Wehe den Leichtfertigen!

Im schmutzigen Krieg gibt es keine saubere Ethik
Wolkenbild Friedenstaube
Foto: knipseline /pixelio.de
Eine Friedenstaube in aller Vorläufigkeit.

Braucht die evangelische Kirche hierzulande eine modifizierte Friedensdenkschrift? Nein, meint der Journalist und EKD-Synodale Arnd Henze. Nötig sei vielmehr der Anschluss an die Debatten, in denen das ethische Nachdenken in aller Brüchigkeit und Vorläufigkeit auch in diesem Krieg Tag für Tag stattfindet.

Wenn ich bei kirchlichen Debatten zum Ukrainekrieg für einen Moment die Augen schließe, fühle ich mich mitunter 40 Jahre jünger in den 1980er Jahren. Zum Glück funktioniert mein Langzeitgedächtnis und ruft die Chiffren und Abkürzungen zurück in die Gegenwart: „CA 16“ und „Zwei-Reiche-Lehre“, „Barmen 5“ und „Amsterdam 48“, „Causa justa“ und „Justus finis“„JPIC“ und „vorrangige Option der Gewaltfreiheit.“ Neu hinzugekommen ist die Ziffer 102 im Kapitel 3.2. zur „rechtserhaltenden Gewalt“ in der Friedensdenkschrift von 2007.

Wer zwischen den vielen Friedensbeauftragten, Militärdekanen, Professoren und Studienleitern der Evangelischen Akademien mitreden will, muss all diese Wegmarken kirchlicher Friedensethik draufhaben Nach drei Monaten Krieg ist die anfängliche Erschütterung einer geschäftigen Routine gewichen. Dabei darf kein Debattenbeitrag ohne den versöhnlichen Hinweis auf Bonhoeffer auskommen, dass man doch so oder so „irgendwie immer“ schuldig wird.

Wenn ich die Augen dagegen konzentriert offenhalte, sitze ich im Schneideraum und sortiere die Bilder von brennenden Häusern in Charkiw, flüchtenden Menschen aus Sjewjerodonezk, Opfern von Kriegsverbrechen auf den Straßen von Irpin oder zerbombten Getreidesilos in Dnipro. Nur ein Bruchteil dieser Nachrichten und Bilder schafft es in die kurzen Beiträge der Tagesschau. Alles steht unter dem skeptischen Vorbehalt der Verlässlichkeit. Vieles lässt sich nur in Andeutungen zeigen, weil es zu grausam ist. Drei Filter, von denen jeder mit ethischen Fragen und Abwägungen verbunden ist, über die wir im Team auch unter Zeitdruck mitunter intensiv diskutieren.

Früher habe ich die Arbeit an einem Film immer mit einem Puzzle verglichen, bei dem ich aus einem großen Haufen die Teile raussuche, die sich zu einem Bild fügen. Bei dem einzelnen tagesaktuellen Beitrag mag das auch jetzt noch gelingen. Doch mit dem Blick auf den Krieg als Ganzes sehe ich mich nicht mehr vor einem Haufen Puzzleteile, sondern vor einem Berg aus Trümmern. Und nichts fügt sich mehr zu einem stimmigen Bild.

Das gilt im wörtlichen Sinne für die Realität in der Ukraine, es gilt aber auch für die Trümmer vieler Gewissheiten, die seit dem 24.Februar zerbrochen sind. Diese Erschütterung ist für viele Ältere untrennbar mit biografischen Prägungen verbunden. -Viele Jugendliche erfahren dagegen in diesen Wochen auf brutale Weise, dass sie nicht nur die Folgen des Klimawandels tragen müssen, sondern ihre Zukunft auf Jahrzehnte durch Konfrontationen geprägt sein wird, für deren Beherrschung es derzeit kaum funktionierende Instrumente gibt.

Zerbrochene Gewissheiten, zerstörte Hoffnungen

Einige aus dieser Generation sind im vorigen Herbst in den Bundestag eingezogen – besonders viele bei SPD und Grünen. Voller Enthusiasmus, sich für bezahlbaren Wohnraum, bessere Bildungschancen oder gegen Rüstungsexporte einzusetzen. Nichts hat sie auf diesen Krieg vorbereitet – und erst recht nicht auf die Entscheidungen, die sie seit der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers mitverantworten müssen. Unterschätze niemand den Gewissensdruck, den die Abgeordneten bei den namentlichen Abstimmungen über Waffenlieferungen und das 100-Milliarden-Sondervermögen gespürt haben.

Aber nicht nur die Jungen spüren die Last und die Zerrissenheit. Ausgerechnet der langjährige Friedenspolitiker Rolf Mützenich muss als SPD-Fraktionsvorsitzender die Mehrheiten organisieren. Dass er selbst mit vielen Entscheidungen hadert, macht ihn einerseits gegenüber der Fraktion glaubwürdig, zugleich aber auch zur Zielscheibe mitunter sehr persönlicher Angriffe.

Diese Erschütterungen treffen zwei gesellschaftliche Gruppen in ganz besonderer Weise: die SPD und die Evangelische Kirche. Das mag auf den ersten Blick überraschen, wurden medial doch vor allem die Grünen mit dem Erbe von Friedensbewegung und Pazifismus identifiziert. Tatsächlich aber hat sich schon in der Vergangenheit keine Partei so leidenschaftlich den Debatten um Krieg und Frieden gestellt, wie die Grünen. Ob Ruanda, Sarajewo, Kosovo, Nordirak, Syrien oder Ukraine: die Partei hat sich nicht geschont und den Widerstreit zwischen Konfliktvermeidung, Entspannungspolitik und internationaler Schutzverantwortung unter jeweils anderen Vorzeichen immer wieder schmerzhaft ausgetragen.

Für die SPD bildete der Fokus auf dem Erbe der Entspannungspolitik dagegen nicht nur ein politisches Dogma, sondern auch den identitätsstiftenden emotionalen Markenkern der Partei. Dabei meine ich nicht die Perversion zum plumpen Gazprom-Lobbyismus der Clique um Ex-Kanzler Schröder, sondern das ehrliche Bemühen von Politikern wie Frank-Walter Steinmeier, der sich in den Konflikten von Syrien bis Ukraine bis zur Selbstverleugnung um Schadensbegrenzung bemüht hat. Dieser Ansatz war deutlich komplexer, als es Kritiker heute darstellen – und er ist rückblickend dennoch gescheitert.

Aber auch für Kirchentage, Pfarrkonvente und Synoden gilt: keiner der Krisen und Kriege der zurückliegenden 30 Jahre konnte den Wohlfühlpazifismus auf dem Weg zur „Kirche des gerechten Friedens“ wirklich nachhaltig erschüttern. Der Preis dafür war eine zunehmende Irrelevanz im öffentlichen Raum. Das mit großem Aufwand erarbeitete Friedenswort der EKD-Synode 2019 hat über den Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus praktisch keine Wahrnehmung mehr gefunden.

Deshalb  muss die Debatte um Fehleinschätzungen, Engführungen und falsche Weichenstellungen geführt werden – aber bitte nicht, in dem man zerbrochene Gewissheiten durch andere, historisch längst überholte Gewissheiten aus der Mottenkiste des Kalten Krieges ersetzt. Einen Weg zurück in die wohl geordnete bipolare Welt gibt es nicht.

Der Krieg in der Ukraine öffnet  über das unmittelbare Grauen hinaus einen Blick in den Abgrund einer ungewissen und bedrohlichen Zukunft. Ich verstehe deshalb jeden, der sich nach einfachen ethischen und politischen Antworten sehnt. In diesem schmutzigen Krieg gibt es aber weder eine saubere Politik, noch eine saubere Ethik. Was im Moment bleibt, sind keine „friedensethischen Positionen“, sondern das ständige Abwägen von Risiken und die Frage, wie noch größerer Schaden verhindert werden kann.

Waagschale statt starre Positionen

Um es offen zu sagen: mir hat die Friedensdenkschrift von 2007 schon in der Vergangenheit wenig geholfen, mich in all den Krisen und Konflikten zu orientieren, mit denen ich seitdem als Journalist zu tun hatte. Dabei waren es weniger die Inhalte, als der unerschütterlich selbstgewisse Ton, der selten zur brüchigen und widersprüchlichen Realität in den konkreten Konflikten passte.

Wir brauchen als Evangelische Kirche weder eine neue, noch eine modifizierte Friedensdenkschrift, sondern den Anschluss an die Debatten, in denen das ethische Nachdenken in aller Brüchigkeit und Vorläufigkeit auch in diesem Krieg Tag für Tag stattfindet.

Ich wünsche mir einen Prozess, der bei diesen Abwägungen tatsächlich das Bild einer Waage vor Augen hat. Wohin sich die beiden Schalen am Ende ausrichten, lässt sich nicht aus abstrakten „Positionen“ ableiten, sondern allein aus dem Gewicht, das sich auf jeder Seite in der realen Welt füllt – immer unter dem Vorbehalt des Irrtums und der Notwendigkeit zur Korrektur. Ich möchte versuchen, diese Abwägungen an drei Beispielen anschaulich zu machen:

I) In den ersten Wochen des Krieges ging es vor allem um die Frage, ob eine Flugverbotszone die ukrainischen Städte vor russischen Luftangriffen schützen könnte. Wer Putins Kriegsführung in Grosny und Aleppo vor Augen hatte, konnte nicht den geringsten Zweifel haben, dass er zu diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch diesmal entschlossen war. In der einen Waagschale lag also bleischwer diese sehr reale Bedrohung, in der anderen die enormen Eskalationsrisiken bei einem solchen Kriegseintritt der NATO und die praktische Sorge, ob und wie schnell sich ein solcher Schutz überhaupt umsetzen ließ. Mitte März saß ich auf einem großen Kirchenkonvent und habe vor 450 Multiplikatoren begründet, warum ich (wie fast alle Politiker und Experten) eine solche Zone für einen unkalkulierbar gefährlichen Schritt halte.In der folgenden Nacht wurde das Stadttheater von Mariupol, in dem – deutlich gekennzeichnet – mehr als 1000 Frauen, Kinder und alte Menschen Schutz vor Luftangriffen gesucht hatten, von Raketen getroffen. Mindestens 300 von ihnen kamen dabei ums Leben. Ich denke immer noch, dass die Argumente gegen eine Flugverbotszone zu stark waren. Aber ich hadere bis heute damit. Haben wir in unserer Abwägung die Eskalationsrisiken vielleicht überschätzt und die konkrete Bedrohung für die Menschen in Mariupol, Charkiw und Irpin doch nicht gewichtig genug genommen? Ich weiß es nicht. Aber ich spüre: wer sich auf die ganz realen ethischen Dilemmata und Aporien einlässt, wird nicht „irgendwie immer“ schuldig – sondern übernimmt im Wortsinn Verantwortung für die Folgen seiner Abwägung. Bundesregierung und Abgeordnete im Bundestag haben das schmerzlich gespürt, als der ukrainische Präsident Selenskyi per Video so leidenschaftlich auf die Schließung des Luftraums drängte. Aber niemand fand sich, dem Präsidenten offen zu antworten, warum der Westen – mit guten Gründen – diesen Schritt abgelehnt hat und weiter ablehnt.

Diakonische Kompetenz

II) Seit Kriegsbeginn ist offensichtlich, dass Putin die Verschärfung der globalen Versorgungslage mit Energie und Getreide nicht nur billigend in Kauf nimmt, sondern sie gezielt als strategisches Mittel zur Destabilisierung von Gesellschaften und Regionen einsetzt.  Wie viele andere habe auch ich in den ersten Kriegswochen ein sofortiges Energieembargo gegen Russland für ethisch zwingend geboten gehalten. Seitdem hat sich aber auch die andere Waagschale bleischwer gefüllt: Die Verbeugung von Energieminister Habeck vor dem Emir von Katar (einem der übelsten Akteure in vielen regionalen Konflikten von Syrien bis Jemen) steht exemplarisch für neue Abhängigkeiten, die wir nicht leichtfertig eingehen dürfen. Und sollte sich die galoppierende Inflation mit gravierenden Versorgungsengpässen im kommenden Winter verbinden, drohen soziale Verwerfungen, die den Zusammenhalt unserer von der Pandemie erschöpften Demokratie vor eine große Belastungsprobe stellen werden. Der Blick nach Frankreich sollte alle aufrütteln, die sich zuletzt von schlechten Wahlergebnissen der AfD haben einlullen lassen! Diese Komplexität darf uns gerade nicht davon abhalten, die Überwindung der Abhängigkeit von russischer Energie mit höchster Priorität voran zu bringen.

Der Blick auf die Waagschale verschiebt aber die Debatte von der Frage nach dem ethisch Richtigem oder Falschen zu der Frage, welche zusätzlichen Beiträge gesellschaftliche Akteure leisten können, um die Resilienz von Gesellschaft und Demokratie in den kommenden Monaten zu stärken. Im kirchlichen Bereich darf diese Herausforderung nicht an die Diakonie ausgelagert  werden . Diese diakonische Kompetenz sollte noch viel stärker in den Gemeinden und kirchlichen Gremien zur Entfaltung kommen und auch ein Verständnis von öffentlicher Seelsorge durchdringen.

Im globalen Maßstab gilt das für die Folgen der russischen Blockade des ukrainischen Getreides. Auch hier haben die Kirchen mit „Brot für die Welt“ und „Diakonie Katastrophenhilfe“ Kompetenzzentren, deren Expertise in den sich entwickelnde Versorgungskrisen dringend gebraucht wird. Aber selbst im kirchlichen Raum findet diese Kompetenz bisher noch nicht den notwendigen Resonanzraum. Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass wir als Kirche in den zurückliegenden Wochen geschlossen und unüberhörbar gegen die Etatkürzungen bei Entwicklungshilfe und Humanitärer Hilfe gestritten hätten, statt die begrenzte öffentliche Aufmerksamkeit auf einen quälend unterkomplexen Streit zu Waffenlieferungen zu investieren.

 Zugleich werden wir auch nicht an der ethisch noch viel schwierigeren Frage vorbeikommen, wie die Blockade der ukrainischen Häfen überwunden werden kann. 30 Millionen Tonnen Weizen müssen noch vor der beginnenden neuen Ernte aus den Silos in die Welt gebracht werden. Putin setzt auf den Zeitdruck, um eine Lockerung der Sanktionen zu erpressen und verbreitet (leider durchaus erfolgreich) das perfide Narrativ, nicht er, sondern der Westen sei schuld an den globalen Versorgungsengpässen. Auf der anderen Seite werden bereits Torpedos an die Ukraine geliefert, um die Ausfahrt der Frachter aus dem Hafen von Odessa notfalls militärisch zu erzwingen.  Ausweichen lässt sich vor diesen Dilemmata nicht. Aber wer immer sich in dieser Frage vorschnell positioniert, sollte die Mahnung der 9.Heidelberger These von 1959 im Auge behalten: „Wer A gesagt hat, muss damit rechnen, auch B sagen zu müssen. Aber Wehe den Leichtfertigen!“

III) Putins Aggression hat auch diese Gewissheit zerstört: „Solange geredet wird, wird nicht geschossen“. Das entwertet nicht die Rolle der Diplomatie. Aber es erfordert auch ethisch einen nüchterneren Blick auf deren Instrumente in einem globalen Umfeld, das zunehmend von autoritären Regimen bestimmt wird. Schon im Syrienkrieg hat ein Außenminister den bitteren Satz gesagt: „Nirgends wird mehr gelogen, als in der Syrien-Kontaktgruppe“. Ich habe aber auch Frank-Walter Steinmeier im Ohr, der uns auf kritische Fragen immer wieder geantwortet hat: „Je mehr jemand Teil des Problems ist, desto unverzichtbarer ist er für die Lösung.“ Das galt gegenüber Saudi-Arabien, Katar und Ägypten - und vor allem gegenüber Russland. Aber um welchen Preis? 

Umgang mit der Russisch Orthodoxen Kirche 

Die Frage, ob und wie sich Gesprächsfäden mit offenen oder im Hintergrund agierenden Konfliktparteien aufrechterhalten lassen, ist jedenfalls viel weniger trivial, als es mitunter diskutiert wurde. Die EKD und der Ökumenische Rat in Genf erleben das gerade im Streit um die Haltung zur Russisch Orthodoxen Kirche. Ich habe den Offenen Brief mit der Forderung nach Aussetzung der offiziellen Beziehungen mit der ROK aus verschiedenen Gründen nicht mitunterzeichnet. Ich teile aber das Anliegen und finde die schroffe Zurückweisung durch die EKD-Auslandsbischöfin Bosse-Huber und manche Leitende Geistliche inhaltlich und kommunikativ unglücklich. Zum einen fordert auch der Offene Brief keinen „Abbruch“ der Kontakte, sondern eine „Aussetzung“ (analog den Entscheidungen internationaler Sportverbände). Zum anderen behauptet das kategorische „der falsche Weg“ eine ethische Gewissheit, die niemand in dieser Frage für sich beanspruchen sollte. Der Versuch einer Immunisierung gegen Kritik diskreditiert damit, was ich in der Abwägung zwischen beiden Polen wichtig finden. Und tatsächlich nährt die jüngste Erklärung des Zentralausschusses des ÖRK die Hoffnung auf ein Umdenken in der ROK.

Damit sich die Fronten in dieser Frage nicht ebenso so unproduktiv verhärten, wie in der Frage der Waffenlieferungen, möchte ich einen Vorschlag machen, der das Anliegen einer klaren Abgrenzung zur ROK verbindet mit der Notwendigkeit, die dauerhaft notwendigen Gesprächskanäle nicht abreißen zu lassen. Ich greife dabei Elemente aus der internationalen Politik auf, die als sogenannte „Track 2 Diplomacy“ erprobt werden.

Konkret bedeutet das:

1.EKD und ÖRK bitten das Moskauer Patriarchat, die o.g. Erklärung des Zentralausschusses als verbindliche Haltung der Russisch Orthodoxen Kirche zum Krieg anzuerkennen.

2. Geschieht das nicht,  suspendiert der ÖRK unter Berufung auf die 3.These der Barmer Theologischen Erklärung die Mitgliedschaft  und die EKD setzt  alle offiziellen Kontakte vorläufig aus.

3. Zugleich beauftragt der ÖRK eine Universität oder Forschungseinrichtung, alle anstehenden Fragen der Beziehungen zwischen ROK und Ökumene auf „Expertenebene“ weiter zu bearbeiten. Sie stellt dazu die erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen bereit. In diesem Rahmen können die Gesprächsbrücken auf allen Ebenen gehalten werden. Der Austausch kann dafür aber  um Akteure und Themen erweitert werden, die im offiziellen ÖRK-Rahmen durch das Veto aus Moskau außen vor bleiben würden. Der „Track 2 Diplomacy“ steht ein breites Instrumentarium an Gesprächsformaten, Planspielen, Non Papers etc. zur Verfügung und kann damit viel flexibler und mutiger agieren, als es offizielle Kontakte vermögen.

4. Der Führung der ROK steht es frei zu entscheiden, ob, wann und auf welcher Ebene sie sich an den Gesprächsformaten beteiligt. Sie kann aber andere Akteure und ihre Anliegen nicht ausgrenzen. Das wird Geduld brauchen, Schwankungen unterworfen bleiben und große diplomatische Professionalität erfordern. Es wird nur gelingen, wenn auch Moskau ein Interesse daran hat, Brücken zu halten und eine Annäherung zu suchen.

5. Zusätzlich sollte dem ROK Gelegenheit gegeben werden, entweder ein Verbindungsbüro beim ÖRK zu halten oder ihre – jenseits der Haltung zum Krieg - berechtigten Anliegen durch eine Partnerkirche vertreten zu lassen.

6. Ziel aller Bemühungen sollte es sein, die Voraussetzungen für eine vollständige Aufhebung der Suspendierung zu schaffen, wobei der Maßstab erneut die 3.Barmer These sein sollte. Auf dem Weg dahin sind verschiede Zwischenstationen vorstellbar.

Vorläufig und mutmachend

Das Risiko, funktionierende Gesprächswege zu gefährden, sehe ich nicht – weil es sie in der Realität kaum noch  gibt. Die Bemühungen, mit der ROK zu einem offiziellen Dialog in Bossey zusammenzukommen, sind in den vergangenen Monaten zwei Mal gescheitert. Um das entgangene Gruppenbild ist es nicht schade. Das Ausloten der immer wieder behaupteten Vielstimmigkeit in der ROK ließe sich in dem beschriebenen „Track 2“-Rahmen sehr viel offener besprechen, als in einem Rahmen, der unter dem Druck einer offiziellen Erklärung stehen würde.

Ist mein Vorschlag ein Königsweg? Mit Sicherheit nicht! Bietet er einen Ansatz, in den ethischen Dilemmata dieses Krieges an einer konkreten Stelle handlungsfähig zu bleiben? Vielleicht! In dieser Vorläufigkeit ist er offen für Kritik und Modifizierungen – sollte aber vor allem Mut machen, noch bessere Antworten auf den „Elefanten im Raum“ der Ökumene zu finden.

Wir brauchen eine Friedensethik, die nicht nach unerschütterlichen Gewissheiten und Positionen sucht, sondern sich der schmutzigen Realität dieses Krieges und der ungewissen Zeit danach stellt. Die Waagschalen werden sich dabei immer wieder auf beiden Seiten bleischwer füllen. Das kann nur als kommunikativer Prozess gelingen, bei dem wir einander beharrlich fragen müssen, ob wir wirklich alle Argumente bedacht oder angemessen gewichtet haben. Am Ende wird sich die Waage zur ein oder anderen Seite neigen. Das ist dann der Moment, wo es nicht ausbleibt, Schuld zu übernehmen – aber nicht „irgendwie“, sondern konkret und in kritischer Solidarität mit allen, die solche gravierenden Entscheidungen in diesem schmutzigen Krieg Tag für Tag treffen und verantworten müssen.

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Foto: Solveig Böhl

Arnd Henze

Arnd Henze ist WDR-Redakteur und Theologe. Er lebt in Köln. 2019 erschien sein Buch "Kann Kirche Demokratie?". Seit 2020 gehört Henze als berufenes Mitglied der Synode der EKD an.


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