Unter der Lupe

Barocke Epigramme

Wenn Christian Lehnert mit einer neuen Veröffentlichung aufwartet, gibt es zunächst nur eine Gewissheit: eine in Stille gewachsene, präzise und scharfkantig gesetzte Sprache, die keine Beliebigkeit zulässt und noch dem Vagen so viel Kontur gibt, dass es Ringe zieht. Neben diese Gewissheit stellt sich bei diesem mittlerweile achten bei Suhrkamp erscheinenden Gedichtband ebenso selbstverständlich die Frage, welchen Flügelschlag er sich zu eigen macht und welche Form er dem Kristall seiner Gedanken zugutekommen lässt.

Diese stilistische Wandelbarkeit irritiert, weil ein Lehnert’scher Grundton sich nicht offenbaren will, sie ruft aber auch immer wieder Erstaunen hervor, weil Christian Lehnert dieser Wiedererkennung offenkundig keine Wichtigkeit beimisst. So stark bestimmt der Gedanke den Tonfall, dass dieser jedes Mal mit anderer Rhythmik aufwartet. Schwebendes, Melodiöses ist darin eher flüchtig, als stünde es der Genauigkeit im Weg.

Diese Genauigkeit in puncto Rhythmik bestimmt auf besondere Art und Weise auch dieses opus 8, das bezeichnenderweise „Im Flechtwerk“ untertitelt ist. Das stilistische Flechtwerk dieses Bandes entlehnt Christian Lehnert dem Barock, der schlesischen Dichterschule, Martin Opitz, noch mehr aber, so scheint es, Johannes Scheffler, dem Angelus Silesius des Cherubinischen Wandersmanns. Dessen als zweizeilige Alexandriner gesetzte, an Johannes Tauler und Jacob Böhme orientierte mystische Epigramme bilden die unmittelbare stilistische Grundform der geradzahligen Hälfte dieses Gedichtbandes ab und formen in dieser sechshebigen Reimform einen den ganzen Band durchziehenden Mäander, der jedes Umblättern zu einer vertrauten Geste werden lässt.

Nichts lenkt ab. Rhythmik und Versmaß schaffen eine ornamental pulsende Bewegung, auf der das Schiff im Webstuhl der Gedanken anregend, pointiert, vor allem aber – der Form des lyrischen Genres gehorchend – in äußerster Kürze und Knappheit bei gleichzeitiger gedanklicher Fülle alle Segel setzt. So hat schon die Barocklyrik der Komprimierung heutiger Konversation bei Twitter kongenial vorgearbeitet. So tut es hier auch Christian Lehnert und geht noch einen Schritt weiter, indem er auch die barocke Erkenntnislust in Form naturphilosophisch-theologischer Betrachtung als Intention aufnimmt und sich mit lyrischer Lupe in den Garten setzt: beobachtend, sezierend, sinnend – willens, gleich einem Matthäus-Merian-Panorama „ein natürliches Buch // Von Pflanzen und Tieren / Mikroben und Steinen in ihren Erscheinungen / von ihren Namen / Ähnlichkeiten / Heilkraft und ihrem Atem“ zu schaffen.

Ein wenig irritiert diese stilistisch perfekt übernommene Form früherer Jahrhunderte – ähnlich der Malerei Michael Triegels. Ein wenig verstört die gleich einem Albatros immer wieder den freien Flug ersehnende musikalische Struktur, der das Schweben trotz sensitiv vervollkommneter Reimform auf den gegenüberliegenden, ungeradzahligen Seiten fremd ist, weil die Feinnervigkeit der Gedanken den Kopf nicht verlässt und in einem großen Geweb versponnen bleibt. Aber die Verschränkung von Wahrnehmung und Aneignung, von Einordnung und Loslösung in diesen symbolhaft sieben Mal sieben zugeordneten Gedichtpaaren, denen jeweils ein Zitat aus dem Buch Sohar, von Meister Eckhart, Johann Georg Hamann oder Jacob Böhme vorangestellt ist, weckt wie im Aufkommenden Atem (2011) Staunen und Freude an der dichterischen Lust und Gebärde Christian Lehnerts, in der sich im Gang durch die Jahre und Formen klarer und klarer die Intention seines Schreibens abzeichnet als geistreiche Erkenntnis aus mystisch-theologischer Offenbarung und wesenhaftem Verständnis der Welt im Spiegel ihrer kreatürlichen Wirklichkeit. Er trotzt dem verwildernden Vergehen im kultivierenden Wort. Der rhythmische Mäander ist seine derzeitige Uni-Form dafür.

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