Zweierlei Schloss

Was man aus Wiederaufbauten lernen kann

Unser Kolumnist erkundet, welche Verbindungen es zwischen den Schlössern im litauischen Vilnius und in Berlin inmitten von zwei Hauptstädten gibt. Von beiden Prachtbauten gab es lange Jahre nur unterirdische Ruinen, bevor sie wiederaufgebaut wurden – dennoch stellen sie auf ganze eigene Weise Zeichen für Triumph und Trauma dar, die uns viel lehren können.

Auch in der traditionsreichen Hauptstadt Litauens, in Vilnius, steht, wie in vielen anderen (Haupt-)Städten Europas, ein Schloss. So weit, so wenig verwunderlich. Wenn man das Gebäude durch sein frühbarockes Portal betreten hat und wahrnimmt, dass der eigentliche Eingang in einem Kellergeschoss unter dem Innenhof liegt, in das Rolltreppen führen, muss das ebenfalls noch nicht überraschen: Bekanntlich hat der französische Präsident Mitterand gemeinsam mit seinem Kultusminister Lang durchgesetzt, dass der Eingang in den Louvre, also in das einstige Pariser Stadtschloss der französischen Könige, inzwischen unter einer Glaspyramide im Untergeschoss liegt, das man durch Rolltreppen erreicht. Denn auch das Schloss in Vilnius ist ein Museum.

Schloss in Vilnius
Foto: Wikipedia

Mehr verwundert ist man allerdings, wenn man im Untergeschoss lesen kann, dass das Schloss gar nicht, wie es von außen scheint, aus der Renaissance- und Barockzeit stammt, sondern einen vollständigen Neubau in historischen Formen darstellt, der 2018 eingeweiht wurde. Das einst an dieser Stelle stehende Schloss der Großfürsten von Litauen, die über längere Zeit bis zu den großen Veränderungen an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert auch in Personalunion polnische Könige waren, wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von der damaligen Verwaltung abgerissen, nachdem es fast schon hundertfünfzig Jahre lang als Ruine dagestanden hatte.

Neues Selbstbewusstsein

Um die Geschichte des langen Leerstandes auf dem Platz des einstigen Schlosses besser zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass es eine russische Armee war, die den Herrschersitz des souveränen Litauen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts zur Ruine gemacht hat. Eine russische Verwaltung des schlussendlich ins Zarenreich eingegliederten Litauen hat den Abbruch der Ruine befohlen und die intensiven Grabungen auf der leeren Fläche seit 1987, die auf die Idee eines Wiederaufbaus des seit zweihundert Jahren verschwundenen Baus führten, standen im Zusammenhang der erstarkenden litauischen Unabhängigkeitsbewegung in der zusammenbrechenden Sowjetunion.

Die Wiedererrichtung des architektonisch bemerkenswerten Baus nach der Jahrtausendwende stellte ein Symbol der eigenständigen, bedeutsamen Geschichte Litauens in der Mitte der Hauptstadt eines erneut souverän gewordenen Landes wieder her und ist ein Zeichen des neuen Selbstbewusstseins und der erstarkten ökonomischen Kraft dieses Mitgliedes der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Wie die Wiederherstellung der nationalen Souveränität 1990 einen Triumph über die russisch dominierte Sowjetunion darstellte, die seit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 Litauen völkerrechtswidrig besetzt hielt und zu russifizieren versuchte, markierte die Wiederherstellung des von Russen zerstörten und abgebrochenen Schlosses in der Hauptstadt Vilnius den endgültigen Triumph über diese etappenweise Zerstörung des Regierungssitzes. Der litauische Staatspräsident sitzt übrigens heute nicht mehr im Schloss, sondern im einstigen Palast der russischen Gouverneure von Vilnius.

Obwohl man vermutlich zuerst die scheinbar sehr besondere Geschichte des Schlosses in Vilnius mit dem polnischen Königsschloss in Warschau vergleichen sollte, das nach seiner Zerstörung und Sprengung durch deutsche Soldaten und den Vorläufer des heutigen Technischen Hilfswerks von 1971 bis 1988 ebenfalls als Symbol einer als Staat wiedererstandenen Nation und als Zeichen des Triumphs über die alten Feinde wiederaufgebaut wurde, liegt doch auch der Vergleich mit dem Schloss in der Mitte der deutschen Hauptstadt nahe, das nach Kriegszerstörungen 1950 von den damals Verantwortlichen abgerissen wurde und dessen Fassaden und Kubatur auf Beschluss des Deutschen Bundestages in den Jahren 2013 bis 2020 als Humboldt Forum wiederaufgebaut wurden.

Dieser Vergleich ist gar nicht so abwegig, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint: Beide Schlösser lagen (und liegen wieder) neben einer repräsentativen Kirche, in Berlin neben der evangelischen „Oberpfarr- und Domkirche“, in Vilnius neben der römisch-katholischen Kathedrale St. Stanislaus und St. Ladislaus. In beiden Fällen sind die archäologischen Überreste der Schlösser, die bei der Vorbereitung der Wiederaufbauten in unerwartet reichem Umfang bei Ausgrabungen zum Vorschein gekommen sind, in den Kellergeschossen zugänglich, und die wiederaufgebauten Fassaden der Schlösser (in beiden Fällen aus Beton mit Mauersteinvorblendung) ruhen auf umfangreichen Substruktionsbauwerken auf, die die archäologischen Funde im Keller schützen. Auch wenn sicher der Moment des Triumphs über die Brutalität des ostdeutschen Systems im Umgang mit dem Berliner Schloss bei der Entscheidung, dem Humboldt Forum Barock-Fassaden des Schlosses auf drei von vier Seiten vorzublenden und einen der beiden barocken Höfe wiederherzustellen, nur einen geringen Anteil hatte, wird man doch kaum bestreiten können, dass auch das Bauwerk in der Berliner Stadtmitte dazu dient, sich der augenblicklichen Identität des wiedervereinigten Deutschland baulich zu versichern.

Die Welt zu Gast

„Die Welt zu Gast in der Mitte Berlins“ – mit diesen Worten begründeten für den Bau des Humboldt Forums Verantwortliche, dass die vorher in Dahlem gezeigten ethnologischen Sammlungen nun ins Zentrum wandern sollten. Man dachte damals an ein deutlich sichtbares Zeichen für ein gastfreundliches Berlin, war stolz, keinen preußischen Pomp oder reichsdeutschen Stolz im stark verändert wiederaufgebauten Hohenzollernschloss zeigen zu müssen – und von der ganzen Debatte um Raubkunst und einen notwenigen postkolonialen Blick wollten damals viele noch wenig wissen.

Inzwischen hat sich die Lage sehr geändert: Bei nahezu allen Details des Baus – nicht nur bei dem Kreuz auf der Spitze der Kuppel und dem Bibelspruch auf dem Tambour der Kuppel – wird aufgeregt darüber diskutiert, wie sich der Bau und sein Inhalt zueinander und beides zu heutigen Standards für ein ethnologisches Museum verhalten, das sich der Vergangenheit gemeinsam mit den indigenen Kulturen stellt. Dabei hat man im Humboldt Forum in den letzten Jahren durchaus dazu gelernt: Die Ausstellungskonzepte für in diesem Sommer zur feierlichen Eröffnung vorgesehenen Teile der ethnologischen Sammlungen im Forum haben Menschen aus den Herkunftsregionen dieser Sammlungen gemeinsam mit den Verantwortlichen der Staatlichen Museen zu Berlin entwickelt. Man hat versucht, im Humboldt Forum die Geschichte gemeinsam zu erzählen, und dabei durchaus schon beachtliche Erfolge erzählt.

Angesichts der langen Unterdrückungsgeschichte Litauens (die heutige Hauptstadt Vilnius gehörte übrigens, wie wenige wissen, als das Land erstmals 1918 wieder von Russland unabhängig wurde, zu Polen und blieb dort bis 1939), versteht man, dass im Schloss von Vilnius die Geschichte des Baus, der Stadt und des Landes nicht in einer gemeinsamen Erzählung litauischer, russischer, polnischer und deutscher Kuratorinnen und Kuratoren erzählt werden konnte. Gerade der völkerrechtswidrige russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 weckt in Litauen sehr unangenehme Erinnerungen und bestätigt Befürchtungen, die viele dort schon lange hatten und die von Menschen aus Deutschland ebenso lange nicht ernst genommen worden sind.

Aber man erkennt immerhin, dass man sich bei der Gestaltung des Museums darum bemüht hat, Emotionen gegen die Mächte, die die eigene Unabhängigkeit zerstört oder verraten haben, keinen Raum zu geben. Natürlich wäre es wunderbar, wenn es  – wie seinerzeit durch die Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission – irgendwann einmal ein gemeinsames Narrativ der verflochtenen deutschen, polnischen, russischen, litauischen – und nicht zu vergessen: jüdischen – Geschichte dieses Raumes geben könnte. Aber wer sie in diesen Tagen einfach als Mitteleuropäer einfordert, ignoriert, wie tiefe Wunden diese Geschichte auf allen Seiten hinterlassen hat, wie viele Traumata weiter bestehen und wieviel auch noch gar nicht präzise aufgearbeitet ist (beispielsweise die von Litauern 1940 verübten Pogrome an der jüdischen Einwohnerschaft ihres Landes).

Für eine gemeinsame Erzählung der verflochtenen Geschichte Osteuropas ist es offenbar noch zu früh, und nach dem russischen Angriff in der Ukraine ist sicher nicht der richtige Moment, damit zu beginnen. Aber was wir zur Vorbereitung einer solchen, irgendwann einmal hoffentlich entstehenden gemeinsamen Erzählung über die Geschichte Osteuropas im gemeinsamen europäischen Haus tun können, ist, uns besser zu informieren über diese Region und Details ihrer Vergangenheit.

Wer weiß schon, dass ein evangelischer Familienzweig des Fürstengeschlechts der Radziwill im litauischen Kedainiai/Kedahnen in der frühen Neuzeit nicht nur eine reformierte und eine lutherische, sondern auch eine römisch-katholische Kirche einzurichten gestattete, dazu mehrere Synagogen und eine Moschee und so eine sehr besondere multireligiöse Kleinstadt als Residenzort auswählte? Wer kennt schon die vielen unterschiedlichen Strömungen des Judentums in dieser Gegend – der organisierte Zionismus, sozialistische jüdische Gruppen, diverse Formen der Orthodoxie und der Haskala, der jüdischen Aufklärung, existierten nebeneinander.

Das großfürstliche Schloss in Vilnius zeigt (wie übrigens auch das als Humboldt Forum wiederaufgebaute Schloss) architektonische Spuren einer engen Beziehung zu Italien. Europa war vor den Ausbrüchen des Nationalismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert viel europäischer, als wir heute glauben. Erst, wenn wir diese in sich verflochtene Geschichte besser kennen, die vielfach mit unserer deutschen Geschichte verwoben ist, werden wir im europäischen Haus gemeinsame Lehren aus den Geschichten von Toleranz und Intoleranz, Verfolgung und Vernichtung, friedlichem Zusammenleben und multinationaler staatlicher Gemeinschaft ziehen können.

Mir scheint, dass Kirchen und Religionen als transnationale Institutionen hier nicht nur ein besonders interessantes Studienobjekt sind, sondern sich zu einer vorbildlichen Lerngemeinschaft und einem Impulsgeber einer gemeinsamen Lern- und Erinnerungskultur entwickeln könnten. Neben den wiederaufgebauten Schlössern von Vilnius und Berlin stehen, wie gesagt, riesengroße Kirchen. Hier könnte man Räume für gemeinsame Erzählungen und Darstellungen der Geschichte schaffen, wenigstens beschreiben, warum es oft so schwer fällt, Geschichte gemeinsam und nicht gegeneinander zu erzählen. Auf was für Gedanken einen ein wiederaufgebautes Schloss im Urlaub bringen kann …

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