Kultur der Fürsorge

Wie medizinischen Fachkräften beim Umgang mit Krisen geholfen werden kann
Auf deutschen Intensivstationen fehlen bis zu 50 000 Pflegekräfte in Vollzeit.
Foto: picture alliance/Robert Kneschke
Auf deutschen Intensivstationen fehlen bis zu 50 000 Pflegekräfte in Vollzeit.

Die Corona-Pandemie und die hohe Zahl der Toten stellten auch für das Personal in den Kliniken eine immense psychische und körperliche Belastung dar. Dabei leiden Pflegeheime und Krankenhäuser schon lange unter Fachkräftemangel, der sich nun noch einmal verschärft hat. Was kann für eine Besserung der Situation getan werden? Nikola Gazzo, auf Trauer am Arbeitsplatz spezialisierte Beraterin, hat nachgefragt.

Erst die Coronakrise, jetzt der Krieg in der Ukraine. Wieder sehen wir in den Medien Tote und Sterbende, Schwerkranke oder Verletzte, verstörende Krankenhausszenen, weinende Angehörige, unwürdige Bestattungszeremonien. Diese Bilder wecken bei vielen Menschen die Dämonen der Vergangenheit: bei den Älteren Bilder der Zerstörung deutscher Städte und Flüchtlings-Treks infolge des Zweiten Weltkrieges, bei den noch Jungen die Konsequenzen der AIDS -Pandemie der 1980er-Jahre.

Für uns als Beobachter ist das oft schwer aushalten. Doch wie halten direkt Betroffene, also die Angehörigen, aber auch Fachkräfte in Pflege- und Heilberufen solche Situationen aus? Martina Rudolph-Zeller arbeitet an vorderster Front der Menschen, die sich in ihrer Not an die evangelische Telefonseelsorge in Stuttgart wenden. Telefonseelsorge? Klingt für viele etwas verstaubt. Doch während der Pandemie riefen genau diese Personengruppen gehäuft an. Angehörige von Kranken- und Pflegebedürftigen etwa, die ihre Lieben nicht besuchen durften. Sie waren von Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen geplagt, und wenn Schwerkranke einsam im Krankenhaus lagen und oft auch einsam verstarben, griffen sie in ihrer großen Not zum Telefon.

Auch Ärzte, Ärztinnen und Pflegende riefen vereinzelt bei der Telefonseelsorge an, um Familie und Angehörige nicht mit ihren beruflichen Sorgen zusätzlich zu belasten. „Es war ja ein regelrechter Kampf um die Patient:innen“, erinnert sich Martina Rudolph-Zeller an die Gespräche mit dem Pflegepersonal. „Sie litten unter der Unmöglichkeit des Rettens und mussten dann auch noch miterleben, dass die Angehörigen nicht Abschied nehmen durften“. Und dass Ärzte, Ärztinnen und Pflegende, die schon vor der Pandemie oftmals am Limit gearbeitet hatten, nun auch noch mit Übersterblichkeit in den Intensivstationen zu kämpfen hatten, führte so manche in das gefürchtete Burn-out-Syndrom.

Europaweit wurde bereits vor der Pandemie viel darüber nachgedacht, wie man die strukturellen Krisen unserer Gesundheitssysteme lösen könnte, an erster Stelle die der Krankenhäuser und ihrem überall notorischen Mangel an Pflegepersonal. Laut einer Studie der EU-Kommission sollen 2030 europaweit elf Millionen Pflegekräfte fehlen. Heute fehlen in den großen europäischen Staaten, in Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich, zwischen 150 000 und 200 000 pflegende Fachkräfte. „Auf deutschen Intensivstationen fehlen bis zu 50 000 Pflegekräfte in Vollzeit.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie des Gesundheitssystemforschers Michael Simon aus diesem Frühjahr.

Verheerende Ausgangslage

„Wir brauchen eine Analyse der komplexen Ursachen für den massiven Personalmangel im Pflegebereich und darauf aufbauend einen Gesamtplan, wie die pflegerische Versorgung der Bevölkerung in der Zukunft unter dieser verheerenden Ausgangslage aufrechterhalten werden kann. Auch hierzu liegen die Erkenntnisse bereits auf dem Tisch. Politisch muss jetzt endlich schnell und richtig reagiert werden“, erklärte in diesem Zusammenhang auch Irene Maier, Vize-Präsidentin des Deutschen Pflegerats.

Um Gehör bei der Politik kämpfen Pflegende schon lange, die Bewegung „walk of care“ wurde aus dieser sich zuspitzenden Lage heraus 2016 in Berlin gegründet. Alexander Warnke, Mitbegründer von „walk of care“, damals noch unter dem Namen „Berliner Pflegestammtisch“, war dabei, als sie die Kampagne „#gib-uns5“ formulierten. Die Bewegung fordert eine gesetzliche Personalbemessung, eine gute Ausbildung, eine Fort- und Weiterbildungsordnung, eine gerechte Finanzierung statt Gewinnmaximierung und politisches Mitspracherecht. Die Kampagne wurde 2021 mit dem „Deutschen Pflegepreis“ ausgezeichnet.

Ein besserer Personalschlüssel ist ein wichtiger Faktor, um die Belastung des medizinischen Personals in künftigen Krisen zu verringern. Doch es müssen noch andere hinzukommen. Ingrid Wöhrle Ziegler, Pfarrerin und Klinikseelsorgerin im Diakonie Klinikum Stuttgart, hält eine „Kultur der Fürsorge“ für nötig, und diese Kultur braucht eben viele Ressourcen, die gut strukturiert sein müssen – und das bereits, bevor Krisen eintreten.

Das habe sich so im Diakonie Klinikum Stuttgart gezeigt, wo selbst während der schlimmsten Phase der Pandemie zwar keine Überstunden geleistet, aber viele Aufgaben anders verteilt werden mussten. Zur Struktur gehöre auch ein gutes Kommunikationssystem im Haus und der wertschätzende Umgang miteinander, was auch dank einer seit 2007 bestehenden „Stabstelle diakonisches Profil“ gut funktioniere. „Das beginnt schon beim  Einstellen, aber es muss immer wieder im Alltag daran erinnert werden, das ist kein Selbstläufer, keine Selbstverständlichkeit.“

So wurde ein Resilienzteam gebildet, bestehend etwa aus Fachkräften der Psychosomatik, Psychotherapie und einer Psychologin. „Natürlich gibt es und gab es bereits vor der Pandemie Suchtprobleme oder Suizidgefährdung bei Krankenhausangestellten. Und die Pandemie brachte zusätzlich sehr viel Verunsicherung. Aber diese Herausforderungen haben uns auch zusammengeschweißt“, erinnert sich Wöhrle-Ziegler. „Ich bin auch mal eingesprungen, wenn es darum ging, Angehörigen beim Anlegen der Schutzanzüge zu assistieren.“

Supervision, multidisziplinäre Teamsitzungen und Kraftrituale für das Team einmal in der Woche, Resilienzteam, Trauerrituale und auch Einzelgespräche geben dem Krankenhauspersonal Möglichkeiten, Stress und auch Trauer zu verarbeiten. „Es geht um Achtsamkeit, aber auch um Aufmerksamkeit: Ich schaue nach Pflegenden und Ärzt:innen, wenn ich weiß, dass auf der Station ein Mensch verstorben ist. Dann sollte man auch mal innehalten. Wie etwa bei unseren Trauerritualen für verstorbene Patient:innen. In eine schöne Schale voll Sand stecken wir Kerzen zum Gedenken an sie.“

Geist der Gemeinschaft

Krankenhauspfarrer Hans Bartosch arbeitet seit Jahrzehnten bei den Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg, wo er außerdem die „Stabstelle Diakonie und Ethik“ verantwortet. Er weiß: „Viele Studien haben ergeben: Wir alle arbeiten dann zufriedener in unseren Gesundheitsberufen, wenn wir anerkennen, was diese für Potentiale haben, was sie nicht zuletzt an existenziellen menschlichen Begegnungen positiv bieten.“ Wie auch Wöhrle-Ziegler spricht er von einem wiedergefundenen Gemeinschaftsgeist, die Teams seien „in der Krise zusammengewachsen“, fügt aber kritisch hinzu: „Das Beklatsche während der Pandemie kam bei vielen als schierer Zynismus an.“ Deshalb fordert auch er eine bessere Bezahlung für Pflegende und meint: „Das Furchtbarste: Der Pflegenotstand ist in der Pandemie so greifbar geworden!»

Die Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg beherbergen Krankenhaus, Behinderteneinrichtung und Hospiz. Man könnte sich vorstellen, dass gerade diese vulnerablen Personengruppen während der Pandemie besonders unter Isolation und Kontaktsperre gelitten hätten. Aber, ähnlich wie Wöhrle-Ziegeler, sagt er: „Wir haben das ganz gut hingekriegt“. Während des ganzen Lockdowns sei es zu nicht mehr als zwei bis drei kritischen Situationen gekommen, in denen Patient*innen und Angehörige in der Lungenabteilung unter der Kontaktsperre und Isolation gelitten hätten. Und er fasst zusammen: „Ansonsten wird in unseren Einrichtungen mehr gelebt als gestorben.“ 

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