Motetten-Hochamt beim Leipziger Bachfest

Der Kammerchor Stuttgart begeistert in der Thomaskirche
Grabstätte von Johann Sebastian Bach (1685-1750) in der Leipziger Thomaskirche. Unter der bronzenen Grabplatte liegen seit 1950 die sterblichen Reste von Johann Sebastian Bach.
Foto: epd
Grabstätte von Johann Sebastian Bach (1685-1750) in der Leipziger Thomaskirche. Unter der bronzenen Grabplatte liegen seit 1950 die sterblichen Reste von Johann Sebastian Bach.

Der von Frieder Bernius gegründete und bis heute geleitete Kammerchor Stuttgart gehört seit über fünfzig Jahren zu den besten Kammerchören der Welt. Warum das so ist, demonstrierte das Ensemble gestern in einer musikalischen notte magica in der Leipziger Thomaskirche.

Es war einer dieser Stecknadelmomente, die unsere lärmende Welt nur noch selten schenkt: Als der Kammerchor Stuttgart ganz am Ende „Jesu, meine Freude“ sang, jene drei letzten Worte, mit denen die gleichnamige Motette von Johann Sebastian Bach auch beginnt, da passierte erstmal … nichts. Stille, wirklich Stille in der Leipziger Thomaskirche und wertvolle Sekunden verstrichen, bevor sich der Applaus von vielen hundert (begeisterten) Zuhörer:innen Bahn brach.

Wow. Und ja, es ist schwer, den Kammerchor Stuttgart zu loben. Denn zum einen ist gar nicht so leicht zu beschreiben, warum es so glücklich macht, das von Frieder Bernius 1968 gegründete und bis heute geleitete Ensemble zu erleben, und zum anderen trägt man Eulen nach Athen. Klang, Ausdruck und Interpretation sind in sich perfekt, aber eben nicht akrobatisch, artistisch, keimfrei perfekt, sondern warm, innig, golden und ja, auch im guten Sinne: abgeklärt, perfekt. Und selbst wenn es eigentlich ein No-Go ist, man könnte versucht sein, bei der spezifischen Stuttgarter-Kammerchor-Verbindung von Wort und Musik von – horribile dictu! – Tiefe zu sprechen. Aber bitte, es ist eben keine gründelnde, oder gar abgründelnde Tiefe, sondern eine edle, dabei schlichte, vielleicht … fromme Tiefe.

Genug der Theorie, hinein ins Geschehen: Vier Motetten von Johann Sebastian Bach standen einer Motette von Johann Schnelle (1648-1701), seines Vorvorgängers im Amt des Thomaskantors, einer Motette seines Schülers (und Schwiegersohns) Johann Christoph Altnickol (1719-1759) sowie zwei doppelchörigen Motetten von Johann Christoph Bach (1642-1703) seines Onkel zweiten Grades gegenüber. Mit denen ging es los: Zuerst die Adventsmotette Lieber Herr Gott, wecke uns auf, in der Bachs Onkel gleich am Anfang die Zuhörer mit effektvoller Kompositionskunst gewinnt: „LIE-ber, LIE-ber Herr, LIE-ber Herr Gott …“. Die Wiederholung der liebenden Anrede entzückt, genauso wie die herrlichen Aufwärtsgirlanden bei „wecke uns auf“. Dann folgen schönste Wellen auf den „Freuden“, mit denen jener verheißenes Herr empfangen werden soll. Ach, es hat keinen Sinn, sich in Details zu verlieren, aber diese seien pars pro toto genannt. Ebenso schöne, agile Wort-Ton-Formungen gab es auch in Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, dem zweiten Werk des Bach-Onkels, erhebend zu genießen.

Schöne Solo-Trios

Nach diesem hinreißenden Nunc dimittis dann der Sprung über mindestens ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte hin zur Choralmotette Befiehl Du Deine Wege von Johann Christoph Altnickol, der äußerst apart sämtliche zwölf Strophen eines der bekanntesten Paul-Gerhardt-Lieder vertont. Nur viermal erscheint in den Strophen die Choralmelodie (damals wurde dieser Choral übrigens auf die Melodie gesungen, die heute in erster Linie mit „O Haupt voll Blut und Wunden“ verbunden wird), ansonsten gibt es auch schöne Solo-Trios, zum Beispiel im heiter-unbesorgten Vers 8 „Ihn, ihn lass tun und walten“.

Altnickol, der von (Schwieger-) Vater Bach als „ecolier (Schüler), deßen ich mich nicht zu schämen haben darf“ bezeichnet wurde, ist vielleicht doch derjenige Komponist an diesem Abend, auf den die in früheren Zeiten epidemisch vergebene Titulierung als „Kleinmeister“ ein stückweit zu passen scheint. Anders gesagt: Um diese Motette am Stück genießen zu können, muss es schon der Kammerchor Stuttgart sein, der da singt, sonst, so dünkte es dem Zuhörer, könnte es bei zwölf Strophen etwas länglich werden …

Mit dem vierten Werk waren Frieder Bernius und die Seinen dann beim Leipziger Bach angelangt. Die Zuschreibung der Motette „Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn“ als Werk Bachs war früher lange unsicher, deshalb ist sie auch „nur“ im III. Anhang im Bach-Werke-Verzeichnis unter der Nummer 159 verzeichnet, aber es handelt sich recht zweifelsfrei um ein Werk aus seiner Weimarer Zeit. Gleiches könnte für „Fürchte dich nicht“ (BWV 228) gelten. Beide Werke boten die Stuttgarter in der rechten Mischung aus Akkuratésse und Intensität dar. Gebannt folgte man den „mein, Jesu, mein Jesu“-Rufen aus BWV 159. So schön das klang und bewegte, so stutzt man doch immer wieder, dass den alttestamentlichen Worten von Israels Erzvater Jakob aus Genesis 32, der dort mit einem Fremden (Gott?) ringt, wie selbstverständlich „mein Jesu, mein Jesu“ beigefügt und Jakob damit christlich enterbt wird. Aber das war damals, im Barock, total normal.

Gardiners Grablied

Dann eine eindrückliche Verknüpfung: Die dreistrophige Motette „Komm, Jesu, komm“ von Johann Schelle – Charaker: heiter, glaubensfroh, unbesorgt, ja„früh-galant“ ist man fast versucht zu sagen – mündet direkt in Johann Sebastian Bachs gleichnamige doppelchörige Motette, in der sich dieser auf die erste Strophe des Chorals von Paul Thymich (1656-1694) konzentriert. Ein Werk, von dem John Eliot Gardiner vor vier Jahren auf einer Pressekonferenz beim Leipziger Bachfest einmal sagte, es solle auf seiner Beerdigung gesungen werden.

Die Motette kostet den Text harmonisch und agogisch aus, und es war eine Wonne zu hören, mit welcher Lust und Behutsamkeit die Stuttgarter die Linien und Harmonien gleichsam ausmalten, um dann in jener von Bach mit „Aria“ überschriebenen elften und letzten Strophe Thymichs zu enden: Drum schließ ich mich in deine Hände / und sage „Welt: zu guter Nacht!“/ Eilt gleich mein Lebenslauf zu Ende / ist doch der Geist wohl angebracht. / Er soll bei seinem Schöpfer schweben, / weil Jesus ist und bleibt der wahre Weg zum Leben.

Achttausender der Motettenkunst

Und dann noch „Jesu, meine Freude“? Auf jeden Fall, wenn der Kammerchor Stuttgart schon mal da ist. So beschloss diese große, weltberühmte fünfstimmige Motette den Abend. Hier kommt alles zusammen, was die Motettenkunst Johann Sebastian Bachs ausmacht: Virtuosität, wundersam-wunderbare Harmonik, herrlich auskomponierte Worte, im Tutti, in Solo-Trios und -Quartetten und dann immer wieder die Strophen des Chorals „Jesu, meine Freude“ von Johann Franck, über die der ehemalige Diepholzer Pfarrer und Schriftsteller, Harald Storz, einmal eine preisgekrönte Predigt hielt. Die anderen Textteile stammt aus dem achten Kapitel, dem Herzen des Römerbriefs, und Bach hat sie unvergleichlich vertont:

Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind,
die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist. (Röm 8,1)

Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu,
hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. (Röm 8,9)

Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnet. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. (Röm 8,9)

So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen;
der Geist aber ist das Leben um der Gerechtigkeit willen. (Röm 8,9)

So nun der Geist des, der Jesum
von den Toten auferwecket hat, in euch
wohnet, so wird auch derselbige, der Christum
von den Toten auferwecket hat, eure sterblichen Leiber lebendig machen, um des willen, dass sein Geist in euch wohnet. (Röm 8,10)

Starke Schlüsse

Für viele sind diese Worte des Paulus unlöslich mit der Musik Bachs verknüpft. Frieder Bernius und dem Kammerchor Stuttgart, den ganzen Abend von Sonntraud Engels-Benz an der Truhenorgel im besten Sinne unauffällig begleitet und gestützt, gelang eine exzellente Interpretation dieses Achttausenders des Genre „Motette“. Hier zeigten die Stuttgarter nochmal alles, was die Stärke eines Weltklassechores ausmacht. In besonderer Weise sind das die Schlüsse. Vordergründig betrachtet kommt immer, kurz bevor es aufhört, ein Ritardando, klar, macht man ja so. Aber Frieder Bernius und den Seinen gelingt dann meist mehr, nämlich ein behutsames Abfangen und Auslaufen, ohne in der Substanz zu bröseln, und im Verklingen dann ein Blick in himmlische Herrlichkeit. So auch diesmal mit dem letzten Ausruf „Jesu, meine Freude“, dem eingangs erwähnten Stecknadelmoment. „O notte magica!“, jauchzte es da im erfüllt-beglückten Hörer.

PS: Wenige Meter hinter den Ausführenden, im Chorraum der Thomaskirche, befindet sich das Grab von Johann Sebastian Bach. Ob dieser Abend dem Meister gefallen hätte? Sicher mehr als das! Vielleicht war er sogar ein bisschen neidisch und dacht: „Meine Güte, hätte ich bloß diesen Chor gehabt!“

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