Die Vielfalt wächst

Warum es richtig ist, private Lebens- und Sorgemodelle rechtlich neu abzusichern
Ein gutes Familienleben steht auf der Werteskala der Jüngeren ganz oben.
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Ein gutes Familienleben steht auf der Werteskala der Jüngeren ganz oben.

Zwar ist die Ehe in Deutschland noch immer die vorherrschende Familien­form, doch längst sind neue Formen der wechselseitigen Sorge entstanden: in Nachbarschaften, Mehrgenerationen­häusern und Patchworkfamilien. Doch manche Lebensformen, die die meisten heute als selbstverständlich  etrachten, sind rechtlich nicht abgesichert.

Familie steht hoch im Kurs. Das gilt gerade für junge Leute, wie die Shell-Jugendstudie von 2019 zeigt. Gute Freunde, die einen anerkennen (97 Prozent), Partner oder Partnerin, dem/der man vertrauen kann (94 Prozent), und ein gutes Familienleben (90 Prozent) stehen bei den Zwölf- bis 25-Jährigen ganz oben auf der Werteskala. Auch als während der Pandemie Schulen, Einrichtungen und Dienste geschlossen werden mussten, setzte man wie selbstverständlich auf das informelle Füreinander in Familie und Nachbarschaften – von der häuslichen Pflege über die Kinderbetreuung bis zur Schulaufgabenhilfe. Es hat eine Weile gedauert, bis klar wurde, in welchem Maße damit insbesondere Alleinerziehende überfordert und überlastet waren. Plötzlich fehlten die Großeltern, die sonst einspringen, wenn das labile Gleichgewicht des Alltags aus dem Tritt gerät. Oder die pflege- und hilfebedürftigen Eltern waren zu weit weg, um unter Corona-Bedingungen kurz nach ihnen zu schauen.

Denn die allermeisten Menschen wechseln Wohnort und Arbeitsplatz, aber auch Familienkonstellation und Lebensform oft mehrfach im Leben. So wächst die Zahl der Singles, der Ein-Eltern- und Patchworkfamilien. Und auch viele Paare kennen Lebensphasen, in denen sie aus beruflichen Gründen über lange Zeit getrennt leben; immerhin jedes dritte Paar in den ersten Berufsjahren ist betroffen. Das Ideal der Arbeitsmärkte scheinen die Singles zu sein, die jederzeit ihre Zelte abbrechen und mit der Arbeit zu neuen Orten aufbrechen können. Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt es in Deutschland 16,8 Millionen Singles zwischen 18 und 65 Jahren – dreißig Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter. Während der Pandemie wurde Einsamkeit zu einem großen Thema. Zehn Prozent der Deutschen fühlen sich oft einsam. Im Februar startete Familienministerin Anne Spiegel ein Kompetenznetz gegen Einsamkeit.

Unter Druck

Alleinsein ist aber nicht nur eine emotionale Herausforderung. Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Familien mit kleinen Kindern, auch alte oder kranke Menschen – deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst – geraten bei der Bewältigung des Alltags oft enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Tatsächlich leben aber nur noch bei einem Viertel der Menschen über siebzig die erwachsenen Kinder am gleichen Ort – und 46 Prozent dieser Altersgruppe leben allein. „In der noch andauernden Pandemie wird einmal mehr deutlich, dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit“, schreiben Barbara Thiessen und andere in ihrem Positionspapier „Großputz! Care nach Corona neu gestalten“ (www.care-macht-mehr.com).

Droht also ein „Sorgedefizit“, wenn die „klassische Familie“ in Zerreißproben gerät? Tatsächlich geriet die Großfamilie, in der drei Generationen mit Onkeln und Tanten, Nichten, Neffen und Pflegekindern ihren Platz hatten, schon in der Industrialisierung unter Druck. Längst sind aber neue Formen der wechselseitigen Sorge entstanden: in Nachbarschaften, Mehrgenerationenhäusern und Patchworkfamilien. Da gibt es „Bonusmütter“, Wahlfamilien mit „Leihomas“ und Seniorenwohngemeinschaften. Bei den Regeln für Begegnungen zu Weihnachten während der Pandemie wurde deutlich, dass Blutsverwandtschaft als Kriterium Menschen ausschließt, die sich als zusammengehörig betrachten. Die Zeit der Stiefmütter ist vorbei.

„Familie ist vielfältig und überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Sie brauchen Zeit und Anerkennung“, heißt es im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Aber manche Lebensformen, die die meisten heute als selbstverständlich betrachten, sind rechtlich noch nicht abgesichert. Noch immer wird bei einem lesbischen Paar nur eine der beiden Frauen mit der Geburt des Kindes zur rechtlichen Mutter; die andere muss zuerst ein Adoptionsverfahren durchlaufen. Auch das kleine Sorgerecht einer Partnerin/eines Partners bei den Kindern des anderen ist nur dann gewährleistet, wenn die rechtlichen Eltern kein geteiltes Sorgerecht haben – was mehr und mehr zum Normalfall wird. Und die Sorge von sozialen Großeltern ist rechtlich nicht geregelt. Ebenso wenig wie die wechselseitige Verantwortung in einer Seniorenwohngemeinschaft. Der Vielfalt der Lebensformen steht ein relativ enges Recht gegenüber, das nicht auf alle Gemeinschaften anwendbar ist.

Natürlich lässt sich vieles auch privatrechtlich organisieren – und die gebildete Mittelschicht tut das auch. Statt zu heiraten, sichern sie das gemeinsame Haus, den Einkommensverzicht durch Beurlaubung in Pflegezeiten oder die Auskunftsrechte in Partnerschaftsverträgen ab – so, wie sie das brauchen. Es gibt ja nicht wenige Menschen, die die „Institution Familie“ eben nicht als Schutz, sondern als Zwang und Enge erlebt haben. Deshalb ist es gut, dass es unterschiedliche Modelle für das familiäre Miteinander gibt. In einer aufgeklärten Gesellschaft braucht es informierte und bewusste Entscheidungen. Und gerade Frauen wird manchmal erst im Laufe der Zeit klar, was es für ihre Rente bedeutet, dass sie sich mit dem „klassischen“ Ehemodell zugleich auf ein sozialstaatlich abgesichertes „Hauptverdienermodell“ mit Ehegattensplitting, Mitversicherung und Sorgeansprüchen eingelassen haben.

Bewusste Entscheidungen

Auch die „privaten“ Lebens- und Sorgemodelle finden eben in einem gesellschafts- und sozialpolitischen Rahmen statt, in dem Rechte und Pflichten geregelt werden. Im Blick auf die nicht-ehelichen Gemeinschaften sind allerdings bislang vor allem Pflichten geregelt – wie bei den sogenannten Bedarfsgemeinschaften beim Bezug von Hartz IV. Das Vorhaben der Ampelkoalition, auch die Sorgerechte in „Verantwortungsgemeinschaften“ zu regeln, ist also durchaus an der Zeit. Es kann dabei an das französische Modell der registrierten Partnerschaft für das Zusammenleben anschließen, des „Pacte Civil de Solidarité“ (PACS), der 1999 eingeführt wurde. Dort werden wechselseitige Beistands- und Unterstützungspflichten, rechtliche Einstands- und Unterstützungspflichten bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit oder auch Eintrittsrechte in den Mietvertrag geregelt. Mittlerweile haben 41 Prozent aller Paarbeziehungen diese rechtliche Grundlage.

Für Deutschland ist aber, wie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ausgeführt hat, offenbar an ein mehrstufiges und differenzierteres Modell gedacht. Es geht um ein Rechtsinstitut, das „jenseits von Liebesbeziehungen oder Ehe“ zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglicht, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen, von der Seniorenwohngemeinschaft über die wechselseitige Unterstützung von Ein-Eltern-Familien bis zur Ausweitung des kleinen Sorgerechts für soziale Eltern. Auch wenn ein Kind in die Ehe zweier Frauen geboren wird, sollen automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes werden. Bei den anstehenden Überlegungen kann sich die Regierung auf die Sachverständigenanhörung stützen, die in der vergangenen Legislatur auf der Grundlage des FDP-Antrags „Selbstbestimmte Lebensentwürfe stärken – Verantwortungsgemeinschaften einführen“ stattfand.

Bei allen Pluralisierungstendenzen ist die Ehe in Deutschland noch immer die vorherrschende Familienform. Noch immer wachsen siebzig Prozent aller Kinder in einer ehelichen Familie auf, auch wenn der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften und der Ein-Eltern-Familien steigt. Muss man nun befürchten, dass über die Verantwortungsgemeinschaften eine „Ehe light“ auf Kosten des strukturell schwächeren Partners/der Partnerin implementiert wird?

Die Ehe als Leitbild könnte weiter an Bedeutung verlieren, sorgt sich der Berliner Erzbischof Heiner Koch als Vorsitzender der Ehe- und Familienkommission der Deutschen Bischofskonferenz; immerhin sei das Miteinander dort rechtlich so austariert, dass private Sorgeleistungen anerkannt und die wirtschaftlich schwächere Seite nicht übervorteilt werde.

Leitbild mit Bedeutungsverlust

Und was würde die Einführung eines neuen Instituts für das bisher sozialstaatlich geregelte Miteinander der Generationen bedeuten – etwa für die Verpflichtung der erwachsenen Kinder ihren hilfe- oder pflegebedürftigen Eltern gegenüber, auch dann, wenn die sie nicht gut umsorgt haben? Viel wird davon abhängen, wie ein solches Gesetz ausgestattet wird. Auch die Frage, was im Blick auf das Auslaufen eines solchen Vertrages geregelt werden muss, ist klärungsbedürftig.

Es gab übrigens schon immer Gruppen, die jenseits der Ehe in rechtlicher Gemeinschaft lebten – so wie die Kaiserswerther Diakonissen. Solche karitativen Gemeinschaften entstanden nicht zufällig zu der Zeit, als die traditionellen Familien während der Industrialisierung überfordert waren – eine Antwort auf das damalige „Sorgedefizit“. Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser von heute nehmen diesen Faden auf. Andere Lebensmodelle werden dadurch nicht in Frage gestellt. Manche Frauen wurden damals zunächst als Diakonissen eingesegnet und gründeten später eine Familie.

Wie sieht es eigentlich mit dem kirchlichen Segen aus, wenn unterschiedliche Formen der Lebens- und Sorgegemeinschaften nebeneinanderstehen? Hier wächst ja längst die Vielfalt. Eheschließung und kirchliche Trauung sind zeitlich nicht mehr unbedingt verknüpft. In der Marktkirche in Hannover konnte man am 22. Februar bei Candlelight heiraten – spontan, privat und in zwanzig Minuten. Am Valentinstag ließen sich viele Paare segnen. Und in Hamburg an der Alster verteilten kürzlich Pastorinnen und Pastoren einen Segen für ganz unterschiedliche Paare – und alle strahlten. 

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Foto: privat

Cornelia Coenen-Marx

Cornelia Coenen-Marx  ist Oberkirchenrätin a. D.  Nach Eintritt in den Ruhestand machte sich Coenen-Marx 2015 mit dem Unternehmen „Seele und Sorge“ selbständig, um soziale und diakonische Organisationen sowie Gemeinden bei der Verwirklichung einer neuen Sorgeethik zu unterstützen.


 

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