Mit der Seele hören

Eine besondere Gottesdienstreihe in Nürnberg spricht auch Kirchenferne an
Auch musikalisch überwindet die Gottesdienstreihe traditionelle Grenzen. An diesem Tag ist Peter Horcher auf dem Klavier und mit dem Akkordeon im Einsatz.
Foto: Daniel Schneider
Auch musikalisch überwindet die Gottesdienstreihe traditionelle Grenzen. An diesem Tag ist Peter Horcher auf dem Klavier und mit dem Akkordeon im Einsatz.

Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt, und nur wenige, die noch in der Kirche sind, gehen regelmäßig in den Gottes­dienst. In der Nürnberger St. Egidien­kirche versucht ein interdisziplinäres Team seit gut zwanzig Jahren, mit einer Gottesdienstreihe ein alternatives Angebot zu schaffen. Der Journalist Daniel Schneider hat es sich angeschaut.

St. Egidien ist eine helle, in Weiß und Pastellfarben gehaltene Kirche. Die reich verzierten Stuckarbeiten zeichnen sie als einzige Barockkirche der Christkindlstadt aus. Darüber hinaus trägt sie das Profil „Kunst und Kultur“. Gut siebzig Personen kommen an diesem Tag in das Gotteshaus. In Anbetracht der geltenden Corona-Abstands-Richtlinien ist der Raum fast bis auf den letzten regulären Platz besetzt. Denn heute findet der erste einer Reihe von spirituell-psychologischen Gottesdiensten des Jahres statt. Ins Leben gerufen wurde dieses Format schon im Jahr 2000 durch Bernd Deininger, Psychiater, Psychoanalytiker und evangelischer Theologe, sowie Ludwig Frambach, Pfarrer, psychotherapeutisch ausgebildeter Pastoralpsychologe und Kontemplationslehrer. Frambach war damals Leiter des von ihm initiierten „Projekts Spiritualität“ in der evangelischen Bildungsstätte „Haus Eckstein“ in Nürnberg. Bernd Deininger hielt dort Kurse in tiefenpsychologischer Bibelauslegung. Obwohl die Reihe nur als monatlicher Zusatzgottesdienst gedacht war, kamen bis zu vier Mal so viele Menschen wie zum Hauptgottesdienst. So wurde „Mit der Seele hören“ dem Rhythmus der Hauptgottesdienste angepasst und ist heute sogar der einzig regelmäßige Gottesdienst am Sonntagvormittag in dieser Kulturkirche.

Rund die Hälfte der Bevölkerung Nürnbergs ist nicht (mehr) in der Kirche, nur drei Prozent der evangelischen Christ:innen gehen noch regelmäßig in den Gottesdienst. Doch auch in der Gruppe der Konfessionslosen sind religiöse Fragen ein Thema, nur suchen sie jenseits der Amtskirche nach Antworten. Dies ist auch bei den Besucher:innen dieser speziellen Gottesdienstreihe zu beobachten. Viele sind keine Kirchenmitglieder, jedoch an philosophisch-psychologischen Themen, interreligiösen Fragestellungen oder den mystischen Strömungen der Religionen interessiert. Diese Menschen anzusprechen und durch die Predigt zum Nachdenken zu bringen, ist das Ziel der Reihe. „Nachdenklich machen ist die höchste Form der Begeisterung“ – dieses Zitat von Albert Schweitzer drückt die Zielrichtung der Reihe gut aus, sagt Frambach.

Drei Merkmale kennzeichnen die Gottesdienste: Eine schlanke Liturgie, Tiefenpsychologie und eine Musik außerhalb des klassischen kirchenmusikalischen Spektrums. Kein Introitus oder Sündenbekenntnis, der Ablauf ist viel schlichter: „Lied, Musik, Predigt, Gebet und Segen sind die einzigen festen Bestandteile“, sagt Ludwig Frambach. Aspekte der Psychotherapie sollen interdisziplinäre, interreligiöse und interkulturelle Perspektiven bringen und so eine geistige Offenheit schaffen. Schlüsselmomente soll die Musik erzeugen. Dabei werden namenhafte Musiker:innen aus der Region eingeladen, die ein breites Spektrum von Jazz, Blues, Folk und Rock bis Barock abdecken und manchmal auch auf ungewohnten Instrumenten spielen. Die japanische Bambusflöte Shakuhachi war schon zu hören, die Pferdekopfgeige oder Obertongesang aus der Mongolei. „Musik öffnet die Ohren für die Seele“, verdeutlicht Frambach, der für die Musik verantwortlich ist. Das Herz werde empfänglicher für die Worte von Lesung, Predigt sowie des Gebets und löse so eine Resonanz in der Seele aus.

Grundlegend für das Konzept ist, die Tiefenpsychologie in die Bibelauslegung einzubeziehen. Die Prediger:innen der Reihe, die ihre Themen selbst auswählen, haben in diesem Gebiet einen spezifischen Ausbildungsschwerpunkt, etwa als Krankenhausseelsorger, wie Ulrike Klein und Ekkehard Fugmann, die seit Anfang an dabei sind. Mit Richard Riess, Dietrich Stollberg und Michael Klessmann beteiligten sich viele Jahre namhafte Pioniere der Seelsorgebewegung an der Reihe. Sie gestalteten die Entwicklung der Pastoralpsychologie, welche Psychotherapie in die Seelsorge integriert, maßgeblich mit. Gründliche psychologische Selbsterfahrung, für eine gute Psychotherapie- und Seelsorgeausbildung obligatorisch, fördert eine lebensnahe Empathie, die sich im Predigtstil niederschlägt. Aber auch sonst wird auf eine interdisziplinäre geistige Offenheit Wert gelegt, etwa im Blick auf den interreligiösen Dialog oder die Philosophie. Der Philosophieprofessor und Theologe Harald Seubert, wie Deininger Prädikant der bayerischen Landeskirche, bringt diesen Aspekt mit ein. Die Gottesdienstreihe findet monatlich in der St. Egidienkirche statt.

Das Januar-Thema lautet „Die Drei Augen der Erkenntnis“. Pfarrer Frambach ist für die Predigt, Peter Horcher für den musikalischen Teil zuständig. Der 61-jährige Nürnberger spielt neben Klavier, Akkordeon und Percussion eine Vielzahl weiterer Instrumente. Mit einem Klaviersolo zu Beginn verwandelt der Musiker den Kirchenraum in eine Konzerthalle. Der Rhythmus der Jazz-Blues-Fusion-Improvisation lässt den Klangraum Kirche spüren.

Frage nach Erkenntnis

Nach dem anschließenden Moment der Stille, in dem die Anwesenden im Nachklang der Töne ihre Gedanken schweifen lassen und ihre Seele öffnen, stellt Frambach zur Einstimmung in das Thema die Frage nach der Erkenntnis in den Raum. Die Naturwissenschaft habe in den vergangenen einhundert Jahren enorme Fortschritte gemacht, vom Atom bis hin zum Universum bahnbrechende Entdeckungen erzielt. Gleichzeitig wenden sich immer mehr Menschen von der christlichen Religion ab. Ein Argument sei, dass die Naturwissenschaften viele Geschichten der Bibel entzaubern. Doch ist dieses Entweder-Oder zwischen Wissenschaft und Religion der richtige Weg? Oder braucht man für Spiritualität und Glaube nicht vielmehr ein weiteres Erkenntnisorgan?

Getragen wird diese Frage von einem langem Vorspiel des Organisten, der sämtliche Register seines klanggewaltigen Instru­ments zieht, während die Zuhörer:innen das Gesagte auf sich wirken lassen. Die Frage der „richtigen“ Wahrnehmung spiegelt sich auch in der Lesung (1. Korinther 13,11–12) wider, in welcher Paulus von einem Blick in den Spiegel spricht. Aus dem dort erwähnten dunklen Bild wird stückweise ein Bild der Erkenntnis. Der Luther-Übersetzung stellt Frambach die Übersetzung des katholischen Theologen Fridolin Stier (1902 – 1981) gegenüber. Abgeschlossen wird die Lesung durch ein Akkordeonspiel Horchers, das die Zuhörer:innen mit einer orientalisch sehnsüchtigen Melodie in den Bann zieht. Das Stück, eine Improvisation aus syrischen und türkischen Einflüssen, zeichnet musikalisch den Weg des Paulus nach. Schließlich hatte ihn seine Reise, bevor er nach Korinth kam, aus der Provinz Syrien in die heutige Türkei geführt.

In seiner Predigt bezieht sich Frambach auf die Lehre „Drei Augen der Erkenntnis“ des Augustinermönchs Hugo von St. Viktor (1097 – 1141). Dieser hatte die Facetten des Erkennens den Sinnen, dem Verstand sowie dem Sehen Gottes zugeordnet. Ersteres entspricht der Wahrnehmung, etwa Sehen und Hören. Bildhaft illustriert der Pfarrer dies mit einer Wanderung im Hochgebirge im Nebel. Man sieht die eigene Hand vor Augen nicht mehr, fühlt sich geradezu blind. Doch kommt die Sonne empor, deren Wärme die Nebelschwaden auflöst, schälen sich einzelne Objekte aus dem Nebel. Das Auge nimmt schemenhaft dunkle Umrisse wahr. Details werden sichtbar, vielleicht sogar die rettende Berghütte. Diesen Vorgang beschreibt die Gestaltpsychologie: Etwas rückt als Gestalt prägnant in den Vordergrund und unterscheidet sich somit von dem als diffus wahrgenommenen Hintergrund.

Erkenntnis in Liebe

Das zweite Auge entspricht dem unterscheidenden Verstand, der Dinge analysiert. Beispielhaft dafür ist das Erlebnis von Isaak Newton mit dem fallenden Apfel. Ihm erschloss sich das Gesetz der Schwerkraft, weil sich mit dem sinnlichen Wahrnehmen auch sein zweites Auge des Verstandes mit dem Problem des Fallens befasste. Das dritte Auge nennt Hugo von St. Viktor das „Auge der Kontemplation“. Es geht über das sinnliche Sehen und logische Analysieren hinaus und umfasst das, was vom Verstand nicht erfasst werden kann. Es sieht das Ganze, die Einheit, Gott. Der Augustinermönch verweist jedoch darauf, dass Sinn und Verstand nicht von der Kontemplation zu trennen sind. Alle drei Sichtweisen gehören als „Dreifaches Auge“ zusammen. Eine ähnliche Sichtweise erläutert auch der 1993 verstorbene Benediktinermönch Bede Griffiths, der lange in einem Ashram in Südindien lebte, wo er ein spirituelles Zentrum für interreligiösen Dialog leitete. Ein Zitat des Mystikers, den Frambach während eines Studienaufenthaltes in Indien kennenlernte, lautet: „Kontemplation ist das Erwachen zur Gegenwart Gottes im Herzen des Menschen und im uns umgebenden Universum. Kontemplation ist Erkenntnis im Zustand der Liebe“. Frambach führt aus, dass das kontemplative Schauen Gott in allem wahrnehme, in jedem Baum, Stein und Menschen. Liebe sei die tiefste Weise des Erkennens. Jesus selbst habe aus der Kontemplation, der Schau Gottes, heraus gesprochen und den liebenden Geist des Reichs Gottes verkündet. Er habe seine Mitmenschen damit begeistert und mit dem Geist des Verbundenseins angesteckt, der bis heute fortwirke. Auch heute könne jede:r die Kontemplation, die göttliche Schau, im Gebet, in meditativer Versunkenheit oder einfach nur in der Stille selbst erfahren.

Den Ausklang des Gottesdienstes bildet ein erneutes Akkordeonspiel, gefolgt von dem Vaterunser, an dessen Ende schließlich eine Orgelinterpretation von „Großer Gott, wir loben dich“ steht. Der letzte musikalische Höhepunkt ist das Spiritual „Hard Times Come Again No More“.

Die Resonanz der Gottesdienstbe­sucher:innen ist positiv. „Nach fast jedem Gottesdienst reden wir anschließend ausgiebig über den Predigtinhalt, weil Themen aus unserem Lebensalltag angesprochen wurden“, verrät ein Ehepaar. Ein anderer Besucher fasst den Gottesdienst wie folgt zusammen: „Mit der Seele hören. Mit dem Herzen denken. Das Andere und Weitere betrachten und das ganz Andere als mystische umfassende Geborgenheit bewahren.“ Darüber hinaus wird auch die Verbindung von Philosophie, Psychologie und Theologie gelobt. „‚Mit der Seele hören‘ ist ein spirituell-psychologisches Erlebnis. Eine theophilosophische Auslegung bestehender Bibeltexte und das Wechselspiel von Wort, Musik und Stille“, beschreibt es eine weitere Teilnehmerin. Das Zusammenspiel von geistlicher Ansprache und Musik ist etwas, was viele bewegt. „Immer nehme ich Impulse mit, die mich stärken und mir guttun. Last but not least ist unter allen Umständen die großartige, wahrhaft Leib und Seele berührende Musik hervorzuheben“, bilanziert ein Pfarrerkollege. 

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