Gemüsegärten gegen den Hunger

Eine Kirchengemeinde in Guatemala kämpft gegen die Folgen der Pandemie
Lesly ist alleinerziehende Mutter und kümmert sich zudem seit dem Tod ihrer Mutter um ihre fünf Geschwister.
Foto: Andreas Boueke
Lesly ist alleinerziehende Mutter und kümmert sich zudem seit dem Tod ihrer Mutter um ihre fünf Geschwister.

Durch die Corona-Pandemie hat sich die Ernährungslage in vielen Regionen der Welt dramatisch verschlechtert. Immer mehr Familien müssen hungern, weil Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten verloren gegangen sind. Für große Teile der Weltbevölkerung wird die zunehmende Unterernährung langfristig das folgen­schwerste Symptom der Covid-Krise sein. Eine Kirchengemeinde in Guatemala versucht, etwas dagegen zu tun.

In der Kirche Bethesda hat schon lange keine größere Versammlung mehr stattgefunden. Nur manchmal und immer mit gebührendem Abstand treffen sich kleine Gruppen in dem Gottesdienstraum im Zentrum des guatemaltekischen Hochlanddorfs Tecpán. Die Region war eine der ersten des Landes, in der das Coronavirus viele Todesopfer gefordert hat. Noemi de Castaneda, die Frau des Pastors, sitzt auf einem der Plastikstühle einer leeren Reihe. Schon lange vor der Pandemie hat sie sich Sorgen um die Ernährungssituation der ärmsten Familien gemacht.

Unterernährung
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Unter den Kindern der indigenen Mayabevölkerung Guatemalas liegt die Unterernährungsrate bei über fünfzig Prozent. „Viele Kinder wissen gar nicht, was eine gesunde, ausgeglichene Ernährung ist“, klagt die engagierte Sozialarbeiterin, die selbst drei Kinder hat. „Schon die Kleinsten bekommen nicht die Proteine und Vitamine, die ihre Körper brauchen, um zu überleben. Viele Familien essen vor allem billige Nudeln. Sie haben keine Milch, keine Suppen, nur Maistortillas.“

Nah am Menschen

Die Bethesdagemeinde ist Teil einer Kirche, die sich „Evangelische Kirche Mittelamerikas“ nennt. Liturgisch und theologisch steht sie den Lutheranern, aber auch den Calvinisten nahe. Die „Evangelische Kirche Mittelamerikas“ wurde 1912 in Guatemalas Nachbarland Honduras gegründet, lange bevor fundamentalistische Pfingstkirchen aus den USA große Missionserfolge in Mittelamerika feiern konnten. Jairo Castañeda ist der Pastor der Bethesdagemeinde. Er hält die Unterernährung in Guatemala für völlig unnötig: „Die fruchtbarsten Böden sind im Besitz von einigen sehr wenigen Familien und die korrupten Regierungen kümmern sich nicht um eine angemessene Verteilung. Deshalb ist die Rolle der Kirche so wichtig. Wir sind nah dran an den Menschen; wir sind Teil der Bevölkerung. So können wir eng mit den Bedürftigen zusammenarbeiten.“ „Bethesda“ bedeutet „Haus der Barmherzigkeit“. Die Kirche steht mitten im Zentrum der Ortschaft Tecpán. Wenn Noemi de Castañeda eine der ärmeren Siedlungen besucht, geht sie zuerst durch lebhafte, gut asphaltierte Straßen, vorbei an Läden, in denen Eisenwaren, Spielzeug, gebrauchte Kleider oder Werkzeuge zum Verkauf angeboten werden. Doch schon ein paar Straßenblocks weiter hebt der Wind feinen Staub von der Sandpiste. Bald führen steile Pfade einen Hügel hinauf, vorbei an kläffenden Hunden und kleinen Grundstücken hinter Zäunen aus Sperrholz und rostigem Draht. Während einer Verschnaufpause sagt Noemi de Castañeda: „Wir sind auf dem Weg zu einer Hütte, in der sieben Geschwister leben. Bei meinem ersten Besuch vor sechs Jahren hatte die Familie buchstäblich nichts zu essen. Der Vater ist Alkoholiker. Ich musste drei der Kinder aufwecken, um sie mit Grundnahrungsmitteln zu füttern; ein Haferflockengetränk, Maistortillas und hartgekochte Eier. Dieses Frühstück war der Anfang unserer Beziehung.“

Hilfe bekommt sie von Noemi de Castañeda (rechts) aus der Kirchengemeinde, die ein Gartenprojekt für die Armen ins Leben rief.
Foto: Andreas Boueke

Hilfe kommt von Noemi de Castañeda (rechts) aus der Kirchengemeinde, die ein Gartenprojekt für die Armen ins Leben rief.

 

Die resolute Frau klopft an eine rostige Wellblechplatte, die als Tür dient. Im nächsten Augenblick öffnet eine freudestrahlende junge Frau die Tür. Die neunzehnjährige Lesly bietet ihrer Mentorin einen Platz auf einem zerfransten Sofa an und eine Tasse Tee. „Wir wohnen hier zu neunt“, sagt Lesly. „Mein Vater, meine sechs Geschwister, ich und meine Tochter. Sie ist zwei Jahre alt.“ Lesly ist alleinerziehende Mutter und Schwester. Ihre eigene Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Auf die Hilfe ihres Vaters kann sie nicht zählen. „Oft haben wir nicht genug Geld, um alles Notwendige für den Haushalt zu kaufen.“Lesly ist erst wenige Minuten vor dem Gespräch nach Hause gekommen. Am frühen Morgen war sie zusammen mit drei ihrer jüngeren Geschwister in der Dunkelheit aus dem Haus gegangen. In dieser Woche hatten sie Glück; ein Nachbar hat ihnen Arbeit für fünf Tage gegeben. Sie müssen einen Acker umgraben. Noemi de Castañeda erklärt: „In dieser Gegend ist es normal, dass schon Acht-, Neunjährige mit Spitzhacken auf die Felder der Umgebung gehen. Seit Beginn der Pandemie bekommen die meisten Kinder keine Schulbildung mehr, weil das Bildungsministerium keine Strukturen aufgebaut hat, um ihnen zu helfen. Die Konsequenzen werden noch sehr lange zu spüren sein, in der Wirtschaft und vor allem in der Ernährung der Bevölkerung. Die Armut vieler Familien hat sich verfestigt.“

Deutlich über fünfzig Prozent der indigenen Bevölkerung Guatemalas ist unterernährt.
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Wenn Lesly und ihre Geschwister mehrere Tage lang kein Geld verdienen, haben sie nichts mehr zu essen: „Was soll ich den Kleinen sagen, wenn sie traurig sind und mich fragen: ‚Was können wir essen?‘ Es gibt doch nichts. Aber mit Gottes Hilfe haben wir es bisher immer irgendwie geschafft.“

Lesly macht sich große Sorgen um ihre kleine Tochter, die kurz vor Beginn der Pandemie zur Welt gekommen ist. „Ich konnte ihr nicht lange die Brust geben, weil ich nur wenig Milch hatte. Jetzt habe ich Angst, dass sie sich nicht ordentlich entwickelt.“ Ein weiterer Sorgenfall ist ihre Schwester Belén. Das siebenjährige Mädchen war schon bei der Geburt sehr klein und ist dann nicht richtig gewachsen. Noemi de Castañeda hat das Kind das erste Mal gesehen, als sie gerade sechs Monate alt war. „Ich habe sie sofort in das Ernährungszentrum in Tecpán gebracht. Dort hat sie innerhalb einer Woche drei Pfund zugenommen. Aber ihr Problem konnte nicht nachhaltig gelöst werden, weil die Eltern nicht geholfen haben.“

Gott unterstützt mich

Belén spricht nur einzelne Worte und kann nur wackelig auf ihren dürren Beinchen laufen. Wer weiß, ob sie ohne die Hilfe ihrer ältesten Schwester überlebt hätte? „Ich bin wie eine Mutter für meine Geschwister“, sagt Lesly. „Seit dem Tod unserer Mutter habe ich mich um sie gekümmert. Schon als kleines Kind musste ich im Haushalt helfen. Heute suche ich immer nach Lösungen, um den Kleinen was zu essen zu geben, auch wenn ich selbst nichts habe. Wenn ich kann, gebe ich ihnen etwas. Gott unterstützt mich. So haben meine Geschwister und meine Tochter überlebt. Mein Vater vergisst uns oft. Ihm ist es egal, ob wir essen oder nicht. Wenn wir ihn um etwas bitten, sagt er nur, er habe selbst nichts, und verschwindet auf der Straße. Manchmal kommt er erst Tage später zurück.“

Die Corona-Krise hat die Situation weiter verschärft, auch medizinisch. Zwar gibt es Impfangebote in den größeren Städten, doch auf dem Land fehlt Infrastruktur.
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 Zwar gibt es Impfangebote in den größeren Städten, doch auf dem Land fehltInfrastruktur.

 

Als sich die Ernährungssituation vieler Familien zu Beginn der Pandemie deutlich verschlechterte, überlegte Noemi de Castañeda mit einigen Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde, was zu tun sei. „Wir haben beschlossen, ein Kleingärtenprojekt ins Leben zu rufen. Heute unterstützen wir fünfzehn Familien, die neben ihrem Haus zumindest ein kleines Stück Erdboden haben. Wir haben ihnen beigebracht, Gemüse anzupflanzen, Zwiebeln, Salat, Blumenkohl, Rote Bete, Radieschen. So haben sie gelernt, eigene Nahrungsmittel anzubauen.“

Ziel des Projekts ist es, den Familien zu helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Einen Teil der Ernte essen sie selbst und einen anderen Teil verkaufen sie in der Kirchengemeinde. Lesly ist begeistert von dem Ergebnis: „Wenn wir was essen wollen, brauchen wir es nur im Garten abzuschneiden. Das erste Saatgut haben wir geschenkt bekommen. Den Dünger auch. Mit der Ernte können wir unsere Ernährung aufbessern. Das Gemüse hat viele Vitamine und schmeckt gut. Wir machen Salate und Suppen mit Mangold. Das ist gesund.“ Noemi de Castañeda ist stolz auf das Projekt und auf Lesly: „Sie wartet nicht auf Almosen, sondern sucht selber nach Lösungen. So macht das Helfen Spaß.“In Lateinamerika ist Guatemala eines der Länder mit der höchsten Unterernährungsrate. Noemi de Castañeda sieht es als ihre christliche Pflicht an, ihren notleidenden Nächsten zu helfen. Doch es ist ihr sehr wichtig, keine karitative Hilfe zu leisten, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. „Gott sei Dank hat die Gemeinde das Programm unterstützt. Viele Leute haben etwas beigesteuert. Zum Beispiel hilft uns eine Krankenschwester, das Gewicht und die Größe der Kinder zu messen, damit wir einigermaßen wissen, ob ihre Werte normal sind. Für unterernährte Kinder, die älter sind als fünf Jahre, ist es eigentlich schon zu spät. Sie haben irreversible Schäden. Aber bei den Kleinsten im Alter von null bis fünf Jahren kann man noch etwas erreichen.“ 

Viele Menschen bleiben auf Spenden angewiesen.
Foto: Andreas Boueke

Viele Menschen bleiben auf Spenden angewiesen.
 

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