Trost und Mut

Warum das Prinzip des Organisationalen für die Kirche wieder wichtig wird
Die St. Petri Kirche im Wörlitzer Park bei Dessau, März 2022.
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Die St. Petri Kirche im Wörlitzer Park bei Dessau, März 2022.

Wohin geht die Reise der Volkskirche in Deutschland? Friederike Erichsen-Wendt, Theologin und Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar in Hofgeismar, regt anstelle eines zentralen Programms von oben ein bewusstes Impro-Festival an, denn alles andere werde der komplexen Wirklichkeit des deutschen Protestantismus nicht gerecht.

Wer das Unbehagen verspürt, im falschen Film zu sein, bringt Erwartungen mit, was er eigentlich hätte sehen wollen. Anders ist es bei der Sneak Preview: Ich weiß nicht, was ich sehen werde, weiß aber, dass es etwas ist, was im regulären Programm (noch) nicht zu sehen ist. Das Bild kommt aus der Zukunft. Was wir sehen, bestimmt, was wir tun.

„Raus aus dem falschen Film“, wie es Peter Scherle kürzlich hier forderte, will Kirchenleute, vor allem auf der mittleren Ebene, entlasten, die das Ineinander von institutionellen und organisationalen Aspekten, oft gepaart mit einer Sehnsucht nach Kirche als Bewegung und Interaktion, vor eine Vielzahl unentscheidbarer Entscheidungssituationen führt. Komplexitätsbewältigung wird zur Berufskompetenz, die am meisten benötigt wird. Eine getroste Haltung hilft, weil sie den Korridor zwischen Reiz und Reaktion vergrößert, ohne in Apathie zu verfallen. Doch wie tröstet man eigentlich eine Organisation?

Das könnte so gehen, dass man die Relevanz des Organisationalen relativiert. Etwa so, dass man „kleinräumige Arbeit“ von Kampagnenstrategien entkoppelt. Dadurch ist zum einen das Problem aus der Welt geschafft, vor Ort Bedeutung für das „große“ Thema, das von außen kommt, erzeugen zu müssen. Zum anderen federt man auch die negativen Effekte jeder wirksamen Kampagne ab.

Der Preis ist, dass die Arbeit an diesem Ort für diejenigen Öffentlichkeiten, die kampagnenaffin sind, immer unsichtbarer wird. Dies ist an vielen kirchlichen Orten seit Jahren längst geschehen. Parochien und kirchliche Orte haben sich entsprechend ihrer Reichweite minorisiert, sie setzen „Leben gegen Kultur, Gedanken gegen Doktrin, Wohlwollen oder Ablehnung gegen das Dogma“ (Gilles Deleuze), um sich selbst als wirksam zu erleben. Mehr oder weniger intuitiv haben sie verstanden, dass die Zeit des konstantinischen Christentums, der Kirche als expandierender, privilegierter Institution zu Ende geht. Sie haben sich abgekoppelt von Expansions- und allgemeinen Attraktivitätsdiskursen und nutzen die Systemträgheit, um sich „irgendwie durchzuwursteln“.

"Netz längst überdehnt"

Inzwischen allerdings ist es an vielen Orten bereits Realität, dass diese kleinräumigen Systeme religiöser Kommunikation unter Druck geraten: Selbst „vor Ort“ kann eine Form von Sichtbarkeit, die „Kirchlichkeit“ symbolisiert, oft nicht mehr verlässlich vorgehalten werden: Das betrifft sowohl die Regelmäßigkeit kirchlicher Interaktionen als auch die systemstabilisierende Anwesenheit von Talar, Kirchgebäude und Kirchenleuten. Es ist eben nicht nur das thematische Trendsetting von Kirchen gegenüber der Gesamtgesellschaft vorbei, sondern auch das Netz territorialer Flächendeckung ist längst überdehnt, vielfach faktisch schon gerissen.  

Ob hier konfessorisches Reden reicht, dass Gott doch die Kirche brauche? Es könnte vielmehr auch so sein, dass hier die Organisation wieder ins Spiel kommt. Nur eben anders. Denn ihr stärkstes Movens und erstes Ziel ist, selbst zu überleben. Dabei schreckt sie weder, dass so vieles Verschiedenes gleichzeitig da ist, noch, dass die verschiedenen Funktionen von Kirchlichkeit letztlich nicht miteinander vermittelbar sind (und deshalb eine Prioritätendiskussion nur bedingt sachgerecht geführt werden kann).

Der Kirchturm tut, was er will

Es sind doch gerade die organisationalen Regeln, die Führung substituieren und damit Entscheidungsträger*innen der mittleren Ebene entlasten. Die Organisation erträgt viel leichter als eine einzelne Person, dass Funktionen sich immer weiter ausdifferenzieren und die Unübersichtlichkeit auch dann größer wird, wenn sich alle auf ein gemeinsames Leitbild geeignet haben. Dass Christenmenschen die gleiche Geschichte erzählen und trotzdem Unterschiedliches tun, erweist sich oft zum Segen für die Welt.

Dann wäre die Aufgabe der so getrosten Leitungsleute, den Blick auf die Regeln zu werfen und weniger auf den einzelnen Kirchturm. Der tut ohnehin, was er will.

Und dann kommt zum Trost auch der Mut. Der Mut, sich nicht verwirren zu lassen, dass verschiedene Filme gleichzeitig laufen, dass sich Tonspuren überlagern und sich der organisierte Protestantismus immer irgendwo zwischen Babel und Pfingsten bewegt. Es ginge also darum, mit dem Bade der herrschenden Administration (Stichwort: konstantinisches Christentum) nicht auch gleich die Organisiertheit auszuschütten, sondern genau die Organisation zu minorisieren.

Dann wäre eine Organisation zu denken, die sich ihrer Leistungen bedient, ohne das Spiel des Höher-Schneller-Weiter mitzuspielen. Sie würde als Organisation erkannt werden, ist aber zugleich alieni iuris (anderen Rechts). Minderheitliche Formen des Christentums existierten schon immer neben und außerhalb dessen, was „normalerweise“ Kirche ist. Und nun geht es eben darum, eine Organisation zu entwickeln, die außerhalb dessen ist, was „normalerweise“ Organisation ist. Über die Jahrhunderte betrachtet, „kann“ Kirche das. Oft schon war sie early adopter (Erstanwenderin) neuer Sozialgestalten. Dieser Habitus von Formfindung und Depotenziert-Sein prägte zukünftig die Organisation von Kirchlichkeit in Gänze.

Manche Landeskirchen haben da schon einige Erfahrung, andere lernen das gerade mehr oder minder schmerzlich, dritte schließlich werden noch einige Zeit und Verluste brauchen, um sich darin einzuüben. Denn es ist ja nicht leicht, von einem Anspruch gesellschaftlicher Platzierung Abstand zu nehmen, zugleich aber von aller gesellschaftlichen Funktionalität fröhlich Gebrauch zu machen. Nicht haben, als hätte man (1. Korinther 7,29).

Sinkendes Instititutionenvertrauen

Interessant ist nun, diese Haltung von Depotenzierung auf die Merkmale der Organisation hin zu durchdenken. Etwa die Mitgliedschaft. Indem Mitgliedschaft Bedingungen hat, produziert sie eine Form von Konformität. Diese ist aber in den Milieus, die der Kirche affin sind, nicht besonders hoch im Kurs. Reicht – beispielsweise – eine oft unklar kommunizierte Zweckbindung als Motivation aus, Mitglied zu bleiben oder gar zu werden? Nicht jedem und jeder erschließt sich unmittelbar, weshalb die Zweckfreiheit der Kirche ein hinreichender Zweck der Organisation ist. Zudem hat die Kirche teil am allgemein sinkenden Institutionenvertrauen: Dass das, was für mich in Geltung steht, für andere auch verlässlich zugänglich sein soll, ist nicht (mehr) ohne weiteres evident. Deshalb: Könnte die Kirche bedingungslose Mitgliedschaft denken? Täte sie gut daran – wenigstens probehalber einmal – nur die in ihr Tätigen – Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche – als Mitglieder anzusehen? Kann sie theologisch verstehen, dass Menschen „auf Zeit“ Mitglied sein wollen?

Die Bearbeitung solcher Fragen meine ich mit dem „Blick auf die Regeln“. Darin klingt einen gehörige Portion Theologie. Man erkennte an, dass es kaum (und zunehmend weniger) Durchgriffsmöglichkeit leitender Leute auf die konkrete Arbeit vor Ort gibt. Man formulierte aber Korridore und Möglichkeiten, wie das ganz schlichte „Organisieren“ des Dass kirchlicher Arbeit vor Ort vonstatten geht. Denn es verhält sich ja keineswegs so, dass sich religiöse Kommunikation oder gar Kirchlichkeit vor Ort „von selbst“ ereignet, geschweige denn organisiert.

Anders gesagt: Durch die Depotenzierung der Organisation ist es möglich, dass sie sich freispielt, Handlungsspielräume zu entwickeln. Teilspezialisierungen von Pfarrerinnen und Pfarrern geben diesen Räumen mancherorts eine ganz eigene Farbe. Die Pluralität von Mitgliedschaftsverhalten, dass es faktisch unlängst gibt, würde eingeholt und könnte beschrieben werden. Die Unsicherheit, unter der Menschen in der Kirche handeln, würde sichtbarer und damit im gleichen Moment bearbeitbar. Was man sagen kann, kann man auch gestalten. Was Worte hat, kann man sehen. Was man sehen kann, bestimmt, was Menschen tun.

Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU) fragen danach, wie die Mitglieder die Kirche verstehen. 1972 kam darin eine grundlegende Transformation in Bezug auf das Kirchenverständnis zum Ausdruck. Die Mitgliederorientierung förderte unweigerlich die organisationale Gestalt von Kirche. Aber ist das ein „falscher Film“?

Grad der Passung entscheidet

Nun verhält es sich so, dass es keine „falschen“ gedanklichen Modelle gibt, um von Einzelerfahrungen zu abstrahieren und Zusammenhänge zu entdecken. Allerdings erweisen sie sich als mehr oder weniger passend. Und der Grad dieser Passung entscheidet darüber, in welchem Sinne Kirche zukünftig Volkskirchlichkeit für sich beanspruchen kann.

Zwischenzeitlich haben sich diese Zusammenhänge so weit differenziert, dass es – so Peter Scherles Vorschlag – lohnt, den Blick auf Kleinräumiges, Neotribalistisches zu lenken, induktiv nach religiösen Formen Ausschau zu halten und den Zusammenhang zu übergeordneten Strukturen allenfalls lose zu koppeln. Der organisationale Film würde – in gut protestantischer Tradition – zu einer Art Hintergrundgeräusch der kirchlichen Arbeit vor Ort. In der Gesamtschau der Befragungen des halben Jahrhunderts seit 1972 zeigen sich eine Aufwertung von Distanz, von Kasualien, von Organisation und von Kirche „an sich“ gegenüber der lokalen Beteiligungskirche. Man hoffte, Kirche müsse lediglich ihre Angebote anpassen, um die Eintritts- und Austrittsbereitschaften der Leute zu beeinflussen.  

Die KMU zeigen Bilder aus einer Vergangenheit, die der Gegenwart für kirchliche Verhältnisse relativ nah sind, allerdings immer schneller entschwinden, in der beschleunigten Gesellschaft. Was wir brauchen, sind hingegen Filme aus der Zukunft (nicht: Filme über die Zukunft!). Wenn gegenwärtig wieder Menschen (weniger: Mitglieder, idealerweise: das ganze „Parlament der Dinge“) befragt werden, ginge es also vornehmlich darum, erzählerische Knotenpunkte aus solchen Zukünften zu identifizieren. Sie würden helfen, Szenarien zu entwickeln, aus denen sich organisationale Regeln ableiten ließen, die sich genau nicht aus den Erfahrungen der Entscheider*innen speisen: Ich weiß nicht, was ich sehen werde, weiß aber, dass es etwas ist, was im regulären Programm (noch) nicht zu sehen ist. Für diese Art von Regelbildung ist der getroste Mut und die hermeneutische Kompetenz der mittleren Ebene unerlässlich – und zwar nach Möglichkeit, bevor die meisten Dekaninnen und Superintendentinnen in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen.

Das Unbehagen, in einem fremden Film zu sein, würde man aushalten müssen, weil es die Möglichkeit birgt, überrascht zu werden. An die Stelle eines kybernetischen Gesamtprogramms träte das Impro-Festival, das so organisiert ist, dass es Gottes große Geschichte der planenden Marktlogik entwindet und gerade so in die Welt kommt.

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Friederike Erichsen-Wendt

Dr. Friederike Erichsen-Wendt ist Referentin für Strategische Planung und Wissensmanagement im Kirchenamt
der EKD in Hannover.


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