am falschen Ort stehen und kein Ton falsch klingen darf. Zudem verzichtet er weitgehend auf eine übergeordnete Erzählerinstanz und schildert die Ereignisse aus der Perspektive seiner scheiternden Heldin. Diese Techniken stießen anfangs auf blankes Unverständnis.

Fast noch radikaler wirkt von heute aus betrachtet Flauberts zweites Hauptwerk, die Education sentimentale (1869), die neuerdings in Elisabeth Edls Übersetzung unter dem wenig überzeugenden Titel Lehrjahre der Männlichkeit firmiert. Wieder einmal hatte Flaubert mit seinem Stoff und dessen literarischer Umsetzung schwer zu kämpfen. Zu ambitioniert erschien die Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte. Der aus dem Provinzstädtchen Nogent-sur-Seine stammende Frédéric Moreau, der junge Held dieses Romanprojekts, sollte kein idealer Repräsentant der florierenden Untergattung „Erziehungs- beziehungsweise Bildungsroman“ sein und keinen Reifeprozess durchlaufen, der ihn nach Irrungen und Wirrungen zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft werden lässt.

Nein, Flaubert hatte sich vorgenommen, das private Schicksal Moreaus mit all seinen (Liebes-)Verstrickungen untrennbar mit den politischen Ereignissen im Frankreich der 1840er- und 1850er-Jahre zu verknüpfen. Das Persönliche und das Zeithistorische galt es auf eine Weise miteinander zu verschmelzen, die das Eine zum Spiegelbild des Anderen macht und gleichzeitig auf eindeutige Wertungen verzichtet. Moreaus Geschichte ist eine des Scheiterns.

Seine amourösen Abenteuer führen selten oder auf eine nicht gewünschte Weise zum Ziel. Er taugt weder zum erfolgreichen Anwalt noch zum Künstler; die kurzfristige Überlegung, in die Politik zu gehen, wird alsbald verworfen, und nachdem ihn eine Erbschaft finanziell unabhängig macht, fühlt er sich keiner gesellschaftlichen Gruppe zugehörig. Den revolutionären Eifer seiner Jugendfreunde teilt er nur halbherzig, und auch den Klassen der Reaktionäre, Arbeiter und Kapitalisten steht er eher als Beobachter gegenüber.

Seine Blockaden und das unschlüssige Lavieren zwischen den Positionen machen Moreau zu einem trübsinnigen Romanhelden. Dass dessen „Lehrjahre“ zu keinem erfreulichen Ergebnis führen, ist jeder Leserin, jedem Leser nach wenigen Seiten klar. Dieses Unentschiedene in Moreaus Haltungen und Handlungen wurde vom zeitgenössischen französischen Publikum nicht verstanden und fand in der Kritik kaum Anklang. Die Education sentimentale war auf allen Ebenen ein Misserfolg, und Flaubert kam nicht umhin, darauf zu vertrauen, dass erst nachfolgende Generationen verstehen würden, was es mit seinem Roman auf sich habe.

Die Education sentimentale ist so, wie der Romanist Erich Köhler schrieb, eines der „deprimierendsten Bücher der Weltliteratur“, und was Flaubert darin seziert, ist keineswegs nur der unersprießliche Lebensweg Moreaus. Sein Blick gilt gleichzeitig dem in Flauberts Augen erbärmlichen Gang der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Was die beiden Revolutionen der Jahre 1830 und 1848 anrichteten und was Louis Napoléons Machtübernahme 1851 mit dem sich anschließenden Second Empire für die Gesellschaft bedeutete, führt Flaubert gnadenlos aus und vor.

Bei aller Begeisterung für Flauberts Erzählrevolutionen in Madame Bovray und in der Education sentimentale sollte man seine anderen Werke nicht vorschnell aus der Hand legen. Die schmale Erzählung Ein schlichtes Herz zum Beispiel zeigt ihren Verfasser von einer hoch empathischen Seite: Die Bedienstete Félicité findet, nach einer Liebesenttäuschung, Arbeit bei der Witwe Aubain in einem Normandie-Städtchen. Ihr Herz hängt sie an ihren Neffen Victor und an Virginie, die Tochter des Hauses. Beide sterben tragischerweise in jungen Jahren, und so bleibt der einsamen Félicité nur die Liebe zum Papagei Loulou, den sie, als auch ihn das Zeitliche segnet, ausstopfen lässt. Je mehr sich der Geist der Bediensteten schließlich verwirrt, desto stärker sieht sie den Papagei als Personifizierung des Heiligen Geistes – eine Verirrung, die Flauberts Geschichte eine zutiefst anrührende Note gibt.

Papagei als Heiliger Geist

Und da gibt es noch Flauberts einzigartiges Spätwerk Bouvard und Pécuchet, das Fragment blieb und das er für den Höhepunkt seines Schaffens hielt. Worum es in diesem wunderbar absonderlichen Zyklus geht und was das Bestreben der aus Paris in die Provinz fliehenden Messieurs Bouvard und Pécuchet ist, hat Flauberts Schüler Guy de Maupassant prägnant zusammengefasst: „Dann beginnen sie eine Reihe von Studien und Experimenten, die alle menschlichen Kenntnisse umfassen. Zuerst widmen sie sich der Gartenkunst, dann dem Ackerbau, der Chemie, der Medizin, der Astronomie, der Chemie, der Medizin, der Astronomie, der Archäologie, der Geschichte, der Literatur, der Politik, der Hygiene, dem Magnetismus, der Zauberkunst. Sie kommen zur Philosophie, verlieren sich in ihren Abstraktionen, geraten auf die Religion, werden sie leid, versuchen die Erziehung zweier Waisen, scheitern wiederum und geben sich in ihrer Verzweiflung wieder an das Abschreiben wie früher.“

Die 2017 bei Wallstein herausgekommene, von Hans-Horst Henschen verantwortete Edition von Bouvard und Pécuchet zeigt, was Flaubert vorschwebte. Flaubert, der seine Protagonisten am Ende nur noch Angelesenes anhäufen lässt, zielt in gewissem Sinn auf einen Umsturz des Romans, auf ein Buch, das den Autor selbst zum Verschwinden bringt. Es gehe, wie er Louise Colet schrieb, um „ein Buch, in dem kein Wort vorkommen dürfte, das auf meinem eigenen Mist gewachsen ist“. Mit klassischer Erzählliteratur hat das wenig zu tun. Die Methode verweist unmissverständlich auf avancierte literarische Formen, auf jene seit dem 20. Jahrhundert so geläufigen Versuche, das Erzählen selbst zum Problem zu machen, seine Unmöglichkeit im Text zu spiegeln.

Flaubert zeichnet diesen Weg konsequent vor: Zu erzählen ist nichts mehr. Im Chaos der widerstreitenden Meinungen und Behauptungen ist für Originalität kein Platz vorhanden. Wie die beiden müden Helden Bouvard und Pécuchet einsehen müssen, dass sie auf keinem Feld reüssieren, und sich deshalb auf das Reproduzieren von Texten beschränken, so lässt sich Bouvard und Pécuchet als Künstlerroman lesen, als Eingeständnis dessen, dass Ureigenes zumindest in der Literatur kaum noch hervorzubringen ist. Nichts Neues also unter der Sonne. Wo es im 20. Jahrhundert deshalb oftmals zum Verstummen kam, zum bewussten Fragment, häuft Flaubert einen Berg von Texten an, der kein Entkommen mehr möglich macht.

Fast jedes Werk Flauberts erweist sich so als Solitär in der Literatur nicht nur des 19. Jahrhunderts. Kein Wunder also, wenn es in Woody Allens Film „Manhattan“ über die Education sentimentale heißt, dass dieser Roman das Leben lebenswert mache.

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