Eine neue theologische Welt

Eindrücke eines Gemeindepfarrers aus einem Islam-Semester
Das Gebäude des Berliner Instituts für Islamische Theologie in Berlin-Mitte.
Foto: Dirk Siedler
Das Gebäude des Berliner Instituts für Islamische Theologie in Berlin-Mitte.

Die Auslegung des Korans ist vielfältig und komplex. Doch auch für christliche Theologen kann es sehr gewinn­bringend sein, sich wissenschaftlich mit dem Islam und dem Koran zu beschäftigen. Das erfuhr Dirk Siedler, Gemeindepfarrer in Düren, als er ein Semester am Berliner Institut für Islamische Theologie studierte.

Mit 54 Jahren erlebe ich nochmal einen ersten Studientag: Montag, 18. Oktober 2021. Die Evangelische Fakultät beginnt ihn mit einem feierlichen Semester-Eröffnungsgottesdienst in der Marienkirche am Alexanderplatz. Danach werden die Studierenden im Fakultätsgebäude in Blickweite des Berliner Doms begrüßt und alle freuen sich, sich nach einem Online-Semester wieder leibhaftig zu begegnen. Ich mache mich auf zum „Berliner Institut für Islamische Theologie“ in der Nähe der Charité. Vor zwei Jahren hat es seine Arbeit an der Humboldt-Uni aufgenommen, als letzte von nunmehr sieben universitären Ausbildungsstätten islamischer Theolog:innen in Deutschland. Ihre Absolvent:innen könnten islamischen Religionsunterricht erteilen oder an Moscheen beschäftigt werden. Die meisten Professuren sind inzwischen besetzt, zumeist mit jungen Theolog:innen, motiviert und innovativ. Das Institutsgebäude gehörte früher mal zur Charité. Jetzt teilen es sich die Institute für islamische und katholische Theologie.

Als ich in den 1980er-Jahren mein Studium in Berlin begann, stand der Islam nicht im Fokus des allgemeinen Interesses. So habe ich mich mit der „Theologie der Religionen“ beschäftigt. An der Uni in Duisburg konnte ich an einer „Arbeitsstelle interreligiöses Lernen“ mitarbeiten. In meiner Dürener Gemeinde sind mir interreligiöse Begegnungen, Dialog und Integration zentrale Anliegen meines christlichen Selbstverständnisses. So haben wir im April 2021 in Düren angesichts der Pandemie gemeinsam mit den Moscheevereinen und Vertretern von Kreis und Stadt ein „Interreligiöses Bittgebet“ gehalten. Dieses Semester bot mir nun die großartige Gelegenheit, mein Teilwissen einmal im Zusammenhang zu vertiefen und zu erleben, wie sich islamische Theologie an unseren Universitäten entwickelt (hat). Die rheinische Kirche ermöglicht ihren Pfarrer:innen diese theologische „Auszeit“, sofern die Kolleg:innen die Vertretung übernehmen, und diese Unterstützung hatte ich.

Auf dem Weg zum Institut komme ich an der früheren „Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR“ vorbei. Auf der anderen Straßenseite fällt mir eine Gedenktafel für Muhammad Asad ins Auge: Als Leopold Weiss 1900 im heutigen Lwiw (!) geboren, konvertierte er nach Begegnungen mit Arabern in Palästina 1926 in Berlin zum sunnitischen Islam, verließ Deutschland aber schon bald und verfasste einen mu’tazilitisch geprägten Koran-Kommentar. Seine deutsche Übersetzung wurde jüngst neu aufgelegt. Die Mu’taziliten sind eine rational geprägte Rechtsschule des sunnitischen Islams und werden heute wieder vermehrt in Koran-Auslegungen berücksichtigt.

Islamische Theologie setzt sich grundsätzlich kritisch mit ihren Überlieferungen, Traditionen und Interpretationen auseinander. Das geschieht auch interdisziplinär, was ich in verschiedenen Veranstaltungen erleben konnte, die von islamischen, evangelischen und katholischen Theolog:innen durchgeführt wurden. So etwa ein Seminar zu „Kanon und Autorisierung im Christentum, Judentum und Islam“, also zu der Frage, wie die heiligen Schriften der drei Religionen eigentlich Geltungskraft entwickelt haben. Das war in allen drei Religionen ein komplexer Prozess, der mühsam rekonstruiert wird, auch im Islam. Es ist zwar klar, dass es außer dem Koran keine autoritativen Schriften geben kann. Dennoch hat der Dozent Mohammad Gharaibeh Aspekte solcher „vormodernen muslimischen Wissenskulturen“ rekonstruiert. Dabei hat er exemplarisch die Lesevermerke in Kommentar-Schriften erforscht, wie und wann sich etwa in Damaskus oder Kairo Lehr-Schulen bildeten und entwickelten. Er bezieht auch die Abhängigkeiten von den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen mit ein und zeigt so, wie Texte und Traditionen im vormodernen Islam Autorität gewannen.

Gender im Koran

Besonders spannend war das Seminar „Gender in Koran und Koranexegese“, das die Junior-Professorin Mira Sievers hielt. Sie forscht zu den „Islamischen Glaubensgrundlagen“ und „betritt vielfach wissenschaftliches Neuland“. So wurde es ihr bei der Verleihung des wissenschaftlichen Nachwuchspreises durch das Land Berlin im November 2021 bescheinigt. Da das Seminar auch im Studiengang „Gender Studies“ angeboten wurde, studierten viele Teilnehmende gar nicht islamische Theologie, sondern andere Fächer. Entsprechend vielfältig waren die Perspektiven und Erfahrungen in kritischer Text-Lektüre: islamische Theologie im konstruktiven Austausch der universitären Fächer.

Zwei Seminar-Sitzungen fanden gemeinsam mit einem Seminar in evangelischer und katholischer Theologie zu den Schöpfungs-Erzählungen statt. Mich hat
dabei erstaunt, wie wenig Grundwissen über Bibel, Pluralität von Kirche und kritischer Bibel-Auslegung unter jungen Studierenden heute vorhanden ist. Insofern liegt in diesem interdisziplinären Austausch auch eine große Chance.

Eine Erkenntnisfrucht: Während in der jüdisch-christlichen Tradition aus der Erschaffung Evas aus Adams Rippe eine Dominanz des Mannes abgeleitet wurde, stellt der Koran heraus, dass der Mensch aus „einem einzigen Wesen“(arabisch nafs/Wesen verwandt mit hebräisch näfäsch/Seele, Geist) geschaffen wurde und erst aus diesem seine Gattin und dann Männer und Frauen (Sure 4:1) entstanden. Es wird deutlich, dass der Koran nicht isoliert zu lesen ist, sondern als Kommentar zu Überlieferungen seiner Zeit, die gewissermaßen vorausgesetzt werden. Das Gegenüber sind dabei vor allem die christlich-orthodoxen Traditionen der syrischen Kirchen im 7. Jahrhundert.

Die Auslegung des Korans ist vielfältig und komplex. Entgegen einer verbreiteten Wahrnehmung, dass Koranverse im Islam direkt in unsere Gegenwart übertragen würden, zeigt sich, dass ethische Aussagen des Korans abgeleitet und veränderte gesellschaftliche Fragestellungen und Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssen.

Was nehme ich also aus den unterschiedlichen Veranstaltungen mit? Man müsste sehr viel wissen, um den Koran wirklich angemessen und verantwortbar auszulegen. Man müsste den „richtigen“ arabischen Text kennen; denn die Vokalisation des Korans erfolgte erst nachträglich. Es sind nicht viele Textstellen aber doch einige, die unterschiedlich übersetzt werden könnten. Man müsste zu allen Versen verlässlich den historischen Kontext wissen, das sind die sogenannten „Offenbarungsanlässe“ zu den einzelnen Versen. Diese Anlässe sind von Generation zu Generation tradiert worden und in „Überlieferer-Ketten“ festgehalten. Diese gelten als unterschiedlich verlässlich. Das gilt auch für die Überlieferung der Hadithe, also der Aussprüche des Propheten, die oft zur Interpretation eines Koranverses hinzugezogen werden. Dann müsste man über eine präzise zeitliche Abfolge („Chronologie“) der einzelnen Offenbarungen verfügen. Zu all diesen Fragen gibt es unterschiedliche Lehrmeinungen. Und dann wäre man immer noch nicht zum kitāb maknūn, den bei Allah/Gott „verwahrten (also uns verborgenen) Tafeln“ vorgedrungen; sondern bliebe immer beim mutab („der gebundenen Schrift“). Also: Der Weg zu einer verlässlichen muslimisch-theologischen Aussage ist weit, die Möglichkeiten der Auslegungen des Korans sind vielfältig.

Diversität gehört dazu

Die Seminare, die ich besucht habe, setzten bei der klassischen Koranauslegung ein und zeigten, dass es von Beginn an verschiedene Auslegungen gab. Diversität gehört von Anfang an zum Islam. Moderne Koranauslegung bezieht sich auf einzelne klassische Traditionen oder knüpft an moderne Nachbarwissenschaften an wie etwa Nasr Hamid Abu Zaid (gestorben 2010), der literaturwissenschaftliche Methoden angewendet hat, oder Ömer Özsoy (Professor in Frankfurt), der besonders den Entstehungskontext und die Geschichtlichkeit des Korans als Rede berücksichtigt. Ein anderer Bezugspunkt moderner islamischer Theologie ist die Arabistik, hier insbesondere die Arbeiten von Angelika Neuwirth zum „Koran als Text der Spätantike“ – so ihre wegweisende Arbeit.

An diese modernen Ansätze knüpft die islamische Gender-Theologie an. Der Begriff des Feminismus („islamic feminism“) ist bezogen auf Koran und Islam umstritten, weil er den Eindruck erweckt, als würde eine fremde Perspektive in den Koran eingetragen werden. Stattdessen versuchen moderne Theologinnen eine gleichberechtigte Rolle der Frau aus dem Koran selbst abzuleiten. Diese Debatte gewinnt zunehmend innerislamisch an Bedeutung (zumindest in der „westlichen“ Welt).

Manche Diskussion kommt mir durchaus bekannt vor: Auch in der evangelischen Theologie wurde und wird diskutiert, wie biblische Texte auch Jahrhunderte später noch relevant sind. Manchmal tut es aber auch einfach gut, sich auf ein oder zwei biblische Bücher zu beschränken und diese intensiver zu studieren. So erging es mir in der Vorlesung von Jens Schröter über die „Theologie des lukanischen Doppelwerks“ – also des Evangeliums und der Apostelgeschichte des Lukas. Beide Schriften sind eng aufeinander bezogen. Sicher, das war schon in meinem Examen nichts Neues, aber viele Zusammenhänge waren mir dann doch nicht so geläufig – obwohl ich schon oft aus Lukas gepredigt habe (seltener aus der Apostelgeschichte), nicht zuletzt die Weihnachtsgeschichte. Lukas ist der erste Historiker des Christentums. Eine zentrale Einsicht: Gottes Geist ist bei Lukas das verbindende Element zwischen Judentum, Jesus, Jüngern, frühchristlichen Gemeinden aus Juden und später auch Nichtjuden. Lukas hat eine sehr weite Vorstellung von christlicher Gemeinde, von der „Universalität des Heils“. Rhetorisch gefragt: Ob Gottes Geist auch die Grenzen zu anderen Religionsgemeinschaften überschreitet?

Das Semester litt natürlich – wie so vieles – unter der Corona-Krise. In der evangelischen Theologie fanden bis zuletzt präsentische Veranstaltungen (zum Teil ab November/Dezember hybrid) statt. Die islamische Theologie stellte frühzeitig im November komplett auf digitale Lehre um. Die digitalen Medien ermöglichten die Fortführung der Veranstaltungen. Sie ermöglichten mir aber auch, Kontakt mit meiner Dürener Gemeinde zu halten. So lud ich zwei Mal zu einem digitalen „Bericht aus Berlin“ ein. Beim zweiten digitalen Treffen fragte ich nach Ideen, wie etwas von meinen Erfahrungen in die gemeindliche Praxis einfließen könnte. Zwei Vorhaben ergaben sich: Einmal werde ich in nächster Zeit über Lukas predigen, Evangelium und Apostelgeschichte, allerdings nicht kursorisch, sondern jeweils passend zum Kirchenjahr. Ich habe schon angefangen und bin neugierig, wann ich durch bin …

Die Bibel von vorne bis hinten zu lesen – das nimmt sich immer mal einer vor, aber wie wäre es, wenn wir einmal den Koran christlich-islamisch miteinander lesen und dann immer mal die Bezüge zur biblischen Überlieferung nachschlagen, und unsere Texte miteinander auslegen würden. Das wäre eine große Herausforderung für christliche und muslimische Gemeinden – ich bin gespannt, ob ich Partner:innen dafür finde. 

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