pro und contra

Kernkraftwerke für den Klimaschutz?

Adam Blazowski
Foto: privat
Angelika Claußen
Foto: IPPNW

Atomkraftwerke gelten als klimafreundliche Energiequelle, dennoch hält die Bundesregierung an den Abschaltplänen für deutsche Reaktoren fest. Ein Fehler, meint Adam Blazowski, Gründer der  polnischen Organisation FOTA 4Climate. Angelika Claußen, Co-Vorsitzende der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW), hält dagegen.

Sauber und sicher

Die Kernenergie ist ein wirksames Instrument zum Schutz des Klimas

Während Deutschland seine Atomreaktoren abschaltet, sterben in Deutschland und Polen jedes Jahr Tausende von Menschen durch die Luftverschmutzung infolge der Verbrennung fossiler Energieträger.

 

Die Kernenergie ist eine der umweltfreundlichsten Energiequellen und ein wirksames Instrument zum Schutz des Klimas. Bei der Spaltung von Atomkernen wird kein Kohlendioxid freigesetzt, dafür aber eine Menge Energie in hoher räumlicher Dichte. Die Kernenergie benötigt daher relativ wenig Material und Fläche, und sie erzeugt nur wenig Abfall. Aufgrund dieser und anderer Vorteile empfiehlt der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission, die Kernenergie in die Taxonomie für nachhaltige Aktivitäten aufzunehmen, genauso wie etwa Solar- und Windenergie.

Ich selbst bin auf erneuerbare Energien und Energieeffizienz spezialisiert und optimiere in meiner täglichen Arbeit Heizungssysteme für Kunden in den Benelux-Ländern. Aber in meinem Klimaaktivismus mit der NGO FOTA 4Climate, die ich mitbegründet habe, konzentriere ich mich darauf, für alle Technologien zu werben, einschließlich der Kernkraft. Glücklicherweise hat die Kernenergie eine breite akademische und politische Unterstützung, anders als in Deutschland, wo die Unterstützung für die Kernenergie – ironischerweise – hauptsächlich auf die klimaskeptische rechtsextreme AfD beschränkt ist. Ich selbst wähle im ultrakonservativen Polen Mitte-Links, und das gilt auch für viele meiner Mitstreiter.

Ich bin froh, dass die Dekarbonisierungsstrategie meines eigenen Landes den Bau von Kernkraftwerken vorsieht, und sehr traurig, dass Deutschland seine sicheren und zuverlässigen Kernkraftwerke stilllegt. Bis zum 31. Dezember 2021 produzierten die verbleibenden sechs Reaktoren jährlich mehr Strom als alle deutschen Sonnenkollektoren zusammen, und das auf einer sehr kleinen Fläche und unabhängig vom Wetter.

Der Grund, warum Deutschland seine Reaktoren abschaltet und versucht, andere Länder am Bau neuer Reaktoren zu hindern, ist, dass die Kernenergie als riskant wahrgenommen wird. Ich selbst erinnere mich an den Unfall von Tschernobyl und die Angst, in der wir damals lebten. Wir durften einige Wochen lang keine Milch trinken und nicht auf der Wiese spielen. Meine Mutter war mit meiner Schwester schwanger und trank einige Monate lang nur Kondensmilch. Erfahrungen wie diese prägen unsere Wahrnehmung einer Technologie. Der systematische wissenschaftliche Vergleich verschiedener Energiequellen hinsichtlich ihrer Gesundheitsrisiken zeigt ein anderes Bild. Einschlägige Studien kommen übereinstimmend zu dem Befund, dass die Kernenergie in etwa so sicher ist wie Solar- und Windenergie und viel besser als Erdgas, ganz zu schweigen von Kohle.

Während Deutschland seine Atomreaktoren abschaltet, sterben in Deutschland und Polen jedes Jahr Tausende von Menschen durch die Luftverschmutzung infolge der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Wenn man überlegt, dass Deutschland Kohlekraftwerke anstelle von Kernkraftwerken hätte abschalten können, dann hat der Atomausstieg jedes Jahr rund eintausend Deutsche zusätzlich getötet. Im Jahr 2021 war Polen Nettoexporteur von Energie nach Deutschland. Der Strom wurde exportiert, aber das Quecksilber aus den Schornsteinen blieb großteils in Polen. Gleichzeitig wird die nahe gelegene Slowakei ihr Stromnetz in zwei Jahren mit Kernenergie und erneuerbaren Energien nahezu vollständig dekarbonisieren. Und während Finnland kurz vor der Fertigstellung eines Endlagers für Atommüll steht, haben weder Polen noch Deutschland eine Vorstellung von der Endlagerung all des zusätzlichen CO2, das wir ausstoßen werden.

Manche behaupten, dass der Atomausstieg die CO2-Emissionen nicht erhöhen wird, weil wir in der EU ein Emissionshandelssystem haben. Aus polnischer Sicht ist dies eine irritierende Behauptung. Reiche Länder nutzen das Emissionshandelssystem und kaufen CO2-Zertifikate, während für ärmere Länder, die noch stark auf fossile Brennstoffe angewiesen sind, Energie unbezahlbar wird. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass Energie für alle in Europa erschwinglich bleibt, während wir aus den fossilen Brennstoffen aussteigen. Kernenergie hilft uns, dies zu erreichen. 


Keineswegs klimafreundlich

Atomenergie hat katastrophale Auswirkungen auf Natur und Menschen

Investitionen in Atomenergie und fossile Energien behindern das Erreichen der Klimaziele.

 

Die EU-Kommission hat Atomenergie als nachhaltig eingestuft. Die Begründung: Sie produziere kaum CO2 und sei als Übergangstechnologie zum Erreichen der Klimaziele unabdinglich. Das ist schlicht falsch. Atomstrom ist keineswegs klimafreundlich. Das zeigt zum Beispiel ein Faktencheck der „Scientists for Future“ (Link am Ende des Textes). Demnach sparen viele Studien zur CO2-Bilanz von Atomkraftwerken (AKW) wesentliche Teile des Brennstoffzyklus aus. Faktoren wie der Uranabbau, der Rückbau von Atomkraftwerken, die Atommülltransporte sowie der Bau und der laufende Betrieb von Zwischen- und Endlagern werden nicht einkalkuliert.

Außerdem hat radioaktive Strahlung katastrophale Auswirkungen auf die Natur und auf den Menschen. Schon der Abbau von Uran verursacht bei den Bergarbeitern Krebs. Auch Mitarbeitende von AKW im Normalbetrieb sind davon betroffen. Niedrigstrahlung wird von Atomlobbyisten oft relativiert, ist aber hochgradig schädlich. Tschernobyl und Fukushima haben schmerzlich gezeigt, welche Folgen die radioaktive Strahlung durch einen Super-GAU hat. Weltweit steigen die technisch bedingten Sicherheitsrisiken stetig. Die Laufzeit eines AKW beträgt vierzig Jahre. Derzeit liegt das Durchschnittsalter der AKW weltweit bei 32 Jahren. Der fortschreitende Klimawandel erhöht die Gefahr eines Atomunfalls zusätzlich durch Dürren, Hochwasser, Tsunamis und andere klimatische Ereignisse. Zur Eindämmung der Klimakrise sind die nächsten zehn Jahre entscheidend. Für das Pariser Klimaziel von 1,5 Grad bleiben weltweit noch circa 3,3 Milliarden Tonnen CO2-Budget. Der Bau eines AKW dauert im Schnitt fünf bis 17 Jahre. Der Planungsprozess und die Installation von Windrädern hingegen etwa ein Jahr. Photovoltaikanlagen lassen sich innerhalb weniger Wochen installieren. Ein kompletter Umstieg auf erneuerbare Energien ist nicht nur möglich, sondern auch kos­tengünstig, wie die „Scientists for Future“ anhand von Studien zeigen. Investitionen in Atomenergie und fossile Energien hingegen behindern das Erreichen der Klimaziele. Jeder Cent, der hier investiert wird, fehlt beim Ausbau der Erneuerbaren.

Mehr noch: Die Neubaukosten für ein AKW sind enorm. Auch deshalb war und ist Atomenergie nie wettbewerbsfähig. Im Gegenteil, „die (…) derzeitigen Investitionen in Atomkraftwerke in Europa und OECD-Ländern produzieren absehbar flächendeckend Verluste in bis zu zweistelliger Milliardenhöhe“, unterstreicht das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Das AKW Olkiluoto-3 in Finnland ging beispielsweise mit 13 Jahren Verspätung ans Netz, wodurch die Kosten von drei auf zehn Milliarden Euro stiegen. Beim französischen EPR-Reaktor Flammanville, der 2021 fertiggestellt werden sollte, explodierten die Baukosten von anfangs 3,4 Milliarden Euro auf 19 Milliarden Euro.

Warum das keine Rolle spielt, zeigt ein Zitat aus der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron aus dem Jahr 2020: „Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie – und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.“ Im Klartext heißt das: Um das Atomwaffenarsenal weiter ausbauen und modernisieren zu können, ist Frankreich auf eine Quersubventionierung angewiesen. Allen neun Atomwaffenstaaten ist deshalb an dem Erhalt von Atomkraftwerken gelegen – aller wirtschaftlichen Defizite, klimaschädigenden Auswirkungen und gesundheitlichen Folgen zum Trotz.
 

Information:

Kernenergie und Klima – Ein Diskussionsbeitrag der „Scientists for Future“. www.enodo.org/
record/5573719#.Ybl-MVkxmUn

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Angelika Claußen

Dr. Angelika Claußen ist Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Co-Vorsitzende der IPPNW in Europa und Deutschland in Berlin.


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