Schleiermacher als Giftpilz?

Über die monumentale Ironie des Malers Anselm Kiefer
Foto: Privat

Ich wollte mich endlich wieder überwältigen lassen. Oder ‚überweltigen‘. Unbedingt. Einen richtigen Rudolf-Otto-Schocker erleben, ein mysterium tremdendum et fascinans. Als beflügelnder Start ins neue Jahr. Ich hatte schon immer eine mächtige Schwäche für diesen Maler in Grau und Blei. Es gab nur einen kleinen Slot, denn die Ausstellung war auf vier Wochen begrenzt. (Ein Irrsinn für diesen Aufwand.) Weil das Grand Palais einer Kernsanierung unterzogen wird, fand die Ausstellung in einem flugs erstellten Ausweichquartier statt mit dem hübschen Titel Grand Palais Éphémère. Dabei sind die ausgestellten Werke für die Ewigkeit geschaffen, bitteschön.

Coronabedingt, vielleicht auch der Erdenschwere nach dem Jahreswechsel geschuldet, war der Andrang übersichtlich, vom Taxi bis zum ersten Gemälde dauerte es keine fünf Minuten, dann stand man in einer dunklen riesigen Halle vor dem ersten Gemälde. Der Körper entschied sich zunächst sich klein zu machen, eine Selbstentsocklung, die dem imposanten Gegenüber geschuldet war. Monumentale Bildwerke. Gigantisch. Riesig. Olympisch. Kolossal. Immens. Außerordentlich. Mega. Bilder als Pulsmacherei. Wer sich zu schnell näherte, wurde mit Autorität zurückgewiesen. Nur mit Demut und Dankbarkeit konnte man sich diesen Gemälden nähern. Ich fühlte mich wie der kleine Mönch vor dem mächtigen Meer in Caspar David Friedrichs totzitiertem und totreproduziertem Gemälde. Und wer im Digizän noch einmal eine Erfahrung machen möchte, die Walter Benjamin mit dem Begriff Aura im Angesicht von Kunst, die auch leiblich betroffen macht, beschrieben hat, dem eröffnete sich vor diesen Werken eine prächtige Chance. Der vor wenigen Wochen verstorbene Gernot Böhme sah richtig: „So sind Bilder von erheblicher Größe, wie etwa solche des abstrakten Expressionismus oder etwa Picassos Guernica“ – oder Gemälde von Anselm Kiefer – „nicht durch Reproduktionen zu erfassen: Man muss sich ihnen in leiblicher Anwesenheit aussetzen.“ Nur so ist eine atmosphärische Erfahrung möglich. Dazu zählt die Haltung der Andacht, die vorbereitet auf den Genuss, den die Bilder auch gewähren, obwohl sie von der ersten atmosphärischen Anmutung her dieses Versprechen zunächst nicht aussenden. Anselm Kiefer hat die ausgestellten Gemälde Paul Celan gewidmet: Mit Kreide fügte er Gedichtzeilen und ganze Gedichte ein. Eine tiefe Verbeugung vor Celan, der nicht weit von diesem Ort entfernt sich am 20. April 1970 von einer Brücke in die Seine stürzte. Diese Bilder sind keine Illustrationen der Gedichte, sondern reale Inkarnationen, die apokalyptische Atmosphären, Kriegsgeschrei, die Shoa und deutsche Verbrechen aufrufen. Und doch wird in den Bildern des Schweren und Dunklen gegenwendig eine Feier des Unscheinbaren abgehalten, verwundbare Farne (Das Geheimnis der Farne, 2021) etwa haben einen starken, kitschfreien, tröstenden und Hoffnung stiftenden Auftritt.

 

Überhaupt: Man darf den Humor und die Ironie von Anselm Kiefer nicht unterschätzen. Im hinteren Teil der Ausstellungshalle war ein großes, in Stahlgerüsten ordentlich sortiertes Materiallager (Glas, Blei, Blumen, Schiefer, Badewannen, Einkaufswägen, Plastik) zu bestaunen, jedes Fach mit gewitzten, metaphernsatten Beschreibungen versehen. Sichtbaren Humor und viel Ironie verbreitet auch das Bild Madame de Staël: de l’Allemagne, das einzige Bild, das nicht in einem direkten Zusammenhang mit Celan steht. Es spielt an auf das von de Staël 1810 fertiggestellte und 1813 publizierte Buch Über Deutschland, das, kräftig idealisiert, ein Land der Dichter und Denker – dieses Prädikat geht auf Germaine de Staël zurück – porträtiert, das den eigenen Eliten als Vorbild angedient wird. Kiefer, von den Franzosen und namentlich von Präsident Macron gefeiert – das hässliche Wort von Staatskunst machte im Blätterwald die Runde – porträtiert diesen Heldenkanon als Giftpilze, darunter auch Schleiermacher. (Er ist in guter Gesellschaft.) Nur so wird die Idealisierung von Madame de Staël romantisch-ironisch abgepuffert und erinnert zugleich daran, dass das Land der Dichter und Denker ein gutes Jahrhundert später den schrecklichsten Krieg überhaupt anzettelte. Diese Kunst ist auch Mahnung gegen den Krieg, die, wie wir jetzt wissen, nicht überall gehört wurde. Auch von mir nicht. Umso dankbarer bin ich für die gemachte Erfahrung und das Geheimnis des Farns als Lebensfrucht, der sich im ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens mit der Unendlichkeit trifft. Und Schleiermacher als Giftpilz? Eine nicht nur ephemere Provokation, die nachhallt.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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