„Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein“

Die Schweizer Schriftstellerin und Malerin Adelheid Duvanel schuf ganz besondere Figuren
Sie malt mit Worten: Adelheid Duvanel.
Foto: Limmat Verlag
Sie malt mit Worten: Adelheid Duvanel.

Sie schrieb große Literatur. Vergleiche ihrer Kurzprosa mit der Robert Walsers gab es früh, doch Adelheid Duvanel (1936 – 1996) blieb weitgehend unbekannt. Nun findet sie endlich die verdiente Beachtung: „Fern von hier“ versammelt erstmals alle ihre Erzählungen. Ein Schatz. Und ein Ereignis, das Udo Feist vorstellt.

Ihre Texte haben kein Gramm zu viel, sind oft gerade mal zwei Seiten lang. Und sie brauchen keinen Anlauf. Sie springen aus dem Stand, und das genau. Landen auf dem Punkt, doch der liegt meist anderswo als erwartet. Der Flug hat beiläufig erwähnte Wendungen. Texte wie das Leben, mit Wünschen wie Abgründen, und daraus werden Geschichten jener Buckligen, Bedrückten, Übersehenen, die dort begegnen: präzis beobachtet, in atemberaubender Dichte erzählt – als würden sie geborgen. Texte wie Gemälde, stets auf der Schneide von Realismus und Traum, Surrealem. Adelheid Duvanel (1936 – 1996) malt mit Worten. Ihre ersten Sätze ziehen sofort in das Bild hinein – manche, indem sie komisch oder sogar witzig erscheinen.

„Der magere Jochen möchte Isländer sein; er stellt sich vor, dass er dann das Recht hätte, zu schweigen und zu fischen.“ Er lebt mit Veronika. Sie arbeitet am Bankschalter: „Sie nehmen das Mittagessen in einem dunklen Restaurant ein, das keinen schlechten Ruf hat. Veronika trinkt zu viel Weißwein, raucht zu viel und spricht nicht wenig, aber im Restaurant schreit sie nicht oder nur selten.“ Eigentlich möchte er sie verlassen, doch das wird er nicht, „weil er sich ihre Rabenaugen nicht nur vorstellen will“. Es sind solche Geschichten dicht am Wiedererkennen oder weit darüber hinaus, die trotz nebelartigem Aufziehen von Schauder nie los-, sondern suchtartig weiterlesen lassen. Seltsam.

Die lakonischen Texte erzählen von Alltäglichem und Bedrängtsein. Sie sind von Depression und Ängsten durchzogen, doch davon nie aufgeschwemmt. Sie sind durchtrainiert, nahezu drogendürr, aber vital, so lang es geht jedenfalls. Auch darum kommen sie auf den Punkt, vor echtem Leben satt. Nackte Klarheit des Ausgeliefertseins prägt ihren Stil – an sich, an die anderen, an das Schicksal. Doch einen Ton von Klage oder Jammern gibt es nicht, stattdessen ein Schillern unbeugsamer Würde, so ausweglos oder geknickt ihre Protagonisten auch sind. Das fasst sie in sorgsam, lyrisch leuchtend gesetzte Bilder: „Du gleichst einem Apfelkern, der auf einer gefrorenen Schneedecke liegt – ein hungriger Vogel wird dich finden“, sagt der Engel in einer anderen Erzählung zu Arthur, dem er den Zugang zu den „Zelten der Menschen“ verwehrt. Und im Traum eröffnet er ihm, Arthur selbst „besäße kein Zelt, sondern nächtige unter freiem Himmel, auf der nackten Erde, weder von einem Strauch noch von einer Frau liebkost.“ Hart biblisch gekleidete Einsamkeitswahrheit, bloß eine Gnade wird Arthur gewährt: „Der Schlaf schlich herbei und legte sich so sanft neben ihn, wie keine Frau es tut.“

Auch letzte Sätze sitzen genau bei ihr – allerdings allenfalls tragikomisch. Sie selbst schlief ebenfalls auf purer Erde unter nacktem Himmel ein: Unter dem Einfluss von deutlich mehr Medikamenten als eh für sie üblich erfriert Adelheid Duvanel in einem Wald bei Basel in einer verregneten, außergewöhnlich kalten Sommernacht vom 7. auf den 8. Juli 1996, mit sechzig Jahren: „Ein mythischer Tod“, schreibt der ihr nahestehende Bruder Felix Feigenwinter an ihren Lektor Klaus Siblewski. „Sie wurde im Wald von einem Reiter gefunden, ein schwarzer Hund hat sie bewacht – das Tier ist verschwunden und wurde von der Polizei bisher vergeblich gesucht“. Dass es Suizid war, ist unstrittig, doch heißt es meist zurückhaltender: „Tod durch Unterkühlung unter Medikamenteneinfluss in einer sehr kalten Julinacht im stadtnahen Wald.“

Adelheid Duvanel lebte und überlebte in Sprache. Als ihr schreiben indes nicht mehr möglich war oder schien, kam sie zum Ende. Zur Welt kam sie 1936 in einer grundsoliden Schweizer Familie: die Mutter eine protestantische Baseler Bürgerstochter, der Vater, ein späterer Strafgerichtspräsident, streng katholisch. So wurden sie und ihre drei jüngeren Geschwister auch erzogen. Ihr Talent – sie begann früh zu schreiben und noch eher zu malen – förderten die Eltern zunächst. Sie sei ein verschlossenes, Gefühle verbergendes Kind gewesen, schreibt sie in ihrem letzten, postum erschienenen Text „Innen und Außen“: „Ich hatte als Kind Anfälle von großem Lebensüberdruss und stellte mir oft vor, wie schön es wäre zu sterben.“ Und in dessen letzten Sätzen: „Es gab eine Zeit, da hatte ich nicht nur AUSSEN, sondern auch INNEN jede Orientierung verloren. Ich denke, dass auch Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies lange Zeit umherirrten, bis sie einen Platz fanden, auf dem zu leben sich lohnte.“ Duvanel hat ihn dann nicht mehr länger gefunden.

Nach einem offenbar verstörenden Jahr in einem katholischen Internat erlebte sie mit 17 ihre erste Psychiatrisierung: Mit der Diagnose Schizophrenie wurde sie wie damals üblich mit Elektroschocks und Insulinspritzen „behandelt“. Kreativ hielt sie dennoch dagegen: Sie schrieb, malte, obwohl der Besuch einer Kunstgewerbeschule und danach eine Lehre als Textilzeichnerin scheiterten. Sie hatte gefunden, wohin sie gehörte, wie und womit sie leben konnte. Damals sitzt sie in Basel oft schwarz gekleidet in einem als Existentialistencafé angesehenen Lokal. In den Basler Nachrichten beginnt sie unter Pseudonym (Judith Januar; Kälte schon im Namen!), Geschichten zu veröffentlichen und heiratet mit 22 den Maler Joe Duvanel – wohl auch, um elterlich-bürgerlicher Strenge zu entgehen. Der musische Mann (beide schwärmen für Chopin, so Bruder Felix) erweist sich als Macho. Ihre Wohnung wird zwar Party-Ort für Basels Bohème, man trank da halt viel, doch malen verbietet er ihr. Maler sei schließlich er. Auch sonst mutet er ihr viel zu. Dass sie in Bürojobs das nötige Geld verdient, kann er hinnehmen.

„Die Tarnung“ beginnt mit der Hausfrau im Bikini auf dem Balkon. Der Mann drinnen „redet mit vollem Mund über den neuen Freund der Tochter und nennt ihn ‚er‘“. Der ist gerade da und „hockt auf dem Boden des engen Balkons neben dem Strohhut der Hausfrau“. Die Tochter sagt, dass er Betteln nicht nötig habe, da „er“ an der Kunstgewerbeschule „Ton und Gips“ unterrichte, was dem Vater ein „beachtlich“ entlockt. Und „Traugott inhaliert den gewöhnlichen Tabakrauch seiner Pfeife, wie er es vom Haschischrauchen her gewohnt ist, und stellt nach einem seiner entsetzlichen Hustenanfälle mit brüchiger Stimme fest: ‚Meine Lunge lacht.‘“ Kurz drauf blickt ihm die Tochter vom Balkon aus nach, wie er „durch die Gasse unten mit hallenden Schritten davongeht, dorthin, wo man die Wege auswählen kann und sie irgendwohin führen“. Drastisch feiner Humor in verbackenen Situationen, der Vergleiche mit Kafka nahelegt wie auch solche mit Robert Walser, vor allem wegen Duvanels grandioser Lakonie in Stil und Komposition. Walser war auf einer seiner Wanderungen um die Heilanstalt Heris-au vierzig Jahre zuvor ebenfalls draußen gestorben. Allerdings lag da Schnee. Und sogar zu Johann Peter Hebels knackigen Kalendergeschichten ließen sich von ihr aus Linien ziehen.

Klappern gehört eben auch im Literaturbetrieb zum Handwerk. Sie hatte es darin aber trotz gewichtiger Fürsprache schwer. Nach einem ersten Band in der Schweiz brachte Otto F. Walter sie bei Luchterhand unter, wo sieben weitere folgten – Der letzte Frühlingstag bereits postum, mit Nachwort vom wichtigen Schweizer Germanisten Peter von Matt, der den Rang ihrer Prosaminiaturen seit langem gelobt hatte. Auch den Auswahlband Beim Hute meiner Mutter stellte er 2004 zusammen, der große Aufmerksamkeit bekam. Peter Hamm schrieb von der „herzzerreißenden Zauberkraft ihrer Erzählungen“, doch Duvanel blieb wie ihre Figuren eine gemeinhin Übersehene. Dass Kurzformen in dem auf Romane getrimmten Markt eh kaum Leserschaft finden, mag ein Grund sein. Ein anderer, dass viele sich nach wie vor sperren, Frauen Größe zuzutrauen.

Klare Konturen

„Eine Gesamtausgabe wäre zu erhoffen,“ schrieb der Baseler Schriftsteller Tadeus Pfeifer 1996 in seinem bewegten Nachruf. Die liegt mit Fern von hier, herausgegeben von der Literaturwissenschaftlerin Elsbeth Dangel-Pelloquin mit Hilfe der Schriftstellerin Friederike Kretzen im Zürcher Limmat-Verlag, nun vor und ist bereits in der dritten Auflage; das lässt hoffen. Sie enthält alle bekannten Erzählungen, zunächst in Abfolge der Luchterhand-Bände. Dort nicht enthaltene aus dem ersten Buch und den Basler Nachrichten sowie anderswo erschienene sind angehängt. Das „Land Duvanel“ (Peter von Matt) hat von Beginn an klare Konturen. Sie zeigen aber auch, wie sich ihr markanter Stil erst entwickelte. Die Ausgabe beschließen konzis erhellende Essays zu ihrer Poetik, zu Begegnungen mit ihr und ihrem Werk sowie eine Liste ihrer Lebensdaten.

Eine Quelle ist Monika Jagfelds vorzüglicher Katalog zu der Ausstellung „WÄNDE dünn WIE HAUT“ mit Zeichnungen und Gemälden von ihr, die 2009 im Museum im Lagerhaus/Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut in St. Gallen zu sehen war und die Museumsleiterin Jagfeld kuratierte – ein Zugang zu den gemalten, vor der Ehe und nach der Trennung von ihrem Mann entstandenen Bildern. Keine leichte Kost, aber zu empfehlen und im Internet ebenso leicht zu finden wie die biografischen Blog-Beiträge ihres Bruders Felix Feigenwinter. Zu lachen hatte sie in ihrem meist prekären Leben jedenfalls wenig. Vom Mann trennte sie sich, als der ihre früh drogensüchtige Tochter hinauswarf, die zudem später an Aids erkrankte. Duvanel nahm sie und ihre Enkelin bei sich auf, wurde von Dealern drangsaliert, verkaufte Bilder von Haustür zu Haustür, um an Geld zu kommen. Heute hätte sie vermutlich Pfandflaschen gesammelt.Selbst jeder Wille zum Glück habe ihr nach so vielen Schlägen gefehlt, schrieb Tadeus Pfeifer 1996, glücklich seien höchstens andre. Doch da setze ihre Kunst erst ein: „Manchmal ist ein Glücksgefühl in meiner Literatur beschrieben,“ habe sie mal gesagt, „dann sind die Figuren wie schwebend. Als wären sie losgelöst von der Erde und würden schweben, ja, schweben.“ Außenseiter, oft Kinder und Frauen, Kaputte, Kranke sind ihre Figuren – nie auf hätschelbare Opferklischees reduziert, als gut oder böse zu beziffern, sondern wirklich, echt. Sie zeichnet sie mit wenigen Wörtern, die Gesicht und Würde zum Vorschein kommen lassen – das macht den Rang ihrer Prosa aus. Oder mit dem Titel einer ihrer Geschichten gesagt: Sie erzählt unvergleichlich „Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein“. Ihre Tochter starb neun Jahre nach ihr, ihre Enkelin gilt als verschollen. 

 

Literatur

Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung und mit einem Essay von Friederike Kretzen. Limmat-Verlag, Zürich 2021, 792 Seiten, Euro 39,–.

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